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Die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen waren zwischen den beiden Weltkriegen unabhängig, wurden aber 1940 von der Sowjetunion annektiert. Nach der Auflösung der UdSSR begannen sie mit dem Wiederaufbau der Nationalstaaten und ihrer nationalen Identitäten. Dies erklärt ihre unterschiedlichen Strategien hinsichtlich der Staatsbürgerschaften.
Als sie ihre Unabhängigkeit im Jahr 1991 wiedererlangt hatten, führten Lettland und Estland eine restriktive Politik ein, die die Staatsbürgerschaft nur denjenigen gewährte, die sie vor der sowjetischen Besetzung 1940 hatten, sowie deren Nachkommen. So wurde etwa einem Drittel der Bevölkerung dieser Länder, ehemaligen Bürger*innen der UdSSR, die Staatsbürgerschaft verweigert. Diese Politik betraf insbesondere Menschen russischer, belarussischer und ukrainischer Abstammung. Die neuen Regierungen gingen davon aus, dass die russischsprachigen Minderheiten die nationalen Identitäten und Sprachen bedrohten. So entstanden die „Nicht-Staatsangehörigen“ („nepilsoņi“ auf Lettisch) und „Personen mit unbestimmter Staatsbürgerschaft“ („kodakondsuseta isik“ auf Estnisch).
In den folgenden Jahren kritisierten internationale Institutionen – darunter die Vereinten Nationen, die Europäische Union (EU), der Europarat sowie die Menschenrechtsorganisationen Helsinki Watch und Amnesty International – diese Ausgrenzungen. Auf den wachsenden Druck hin erleichterten Lettland und Estland den Erwerb der Staatsbürgerschaft. Nun zielte der Einbürgerungsprozess in den beiden Ländern darauf ab, die neuen Staatsbürger*innen in die Mehrheitsgesellschaft zu integrieren.
In Estland erwies sich dies als dynamischer und effektiver als in Lettland. Die Zahl der Personen mit unbestimmter Staatsbürgerschaft sank von 32 Prozent im Jahr 1992 auf 5,7 Prozent im Jahr 2019; sie liegt derzeit bei rund 76.000. Lettland bürgerte seit 1995 fast 150.000 Menschen ein. Aber fast 240.000 Menschen, das entspricht 11 Prozent der Bevölkerung, sind nach wie vor Nicht-Staatsangehörige.
In den vergangenen Jahren führte Estland Verfahren ein, um die Zahl Nichteingebürgerter weiter zu reduzieren. Wer eine langfristige oder unbefristete Aufenthaltsgenehmigung hat und vor dem 1. Juli 1990 in Estland niedergelassen war oder geboren wurde, kann nun die Staatsbürgerschaft beantragen. Diese Personen müssen fließend Estnisch sprechen, eine legale Einkommensquelle sowie einen Wohnsitz in Estland nachweisen und ihre Loyalität gegenüber dem estnischen Staat belegen. Seit 2015 sind Personen über 65 Jahren von der schriftlichen Sprachprüfung befreit. Alle nach 2016 in Estland geborenen Kinder, deren Eltern seit mindestens fünf Jahren ihren ständigen Wohnsitz in Estland haben, erhalten automatisch die estnische Staatsbürgerschaft.
Eine ähnliche Lösung wurde unlängst vom lettischen Parlament verabschiedet. Kinder, die das 15. Lebensjahr vollendet haben, können die Staatsbürgerschaft beantragen, während Kinder unter dieser Altersgrenze zusammen mit ihren Eltern eingebürgert werden können. Auch hier gilt, dass Bewerber*innen fließend Lettisch sprechen, seit fünf Jahren ihren ständigen Wohnsitz im Land haben und über eine legale Einkommensquelle verfügen müssen.
Nicht-Staatsangehörige in Lettland und Personen mit unbestimmter Staatsbürgerschaft in Estland genießen den gesetzlichen Schutz, wenn sie ihren Wohnsitz im Inland haben und während sie im Ausland leben oder reisen. Sie können Mitglieder zivilgesellschaftlicher Organisationen werden und haben das Recht auf visumfreies Reisen innerhalb der EU. Trotz dieser Garantien gibt es Unterschiede in Bezug auf die politischen und wirtschaftlichen Rechte zwischen Bürger*innen und Nicht-Staatsangehörigen bzw. Personen mit unbestimmter Staatsbürgerschaft. Sie dürfen nicht wählen und sind nicht durch die nationale Minderheitengesetzgebung geschützt. Die Arbeit im öffentlichen Dienst, zum Beispiel im Gerichtswesen, bei der Polizei oder der Armee ist ihnen nicht gestattet. Auch technische Berufe können sie nur eingeschränkt ergreifen.
Anders als Lettland und Estland entschied sich Litauen für eine liberale „Nullvariante“. Sie ermöglicht es den dort gemeldeten Personen, die Staatsbürgerschaft unabhängig von ihrer Herkunft, der Dauer ihres Aufenthalts oder ihren Sprachkenntnissen zu erhalten. Derzeit sind weniger als 0,1 Prozent der Menschen in Litauen staatenlos. Die integrative Politik des Landes lässt sich durch drei Faktoren erklären: durch den historischen Mehrnationalitätscharakter des Staates, den relativ geringen Anteil der Minderheiten an der Bevölkerung nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit sowie die Notwendigkeit, die Beziehungen zu den Nachbarn zu stabilisieren.
All das änderte sich jedoch mit dem Staatsbürgerschaftsgesetz von 2002, das die Annahme der Staatsbürgerschaft für Menschen ohne litauische Wurzeln einschränkte. Dies beeinflusste den Einbürgerungsprozess erheblich, insbesondere in Bezug auf Migrantinnen mit ehemals sowjetischer Staatsbürgerschaft. Wie Estland erlaubt Litauen keine doppelte Staatsbürgerschaft, was bedeutet, dass jede andere zum Ausschluss von der litauischen führt.
Im Gegensatz zur schnellen Erledigung des Problems in Litauen hat in Estland und Lettland der Nicht-Staatsangehörigkeitsstatus die politische, wirtschaftliche und soziale Stellung der Menschen beeinträchtigt und ihrer sozialen Integration geschadet. Die allmähliche Liberalisierung hat den Zusammenhalt zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen zwar verbessert, insbesondere in Estland. Doch es gibt immer noch eine beträchtliche Anzahl von Nicht-Staatsangehörigen, die aufgrund vieler interner und externer Faktoren nicht zur Einbürgerung bereit sind.
Dieser Beitrag steht unter folgender Urheberrechtslizenz: CC-BY 4.0
Der Artikel wurde im Atlas der Staatenlosen auf Französisch, Englisch und Deutsch veröffentlicht.