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Angesichts der Tatsache, dass sich die Zahl der aus der Ukraine geflohenen Menschen auf fast zwei Millionen beläuft, haben wir und unsere Mitglieder vor Ort versucht, die besonderen Schutzbedürfnisse staatenloser Menschen, die durch die Krise vertrieben wurden, zu ermitteln.
Dieser Leitartikel wurde zuerst auf der Website des European Network on Statelessness veröffentlicht
Wir wissen aus Erfahrung, auch aus Untersuchungen im Rahmen unserer Initiative Stateless Journeys, dass Staatenlose, die vor Konflikten fliehen, in der Regel mit zusätzlichen Problemen und Herausforderungen beim Überschreiten von Grenzen und dem Anspruch auf Schutz zu kämpfen haben. Wir wissen auch, dass Staatenlosigkeit sowohl eine Ursache als auch eine Folge von Zwangsvertreibung ist.
Nachdem wir anekdotische Berichte über die Schwierigkeiten staatenloser Menschen gehört haben, die versuchen, dem Krieg in der Ukraine zu entkommen, wollten wir die Situation so schnell wie möglich besser verstehen. . Diese Woche haben wir ein erstes Briefing veröffentlicht, um die Akteure der Geflüchtetenhilfe vor Ort zu informieren, damit Probleme hoffentlich antizipiert und angegangen werden können, bevor sie sich verfestigen.
Staatenlosigkeit in der Ukraine
Bei der letzten Volkszählung in der Ukraine im Jahr 2001 wurden 82.550 staatenlose Menschen erfasst, und das UNHCR schätzt dass es im Jahr 2021 35 875 staatenlose Menschen und Menschen mit „unbestimmter Staatsangehörigkeit“ geben wird. Andere Quellen deuten darauf hin, dass es viele Zehntausende mehr sein könnten, darunter ein erheblicher Teil der Roma-Bevölkerung sowie Kinder, die seit 2014 auf der Krim, in Luhansk und Donezk geboren wurden. Die Weltbank schätzte vor kurzem, dass in der Ukraine 999.000 Menschen über 15 Jahren keinen nationalen Personalausweis besitzen. Auch wenn nicht alle diese Menschen staatenlos sind, besteht für viele ein erhöhtes Risiko, dies zu werden, wenn die Krise länger andauert.
Schätzungsweise 10-20 % der Roma in der Ukraine verfügen nicht über die für den Erwerb oder die Bestätigung ihrer ukrainischen Staatsbürgerschaft erforderlichen zivilrechtlichen Dokumente. Zu den Staatenlosen gehören auch ehemalige Bürger der UdSSR, die 1991 keinen ständigen Wohnsitz in der Ukraine nachweisen konnten und daher die ukrainische Staatsangehörigkeit nicht erwerben konnten. Einige, die keine Staatsangehörigkeit erwerben konnten, haben ihre Staatenlosigkeit inzwischen an ihre Kinder weitergegeben. Menschen, die in nicht von der Regierung kontrollierten Gebieten, auf der Krim und als Binnenvertriebene in der Ukraine leben, sind seit 2014 mit erheblichen Hindernissen konfrontiert, wenn es darum geht, persönliche Dokumente zu erhalten oder zu erneuern, so dass schätzungsweise 60 000 Kinder, die in diesen Gebieten geboren wurden, keine Geburtsurkunden haben und von Staatenlosigkeit bedroht sind.
Zusätzlich zu dieser signifikanten Anzahl an Staatenlosen gibt es Asylsuchende, Geflüchtete und Migrant*innen (und ihre Kinder), die sich in der Ukraine aufhielten und staatenlos waren, bevor sie ihre Herkunftsländer verließen (z. B. Palästinenser*innen, kuwaitische Bidoon, Kurd*innen), oder die aufgrund von Vertreibung, Diskriminierung oder Lücken in den Staatsangehörigkeitsgesetzen, Staatssukzession oder Entzug der Staatsangehörigkeit staatenlos geworden sind.
