Dezember 10, 2020

Abgesichert

Ulrike Lauerhaß und Eva Wuchold

Oft wird Staatenlosen ihre materielle Sicherheit verweigert. Dabei gehört sie zu den Sozialrechten, die zugleich Menschenrecht sind. Kampagnen zu ihrer universellen Durchsetzung sollten so geführt werden, dass das „Recht auf Rechte“ zur Selbstverständlichkeit wird, fordert das Konzept der „Globalen Sozialen Rechte“.


Ulrike Lauerhaß ist Projektmanagerin der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin für deren Büro in Beirut. Eva Wuchold ist Programmleitung für Soziale Rechte im Büro Genf der Stiftung.

Der Artikel wurde im Reader zum Atlas der Staatenlosen auf Deutsch, Englisch und Französisch veröffentlicht.


Staatenlose Menschen bezeichnen sich selbst oft als „unsichtbar”, wenn sie mit keinem amtlichen Dokument registriert sind. Die Folgen für sie sind erheblich: Sie müssen um ihre Rechte kämpfen, werden diskriminiert und nicht selten aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Mit der Staatsangehörigkeit gehen eben nicht nur emotionale Werte wie Zugehörigkeit und Identität einher, sondern auch fundamentale bürgerliche und politische Rechte sowie der Zugang zum System der sozialen Sicherheit. Auch wenn der Staat innerhalb seines Hoheitsgebietes die Pflicht hat, alle Menschen vor Übergriffen zu schützen und dafür zu sorgen, dass die Menschenrechte verwirklicht werden, wird dieses Prinzip bei Staatenlosen in der Praxis vielfach eingeschränkt oder gar verletzt. Dies gilt insbesondere für die sozialen Rechte, die sogenannte „zweite Generation” der Menschenrechte.

Sozialrechte sind individuelle Grund- und Menschenrechte, die jedem einzelnen Menschen durch sein Menschsein zustehen. Sie sollen das Individuum vor Ausbeutung schützen und ihm das Recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum garantieren. Sie gelten als angeboren, unveräußerlich und auch als unabhängig von der Staatsangehörigkeit. Das Recht auf soziale Sicherheit ist ein zentraler Bestandteil der sozialen Rechte. Artikel 22 der Allgemeinen Erklärung der Menschen-rechte (AEMR) von 1948 besagt ebenso wie Artikel 9 des UN-Sozialpaktes, dass jeder Mensch als Mitglied der Gesellschaft das Recht auf soziale Sicherheit hat. Maßgeblich für diese Rechtsstellung ist, dass ohne materielle Sicherheit soziale und kulturelle Rechte und auch die bürgerlichen und politischen Rechte eine Illusion bleiben.

Die Grundlagen für die Ausübung der sozialen Rechte muss der Staat bereitstellen, sofern er über die notwendigen Mittel dafür verfügt. Ansonsten sind die Staatengemeinschaft und die internationalen Organisationen in der Pflicht. Problematisch ist, dass dem Artikel 9 des UN-Sozialpaktes keine Verpflichtung im Völkerrecht folgt, die soziale Sicherung auch zu verwirklichen. Das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard ist in Artikel 25 der AEMR verankert, und Mindestnormen der sozialen Sicherheit sind in Übereinkommen 102 der Internationalen Arbeitsorganisation definiert. Während das „Was“ also klar ist, ist der Spielraum bei dem „Wie” sehr groß, bei der Frage also, auf welche Weise die soziale Sicherheit im Sinne dieses Paktes verwirklicht werden soll.

Strittig ist insbesondere das „Für wen”, also wer in das soziale Sicherungssystem einbezogen ist. In der Regel legen die Staaten diese Frage äußerst restriktiv aus. Staatenlose können sich nicht auf nationale Gesetze berufen und befinden sich praktisch in einem „rechtsfreien Raum“. Der Zugang zu grundlegenden Sozialleistungen ist erschwert, Staatenlose erwerben selten Schul- und Universitätsabschlüsse, sind Diskriminierung und Schikane durch Behörden ausgesetzt und von Ausbeutung bedroht. Ohne Ausweispapiere können sie kein Bankkonto eröffnen, nicht frei reisen, nicht wählen, sich und ihre Familienangehörigen nicht registrieren lassen.

Die Ausgrenzung von Staatenlosen wie soziale Ausgrenzung insgesamt ist ein mehrdimensionaler Prozess, der durch ungleiche Machtverhältnisse angetrieben wird. Er findet auf verschiedenen Ebenen statt: Individuum, Haushalt, Gruppe, Gemeinschaft, Staat und global. Ein Ansatz, die Ausgrenzung zu überwinden, sind die Globalen Sozialen Rechte (GSR). Sie beziehen sich auf den Menschenrechtsgedanken, richten sich aber nicht an eine staatliche oder überstaatliche Organisation, die die Rechte gewährt, sondern fordern zur aktiven Aneignung als legitim anerkannter Rechte auf. Sie propagieren kollektive Prozesse, weil sie davon ausgehen, dass Rechte immer und zugleich allen und jedem Einzelnen zustehen.

Das Konzept GSR bedeutet die emanzipatorische Aneignung universaler Menschenrechte. Es soll so angewandt werden, dass sich – global – das „Recht auf Rechte“ im Alltagsverstand einnistet. In diesem Sinne kann es nur ein erster Schritt sein, Staatenlosigkeit weltweit zu beenden. Ziel muss vielmehr sein, dass Staatsangehörigkeit nicht mehr nötig ist, weil alle Menschen tatsächlich frei und gleich sind, also eine Weltgesellschaft, die kein Außen kennt, und in der es somit keinen Ausschluss und auch keinen Verlust sozialer Rechte aufgrund fehlender Staatsangehörigkeit geben kann, wie der deutsche Soziologe Niklas Luhmann schrieb.

Um den Gegensatz zwischen globaler Gerechtigkeit und Nationalstaatlichkeit aufzulösen und die GSR durchzusetzen, müsste in globalem Maßstab umverteilt werden. Möglich wäre das. 2019 lebten mehr als 600 Millionen Menschen in extremer Armut, das heißt von weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag. 55 Prozent der Weltbevölkerung erhielten keinerlei Sozialschutzleistungen, etwa Sozialhilfe, Arbeitslosengeld oder Invalidenrente. Gleichzeitig lag das Welteinkommen bei über 11.000 US-Dollar pro Kopf. Der Transfer von nur einem Prozent des Einkommens der reichen in die armen Länder, etwa 500 Milliarden von 90 Billionen US-Dollar pro Jahr, würde ausreichen, das Recht auf soziale Sicherheit durchsetzen.

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