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Was lange ignoriert wurde, ist während der Covid-19-Lockdowns in vielen Regionen weltweit offensichtlich geworden: Ein großer Teil landwirtschaftlicher Arbeit wird in extrem prekären Formen der Lohnarbeit organisiert. In diesem Prozess werden Arbeitsrechte oft missachtet. Es ist höchste Zeit für neue Strategien, mit einem besseren Verständnis der Schlüsselbedeutung der Rechte auf Organisationsfreiheit und Kollektivverhandlungen.
Mit den Lockdowns infolge der Coronakrise ging in den letzten Monaten in vielen Ländern eine Verschlimmerung der Nahrungsmittelkrise einher. In so unterschiedlichen Regionen wie Südasien, Ostafrika und Westeuropa wurde in der etablierten Politik und den Medien sichtbar, wie sehr die Landwirtschaft eben nicht nur von den Bauern abhängig ist, sondern auch von der Saisonarbeit von Wanderarbeitnehmer*innen. Menschen, die lange Zeit nur als „Hilfsarbeiter*innen” bezeichnet wurden, waren plötzlich „essentielle Arbeiter*innen”.
Unsichtbar mangels Statistiken
Die Ignoranz der Schlüsselrolle ländlicher Arbeitnehmer*innen beginnt mit Statistiken. Zwar stellt jede einzelne Regierung auf der Welt Statistiken über Erträge und Produktivität in der Landwirtschaft auf, aber nur einige wenige Länder erheben landesweite Daten zu den Arbeitskräften, die diese Erträge produzieren. Eine Ausnahme ist Indien, wo landesweite Umfragen 2011 ergaben, dass das Einkommen von mehr als 50 Prozent der ländlichen Haushalte von kurzfristigen Formen der Lohnarbeit abhängig ist. Im Allgemeinen arbeiten Regierungsstellen mit sehr ungenauen Annahmen. In Uganda zeigten nationale Arbeitsstatistiken zum Beispiel, dass 11 Prozent der Frauen in Lohnarbeit in der Landwirtschaft beschäftigt waren. Tiefer gehende wissenschaftliche Studien ließen andererseits die Schlussfolgerung zu, dass dies bei 44,8 Prozent der Frauen der Fall war.
Es gibt mehrere Gründe für die statistischen Mängel: Erstens zeichnet sich das Prekäre bei Haushalten mit niedrigem Einkommen eben genau durch die Tatsache aus, dass sie mehrere Einkommensquellen haben. Beispielsweise ist es denkbar, dass ein Haushalt zwei Hektar eigenes Land bebaut, dass die Söhne in einer anderen Region auf einer Plantage beschäftigt sind und die Töchter helfen vielleicht ihrem Nachbarn auf dem Feld im Tagelohn. Zweitens unterliegt die landwirtschaftliche Arbeit dem starken Einfluss der saisonalen Nachfrage. Die Menschen arbeiten oft drei Monate lang während der Erntezeit und neun Monate lang überhaupt nicht. Dies wird in den nationalen Arbeitsstatistiken kaum berücksichtigt; oft werden solche Haushalte grob als „Kleinbetrieb“ klassifiziert. Dementsprechend gibt es selbst auf globaler Ebene nur vage Schätzungen zur quantitativen Bedeutung von Lohnarbeit in der Landwirtschaft. 2013 schätzte die UN Arbeitsorganisation (ILO), dass von 1,1 Milliarden Menschen, die in der Landwirtschaft arbeiten, etwa 40 Prozent, oder 300 bis 500 Millionen Menschen, angestellt waren.
