März 29, 2021

Menschenrechte und feministische Kritik

Christa Wichterich

Menschenrechte sind Frauenrechte sind LGBTIQ-Rechte sind Behindertenrechte sind Rechte von Schwarzen (People of Colour) sind Rechte der Anderen


In den 1990er Jahren wurde die Formel „Menschenrechte sind Frauenrechte“ zum Schlachtruf von Frauenbewegungen auf nationaler und internationaler Ebene. Damit nahmen sie die feministische Kritik auf, die Olympe de Gouge kurz nach der Französischen Revolution bereits der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte entgegengeschleudert hatte: Männerrechte, nichts als Männerrechte. Frauen blieben aufgrund ihres Geschlechts ausgeschlossen. Das zentrale Thema der ersten Frauenbewegung des Westens war zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Ausschluss von Frauen vom Wahlrecht. 1945, bei der Formulierung der Menschenrechtscharta der UNO, stritten vor allem zwei lateinamerikanische Feministinnen, Minerva Bernardino aus der Dominikanischen Republik und die Brasilianerin Bertha Lutz für sprachliche Inklusion, nämlich dafür, das Wort ‚Frauen’ in die Präambel aufzunehmen. Bei all diesen Kämpfen gegen oft erbitterte Widerstände ging es zu allererst – wie Hannah Arendt sagt – um das Recht, Rechte zu haben.


Women chant and hold signs during a rally
Frauen singen und halten Schilder während einer Kundgebung und marschieren an einem Tag ohne Frauen, Teil von International Womens Strike NYC, einer Koalition von Dutzenden von Basisgruppen und Arbeitsorganisationen, am Mittwoch, dem 8. März 2017, im Washington Square Park in New York. Foto: AP Foto / Kathy Willens / Keystone

In der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts machten Rechtsaktivistinnen ihre feministische Rechtskritik am Widerspruch zwischen der in Verfassungen und politischen Programmen verbreiteten Rechtsnorm von Gleichheit und der Rechtswirklichkeit von Ungleichheit fest. Die Doppelstruktur „Menschenrechte sind Frauenrechte“ und „Frauenrechte sind Menschenrechte“ bedeutet, dass Gerechtigkeit nicht allein durch Gleichberechtigung zu erreichen ist, sondern auch Sonderrechte für Frauen notwendig sind. Die Anti-Diskriminierungskonvention (CEDAW) von 1979, das einzige völkerrechtlich verbindliche Dokument zu Geschlechtergleichheit, enthält ein Diskriminierungsverbot und ein Gleichbehandlungsgebot, um die Staaten zu einer Dreifachaufgabe zu verpflichten: Frauenrechte als Menschenrechte zu respektieren, sie zu schützen und aktiv einzulösen. CEDAW trug entscheidend zur Internationalisierung des Anspruchs bei, dass Frauen allgemeine Menschenrechte und geschlechtsspezifische Frauenrechte für sich reklamieren können.

Die Bezugnahme auf das Menschenrechtsparadigma wurde in den 1990er Jahren zu einem großen Erfolg. Es machte Frauenpolitik zum einen anschlussfähig an UN-Politik, zum anderen gab es für die sehr unterschiedlichen Frauenbewegungen aus den verschiedenen Kontinenten und Kulturen gemeinsame normative Referenzpunkte vor. Dabei geht das Frauen-/Menschenrechtskonzept von der Unteilbarkeit, Interdependenz und Gleichwertigkeit der drei Generationen von Menschenrechten aus, den bürgerlich-politischen, den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen und den kollektiven Rechten auf Frieden, Nachhaltigkeit, gesunde Umwelt etc.. Rechte wurden im Rahmen einer Empowerment-Strategie für Frauen als „Schlüsselbereiche von Macht“ (David Held) betrachtet. Sie stellen ein Instrumentarium dar, mit dessen Hilfe Frauen ihr Verhältnis zum Staat einerseits, andererseits aber auch zu ihrer Kultur und deren traditionellen Rechts- und Wertesystemen aushandeln können.

Das führte zu einem neuen Selbstverständnis: Frauen traten nun als autonome Rechtssubjekte auf, nicht mehr primär als Bittstellerinnen und Bedürftige wie dies im Entwicklungsdiskurs seit den 1970er Jahren der Fall gewesen war. Auf diese Weise wurde es möglich, Unrecht an Frauen und damit Herrschaftsverhältnisse sichtbar zu machen, gleichzeitig aber die Opferrolle zu überwinden. Der Paradigmenwechsel von einem Grundbedürfnisansatz zu einem Grundrechteansatz (from basic needs to basic rights) führte zu einer Akzentverschiebung in den politischen Handlungskonzepten: Im Vordergrund standen jetzt Forderungen nach politischer Einlösung von Rechtsansprüchen und nach Mitgestaltung von Politik und Demokratie, von Wirtschaft, Entwicklung und Frieden.