Im Mai 2021 führte die Ukraine ein Verfahren zur Feststellung der Staatenlosigkeit ein, um herauszufinden, wer in ihrem Hoheitsgebiet staatenlos ist, und um staatenlosen Menschen Schutz zu gewähren. Dieses Verfahren wurde jedoch erst vor kurzem in Betrieb genommen, weshalb bis zum 31. Dezember 2021 nur 55 Personen eine befristete Aufenthaltsgenehmigung erhalten hatten. Die überwiegende Mehrheit der in der Ukraine lebenden Staatenlosen verfügt über keinerlei Dokumente, die ihre Staatenlosigkeit belegen. Dies stellt nicht nur unüberwindbare Hindernisse für Staatenlose dar, die versuchen, sich unter den derzeitigen Umständen innerhalb der Ukraine zu bewegen, sondern hat auch erhebliche Auswirkungen auf ihre Möglichkeiten, sich innerhalb des Landes in relative Sicherheit zu begeben, Grenzen zu überschreiten und Schutz zu erhalten.
Aktuelle Situation an den Westgrenzen der Ukraine
Die ersten Reaktionen der westlichen Nachbarländer der Ukraine fielen großzügig aus. Sowohl die staatlichen Akteure als auch die Zivilgesellschaft taten ihr Möglichstes, um eine noch nie dagewesene Zahl von Geflüchteten aufzunehmen und zu versorgen. Ungarn, die Slowakei, Polen, Rumänien, und Moldawien haben erklärt, dass sie derzeit alle Menschen aufnehmen, die vor dem Krieg in der Ukraine fliehen, darunter auch Staatenlose, von Staatenlosigkeit bedrohte Personen und/oder Menschen ohne Papiere. Eine kurze Zusammenfassung der Politik in jedem dieser Länder finden Sie in unserem Briefing.
Das Lagebild ist jedoch sehr dynamisch, und angesichts der sich abzeichnenden uneinheitlichen Praktiken und der Erstellung von Rassenprofilen an verschiedenen Grenzübergängen (z. B. in Ungarn und Polen), bei denen Nicht-Ukrainer*innen der Zugang zum Hoheitsgebiet erschwert wird, oder zusätzlicher „sekundärer Screening“-Verfahren, einschließlich inhaftierungsähnlicher Bedingungen in Polen, ist eine aufmerksame Überwachung erforderlich.
Ebenso deuten erste Informationen von ENS-Mitgliedern darauf hin, dass staatenlose und von Staatenlosigkeit bedrohte Personen, die aus der Ukraine fliehen, wahrscheinlich mit zusätzlichen Hindernissen und einer ungleichen Behandlung konfrontiert werden, die von ihrem Wohnort, ihrer Staatsangehörigkeit und/oder ihrem Dokumentenstatus abhängt. Es bedarf mehr Zeit und weiterer Untersuchungen, um zu verstehen, wie die einzelnen Gruppen staatenloser Menschen im Detail betroffen sein werden.
Anwendung der EU-Richtlinie über die Gewährung vorübergehenden Schutzes und Anspruch auf Schutz für staatenlose Menschen
Eine große Frage bezüglich des Schutzniveaus für staatenlose Flüchtlinge aus der Ukraine ist, wie die EU-Richtlinie über die Gewährung vorübergehenden Schutzes (Temporary Protection Directive, TPD) von den einzelnen Ländern angewandt werden wird.
Die Richtlinie, die letzte Woche von den EU-Mitgliedstaaten in Kraft gesetzt wurde, gewährt ukrainischen Staatsangehörigen und Personen, die vor dem 24. Februar 2022 internationalen Schutz in der Ukraine genossen haben, sofortigen Schutz in der EU. Staatenlose, die nachweisen können, dass sie vor dem 24. Februar eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis in der Ukraine besaßen und „nicht sicher in ihr Herkunftsland oder ihre Herkunftsregion zurückkehren können“, haben ebenfalls Anspruch auf vorübergehenden Schutz, wobei es den Mitgliedstaaten überlassen bleibt, ob sie die Richtlinie oder einen „angemessenen Schutz nach nationalem Recht“ anwenden. Die Mitgliedstaaten können den vorübergehenden Schutz auch auf andere Personen ausdehnen, einschließlich Staatenlose, die sich „rechtmäßig“ in der Ukraine aufhalten. Personen, denen vorübergehender Schutz gewährt wird, haben Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis (zunächst für ein Jahr, verlängerbar auf bis zu drei Jahre, es sei denn, eine sichere Rückkehr ist möglich), Zugang zum Arbeitsmarkt, Wohnraum, Sozialhilfe, medizinische Versorgung und Zugang zu Bildung für Kinder.