Soziale Differenzierung
So unterschiedlich landwirtschaftliche Strukturen in verschiedenen Regionen der Welt auch sind: Abhängige Beschäftigte machen einen bedeutenden Anteil der Arbeitskräfte aus und ihre Bedeutung wächst weiter im Hinblick auf die landwirtschaftlichen Kleinbetriebe. Soziale Strukturen in ländlichen Gebieten sind komplex und entstehen dynamisch überall auf der Welt. In vielen Regionen, in denen Mitte des 20. Jahrhunderts noch vorwiegend eine Kleinbauernwirtschaft betrieben wurde, hat mit der Kapitalisierung ein Prozess der sozialen Differenzierung eingesetzt und findet weiterhin statt. Der Soziologe für ländliche Gebiete Henry Bernstein hat diesen Prozess folgendermaßen beschrieben: Eine erste Gruppe Kleinbetriebs-Haushalte, die ursprünglich ihr eigenes Stück Land bewirtschaften, erlangt wirtschaftlichen Erfolg durch den Zugang zu Krediten und Märkten. Sie steigern ihre Produktion und stellen externe Arbeitskräfte ein. Eine zweite Gruppe von Kleinbetriebs-Haushalten hält durch die teilweise Integration in Märkte ein stabiles Produktionsniveau. Eine dritte, sehr große und wachsende Gruppe von Kleinbetriebs-Haushalten überlebt wirtschaftlich nicht oder verliert ihr Land. Diese Gruppe wandert entweder auf der Suche nach Lohnarbeit in die Städte oder verdingt sich selbst auf Höfen und Plantagen. Während dieser Faktor der sozialen Differenzierung die Anzahl der Landarbeiter*innen ohne Land mit der Zeit ansteigen lässt, beobachten wir gleichzeitig den gegensätzlichen Trend, die Technisierung und Digitalisierung auf Höfen, wodurch die Anzahl der Arbeitskräfte reduziert wird.
Massive Missachtung von Arbeitsrechten
Landarbeiter*innen besetzen gegenüber der Hofleitung eine schwache Position. Sehr oft ist die Zahl armer Menschen in ländlichen Gebieten hoch, sodass es eine potentielle Reservearmee an Arbeitskräften gibt, die die Arbeitnehmer*innen, die auf ihre Rechte pochen, ersetzen kann. In Regionen, die zu einem Mangel an Arbeitskräften in der Landwirtschaft neigen, beispielsweise in Deutschland, gibt es Versuche, die Reservearmee durch Ausweitung der Rekrutierung in Osteuropa künstlich aufzubauen, ganz so wie auch die USA seit Jahrzehnten von Wanderarbeitnehmer*innen aus Mittelamerika abhängig sind.
Arbeitsverhältnisse in der Landwirtschaft sind nur selten einfach Arbeitsverhältnisse auf einem freien Arbeitsmarkt, sondern gezeichnet durch Abhängigkeit und extreme Stufen der Prekarität:
- Soziale Hierarchie: Arbeitsverhältnisse, besonders auf großen Plantagen, sind gekennzeichnet durch eine extreme soziale Hierarchie. Einerseits zwischen privilegierten Vorarbeitern und Wanderarbeitnehmer’innen, sozial isolierten Arbeitskräften, und andererseits zwischen Männern und Frauen. Spezifische Formen der Diskriminierung (z.B. kein Zugang zu sanitären Einrichtungen und sexuelle Gewalt) sind ein massives Problem. Wenn die Arbeitskräfte mit ihren Familien auf der Plantage leben, sind sie extrem abhängig von der Hofleitung.
- Mangelnde Sozialversicherung: Ein beträchtlicher Teil der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte sind Saisonarbeiter*innen ohne Sozialversicherung. Sie arbeiten komplett informell oder sogar illegal. In vielen Ländern werden Wanderarbeitnehmer*innen als Leiharbeitskräfte über zwielichtige Unterhändler eingestellt.
- Niedrige Löhne: Löhne in der Landwirtschaft sind üblicherweise sehr viel niedriger als Löhne in anderen Wirtschaftssektoren. In manchen Ländern ist die Landwirtschaft sogar explizit von Mindestlohnbestimmungen ausgenommen. In vielen Fällen werden die Löhne immer noch nicht nach Arbeitsstunden, sondern nach der geernteten Menge gezahlt. Dadurch sind Landarbeiter*innen gezwungen, hart zu arbeiten, um den vereinbarten Lohn zu erhalten. Oft sind die Einkünfte so gering, dass Arbeiter*innen und ihre Familien unter Mangelernährung leiden.