Das substantiell Neue der feministischen Redefinition von Menschenrechten war, dass das Private politisch ist, nämlich eine Erweiterung des Menschenrechtskonzepts aus der öffentlichen in die Privatsphäre hinein. Mit diesem Rechtsverständnis brachen sie die männlich-patriarchale Diskurshoheit auf und eigneten sich gesellschaftliche Deutungs- und Definitionsmacht an. Inhaltlich konkretisiert wurde dies seit der UN-Menschenrechtskonferenz 1993 in Wien: seitdem wird Gewalt gegen Frauen als Menschenrechtsverletzung und Vergewaltigung im Krieg als Kriegsverbrechen benannt. Mit der Ausformulierung von sexuellen und reproduktiven Rechten öffnete sich die Möglichkeit eines neuen Kapitels der Selbstbestimmung über Körper, Sexualität und Fortpflanzung.

Dies alles kam auf der UN-Ebene mit dem Anspruch der Universalität daher und unterstellte eine gemeinsame Geschlechtsidentität aller Frauen, die eine weltweite Frauensolidarität möglich macht.

Menschenrechte und anti-feministische Kritik

 Wann immer Frauenrechte bei den Vereinten Nationen verhandelt wurden, artikulierten konservative Kräfte aus verschiedenen Regionen, Religionen und Kulturen Widerspruch gegen das Konzept der Geschlechtergleichheit. Unter der Führung des Vatikans bildete sich eine „unheilige“ Allianz zwischen reaktionären Kräften im Christentum und Islam. Sie gaben der Familie, der heterosexuellen Ehe und der Mutterrolle absoluten Vorrang vor den Selbstbestimmungsrechten der Frau und LGBTIQ Personen, der biologischen Differenz der beiden Geschlechter Vorrang vor sozialer Konstruktion. Diese konservativen Strömungen lehnen sexuelle und reproduktive Rechte, von Kinderrechten auf Sexualkunde über die freie Entscheidung über sexuelle Orientierung bis zum Recht auf Schwangerschaftsabbruch ab. Religiöse Normen wurden damit den allgemeinen Menschenrechten übergeordnet.

Fundamentalistische religiöse Kräfte aus verschiedenen Weltregionen haben in den vergangenen beiden Jahrzehnten soziale Bewegungen zu einem massiven Backlash gegen die emanzipatorischen Errungenschaften von Frauen und LGBTIQ Personen mobilisiert. Eine führende Rolle übernahm dabei der World Congress on Families, der einen Familismus mit traditionellen Geschlechterrollen gegen den Feminismus auffährt und reaktionäre christliche Gruppierungen, rechtspopulistische zivilgesellschaftliche Kräfte und rechte Parteien zusammenführt.

Argumente gegen individuelle Freiheits- und Gleichheitsrechte von Frauen wurden nicht nur mit der Religion, sondern oft auch mit der „eigenen“ Kultur und mit „authentischen“ eigenen Werten und Moral begründet: so gehören Frauen mit kurzen Röcken vorgeblich nicht zur „afrikanischen“ Kultur, eine Bedeckung des Gesichts durch einen Hijab passt angeblich nicht in die Schweizer Kultur. Das Konstrukt einer souveränen eigenen Kultur wird als oberste Norm gesetzt und relativiert Menschenrechte.

Kulturrelativistische und religiös motivierte Denkmuster finden sich auch im rechtspopulistischen, autoritären und nationalistischen Denken und im aktuellen Anti-Feminismus wieder. Die Auseinandersetzungen sind zu einem Kulturkampf um die Definitionshoheit über Geschlecht, Familie und gesellschaftliche Ordnung eskaliert. Der zentrale Vorwurf an feministische und queere Forderungen nach sexuellen und reproduktiven Rechten und individuelle Wahlfreiheiten lautet, das würde die „natürliche“ oder auch gottgewollte Ordnung von Zweigeschlechtlichkeit, Patriarchat und heterosexueller Ehe zersetzen. Das zugrunde gelegte normative Menschenbild ist das des männlichen weißen Staatsbürgers. Dabei wird von „natürlichen“ Ungleichheiten der Menschen ausgegangen, die soziale Hierarchien entlang von Gender, ethnisierten und rassifizierten Kategorien legitimieren. Deswegen wird egalitäre und Inklusionspolitik gegenüber den als „anders“ Definierten in Frage gestellt und behauptet, Frauenrechte und Gleichstellung seien bereits zu genüge umgesetzt. Diese unterschiedlichen Tendenzen führen zu einem Rollback gegen Genderrechte und zielen auf den Ausgrenzung von Anderen, vor allem von Migrant*innen oder ethnischen Minderheiten aus den Menschenrechten auf Basis einer vereinfacht gedachten Gegensatzes von „wir“ und die „anderen“, von Westen und Osten, von Norden und Süden. Das soll die Rechtsansprüche der Anderen zum Verstummen bringen.