Die EU-Mitgliedstaaten sind derzeit nach EU-Recht nicht verpflichtet, den meisten Staatenlosen und von Staatenlosigkeit bedrohten Personen, die in der Ukraine leben/lebten, vorübergehenden Schutz zu gewähren. Menschen ohne Nachweis eines ständigen Wohnsitzes oder internationalen Schutzes in der Ukraine müssen unter Umständen Asyl oder eine andere Form des Schutzes nach den Gesetzen ihres Gastlandes beantragen. Dies könnte schwerwiegende Probleme in Bezug auf ihren Zugang zu Rechten und Dienstleistungen und ihre Möglichkeit, Schutz zu erhalten, mit sich bringen, sollte ihnen der Zugang zu Asylverfahren verweigert werden (wie dies z. B. in Ungarn der Fall ist), oder wenn beispielsweise die Ukraine als ihr Herkunftsland angefochten wurde. Selbst wenn es Staatenlosen gelingt, aus der Ukraine zu fliehen, sind sie daher besonders gefährdet, anschließend ausgegrenzt oder im Ungewissen gelassen zu werden und in einigen Fällen auch willkürlich inhaftiert zu werden.
Dies macht deutlich, dass die Rechte, die Staatenlosen nach dem Völkerrecht zustehen, besser bekannt gemacht werden müssen. Fast alle europäischen Staaten sind Vertragsparteien des Übereinkommens über die Rechtsstellung der Staatenlosen von 1954 und müssen daher Staatenlosen in ihrem Hoheitsgebiet bestimmte Rechte und Schutzmaßnahmen gewähren. Einige Länder haben ein Verfahren zur Feststellung der Staatenlosigkeit eingeführt, um festzustellen, wer nach dem Übereinkommen von 1954 Schutz verdient, und gewähren anerkannten Staatenlosen einen Schutzstatus oder eine Aufenthaltsgenehmigung (mit Ausnahme des Flüchtlingsstatus oder einer anderen Form des internationalen Schutzes). In anderen Ländern können Staatenlose eine andere Form des Schutzes in Anspruch nehmen oder ihren Aufenthalt auf andere Weise legalisieren. Die Situation in Bezug auf den Zugang zum Schutz für Staatenlose in den europäischen Ländern ist keineswegs einheitlich. Unser Index der Staatenlosigkeit dient als Hilfsmittel, das Staatenlose und ihre Rechtsvertreter dabei unterstützt, ihre Rechte zu verstehen und sich für sie einzusetzen.
Der Weg in die Zukunft – Bekämpfung der Staatenlosigkeit als Teil der sich entwickelnden Flüchtlingshilfe
Unser Briefing enthält eine Reihe von Empfehlungen an die EU, die europäischen Staaten, internationale Agenturen und Nichtregierungsorganisationen, um sicherzustellen, dass staatenlose Menschen aus der Ukraine im Einklang mit dem Völkerrecht Schutz erhalten können.
In erster Linie sollten die EU-Mitgliedstaaten ihren Ermessensspielraum im Rahmen der TPD nutzen, um den vorübergehenden Schutz auf alle Staatenlosen und von Staatenlosigkeit bedrohten Menschen auszudehnen, unabhängig vom vorherigen Aufenthaltsstatus in der Ukraine, oder zumindest den Zugang zu gleichwertigen Formen des Schutzes nach nationalem Recht gewährleisten. In diesem Zusammenhang ist es von entscheidender Bedeutung, dass das Fehlen von Ausweispapieren oder anderen Dokumenten Staatenlose und von Staatenlosigkeit bedrohte Menschen nicht daran hindert, internationalen Schutz oder andere Formen des Schutzes nach nationalem Recht in Anspruch zu nehmen.
Wenn kein Zugang zu vorübergehendem Schutz möglich ist, sollten die europäischen Staaten entsprechend ihren Verpflichtungen aus dem Übereinkommen über Staatenlosigkeit von 1954 Wege zum Schutz und zur Wahrnehmung von Rechten für Staatenlose in ihrem Hoheitsgebiet sicherstellen und Schutzmaßnahmen zur Verhinderung willkürlicher Inhaftierung ergreifen.