- Verstoß gegen geltendes Arbeitsrecht: Für Regierungsbehörden ist es oft schwierig, die Erfüllung geltender Gesetze in entfernten ländlichen Gebieten zu überwachen. Die ILO schätzt, dass nur auf 5 Prozent der Höfe auf der Welt arbeitsbezogene Untersuchungen stattfinden. Die Landwirtschaft ist ein Sektor, auf dem Formen der Zwangsarbeit und Kinderarbeit weltweit immer noch besonders verbreitet sind.
Neue Strategien sind nötig
Was muss getan werden, um landwirtschaftliche Richtlinien so umzugestalten, dass das Leben der Landarbeiter*innen verbessert wird und gerechtere und nachhaltigere Ernährungssysteme aufgebaut werden? Ich denke mit den Strategien müssen die folgenden drei Punkte sichergestellt werden:
- Die legitimen eigenen Organisationen der Arbeiter*innen müssen in den Debatten um Landwirtschafts- und Nahrungemittelpolitik eine Schlüsselrolle spielen: Es ist überraschend, wie oft landwirtschaftliche Gewerkschaften in Debatten um landwirtschaftliche Politik ignoriert und beiseite geschoben werden. Es gibt unterschiedliche ländliche Gewerkschaften. Sie reichen von nicht eingetragenen Graswurzelorganisationen auf einzelnen Höfen bis hin zu umfassend organisierten Verbänden auf nationaler Ebene. Gewerkschaften arbeiten in einer Vielzahl politischer Kontexte. Im repressiven Umfeld organisieren sich Arbeiter/innen vielleicht in verborgenen nächtlichen Treffen auf Höfen. In anderen Fällen sind Gewerkschaften mit Kollektivverhandlungen erfolgreich und sorgen für bessere Arbeitsbedingungen für alle, unbefristet und saisonal Beschäftigte gleichermaßen. Arbeitskämpfe bringen oft ein hohes Maß an persönlicher Gefahr für Gewerkschaftsaktivist*innen mit sich. Diese Gewerkschaften brauchen Unterstützung und müssen in politische Schlüsselräume einbezogen werden.
- Nutzung der bestehenden ILO-Übereinkommen. Diese Übereinkommen sind Vereinbarungen, die von den einzelnen Staaten ratifiziert wurden und somit für diese Staaten gesetzliche Verpflichtungen darstellen. Deshalb sind sie rechtlich verbindlicher als die verschiedenen Erklärungen, Prinzipien und freiwilligen Richtlinien, die Jahr für Jahr von der UN entwickelt werden. Einige der Übereinkommen, zum Beispiel die Konvention 183 (Recht auf Mutterschutz) oder die Konvention 184 (Arbeitsschutz in der Landwirtschaft), sind starke, sehr konkrete Instrumente, die genutzt werden sollten, um die Rechte von Arbeiter*innen in der Landwirtschaft zu schützen.
- Verstehen der Schlüsselrolle von Landarbeiter*innen bei der sozio-ökologischen Transformation von Systemen der landwirtschaftlichen Erzeugung von Nahrungsmitteln. Um mit der Klimakrise fertig zu werden und in Richtung landwirtschaftlich und ökologisch nachhaltiger Systeme zu gehen, genügt es nicht, lokale Lösungen der ökologischen Landwirtschaft von landwirtschaftlichen Kleinbetrieben zu unterstützen. Die Landarbeiter’innen müssen ebenfalls mit an Bord genommen werden. Sie gehören zu den wichtigsten sozialen Gruppen, die am meisten von der Hitzebelastung aufgrund des Klimawandels und den zerstörerischen Auswirkungen von Pestiziden auf die Gesundheit betroffen sind. Um die Landwirtschaft im großen Stil umzugestalten, müssen Land- und Plantagenarbeiter’innen Teil der Transformation sein.
Von Benjamin Luig, Koordinator im Rahmen des Projektes „Faire Mobilität“ für die Branchen Bau und Landwirtschaft beim Europäischen Verein für Wanderarbeiterfragen. Von 2016 bis 2019 leitete er das Dialogprogramm Ernährungssouveränität der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Johannesburg.