Von entscheidender Bedeutung ist dabei, dass die Grenzbeamt*innen und die Akteure der Geflüchtetenhilfe besser in der Lage sind, Staatenlosigkeit und das Risiko der Staatenlosigkeit bei den aus der Ukraine vertriebenen Personen ordnungsgemäß zu erkennen, um deren Zugang zu Schutz, einschließlich Rechtsberatung und anderen Dienstleistungen, zu gewährleisten. Es besteht die dringende Notwendigkeit, die Verfügbarkeit aufgeschlüsselter Daten zu verbessern, indem standardisierte Richtlinien und Bewertungsinstrumente an den Registrierungsstellen, in Schutzverfahren und bei der Rechtsberatung eingesetzt werden.
Auch die Schulung wird eine wichtige Rolle spielen. Hier sind mehrere Akteure gefragt, darunter UNHCR, die EU-Asylagentur sowie NGOs und Expert*innen der Zivilgesellschaft. Die EU-Asylagentur hat kürzlich ein Registrierungsinstrument publiziert, das einen Abschnitt über die Feststellung von Staatenlosigkeit enthält, der in diesem Zusammenhang nützlich sein könnte. Wir sind auch dabei, ein umfassenderes Instrument zur Identifizierung von Staatenlosigkeit zu entwickeln, das wir in den nächsten Monaten allen Akteuren zur Verfügung stellen werden.
Schließlich weisen Berichte von vor Ort auf die Notwendigkeit hin, dass die Akteure der Geflüchtetenhilfe die Staatenlosigkeit und das Risiko der Staatenlosigkeit bei unbegleiteten und von ihren Eltern getrennten Kindern, sowie bei Kindern, die in Transit- und Aufnahmeländern geboren wurden, identifizieren und überwachen. Dies stellt sicher, dass ihr Recht auf eine Geburtsurkunde, eine legale Identität und eine Staatsangehörigkeit gewährleistet ist. Die Situation wird sich wahrscheinlich noch verschärfen, wenn der Konflikt und die damit einhergehende Vertreibung länger andauern. UNICEF und anderen Kinderrechtsorganisationen kommt in diesem Zusammenhang eine Schlüsselrolle zu.
Nächste Schritte und Blick über den Konflikt hinaus
In den kommenden Wochen und Monaten werden wir die Situation weiter beobachten und versuchen, die verfügbaren Informationen zu aktualisieren und zu erweitern, auch um zu verstehen, wie die Richtlinie über die Gewährung vorübergehenden Schutzes für staatenlose Flüchtlinge umgesetzt wird, die weiter in Europa vertrieben werden. Wir werden auch nach anderen Möglichkeiten suchen, um unsere Mitglieder, die unermüdlich vor Ort arbeiten, zu unterstützen. Dazu gehört auch, dass wir versuchen, die Gebergemeinschaft dazu zu bewegen, ihre Bemühungen zu unterstützen und gezielte Hilfe für staatenlose Menschen zu finanzieren, die andernfalls von der europäischen Geflüchtetenhilfe ausgeschlossen werden.
Gleichermaßen wissen wir immer noch nicht viel über die Situation der Staatenlosen in der Ukraine. Von unseren ukrainischen Mitgliedsorganisationen, die mutig und unermüdlich im Land arbeiten, wissen wir, dass staatenlose Menschen ohne Papiere sich weder innerhalb des Landes noch an den Kontrollpunkten bewegen können und somit feststecken. Es gibt auch beunruhigende Berichte über Rassendiskriminierung, Antiziganismus und/oder unterschiedliche Behandlung aufgrund des Dokumentationsstatus an den ukrainischen Grenzen, was einige Staatenlose bzw. von Staatenlosigkeit bedrohte Menschen daran hindern könnte, die Ukraine zu verlassen. Es bedarf weiterer Untersuchungen, um diese Situation besser zu verstehen und zu verbessern.
Abschließend sei gesagt, dass wir, wenn wir versuchen, optimistisch über diesen unsagbar schrecklichen Konflikt hinauszublicken, im Rahmen der Wiederaufbaubemühungen unbedingt Fragen der rechtlichen Identität, der Dokumentation und der Nationalität angehen müssen. Die aktuelle Situation ist eine ernüchternde Erinnerung daran, dass Staatenlose regelmäßig darunter leiden, dass sie vergessen und ihre Bedürfnisse ignoriert werden, insbesondere in Konfliktzeiten. Wir dürfen dies nicht zulassen, daher sind wir und unsere Mitglieder bereit, mit allen Akteuren zusammenzuarbeiten, um dies zu verhindern.
Chris Nash ist der Direktor des European Network on Statelessness,