Menschenrechte und post-koloniale Machtkritik

So wie Olympe de Gouge 1791 argumentierte, dass die Menschen- und Bürgerrechtserklärung von einer privilegierten Machtposition von Männern hergeschrieben war, argumentieren postkoloniale Kritiker*innen jetzt, dass die Menschenrechte von der Macht- und Privilegienposition der westlichen Aufklärung und ihrer weißen männlichen Philosophen geschrieben wurde. Dabei unterstellt das Paradigma stets eine Überlegenheit westlicher Rationalität und Moderne in Bezug auf individuelle Freiheit und Gleichheit. Werte und Wissen aus der Aufklärung und der bürgerlich-liberalen Demokratie geraten in diesem Kontext zur Herrschaftstechnologie gegenüber dem Globalen Süden, den „Anderen“. Das legitimiert auch den Kolonialismus und (neo)-koloniale Entwicklung, die immer ein Geschäftsmodell des Westens war, als zivilisatorische Mission.

Die bekannte post-koloniale Theoretikerin Gayatri Spivak kündigte deswegen auch bei den UN-Konferenzen der 1990er Jahre die Verschwisterung mit Frauen aus dem Norden auf: „I am not a sister“. Die „hegemonialen“ Feminist*innen würden sich zu Agent*innen eines „imperialen Projekts“ machen, das die Stimmen der Subalternen verstummen lasse, weil es immer glaube, andere repräsentieren zu können.

Der Vorwurf der post-kolonialen Kritiker*innen zielt darauf, dass westliche Feminist*innen selektiv „andere“, nicht-westliche Frauen als passive Opfer von Armut, Gewalt, Patriarchat, Krieg, (Natur-)Katastrophen und „Unterentwicklung“ konstruieren. Durch kulturelle oder rassifizierte Zuschreibung werden so Machtasymmetrien und Herrschaftsverhältnisse zementiert und Eigenschaften zum Wesenhaften, Essentiellen der Menschen, verallgemeinert und naturalisiert. Das dient der Festschreibung sozialer Ungleichheiten mithilfe sozialer Identitätskategorien im globalem Maßstab. In solch ungleichen Verhältnissen – so das Argument aus post-kolonialer Perspektive – ist Solidarität auf Augenhöhe nicht möglich. Sie bestätigt erneut die Überlegenheit der angeblich emanzipierteren weißen Mittelschichtsfeminist*innen und setzt ihre privilegierte Position als Maßstab. So wie Feminist*innen mit einer Identitätspolitik auf den Ausschluss von Menschenrechten und Diskriminierung aufgrund der Geschlechtsidentität reagiert haben, antworten jetzt Frauen aus dem Globalen Süden, LGBTIQ, Migrant*innen, Dalits, Indigene, Schwarze, und behinderte Personen mit einer Vielzahl von Identitätspolitiken auf identitätsbasierte Diskreditierung und Strategien, die armen rückständigen und geschundenen Frauen aus ihren Patriarchaten zu befreien und zu retten.

Die Verteidigung von Frauenrechten wird von sich feministisch gerierenden Kräften im Westen für geo-, außen- und sicherheitspolitische Zwecke missbraucht, wie der „war on terror“ in Afghanistan paradigmatisch gezeigt hat. Damals wurde die Militärintervention der USA mit dem Schutz von Frauenrechten als humanitärer und moralischer Eingriff gerechtfertigt, sozusagen als „gerechter“ Krieg, um afghanische Frauen vor der Gewalt der Taliban zu schützen. Gleichzeitig haben die USA bis heute die Frauenrechts- und die Kinderrechtskonvention nicht ratifiziert, weil sie ihre nationale Gesetzgebung für ausreichend oder besser geeignet halten, um Frauen- und Kinderrechte zu verteidigen und umzusetzen. Gegenüber den „Anderen“ werden die im eigenen Land durchgeführte Anti-Diskriminierungsmaßnahmen femo- oder homonationalistisch gewendet, indem erneut die eigene Fortschrittlichkeit mit neokolonialem moralischen Gestus gegen „rückständige“ Positionen in anderen Kulturen ins Feld geführt werden. 

Eine weitere Vereinnahmung von Menschen-/Frauenrechten findet durch die Märkte statt: Geschlechtergleichheit bedeutet nach Maßgabe der Weltbank „smarte“ Ökonomie. Seit Jahrzehnten macht die Weltbank sich dafür stark, dass das „untergenutzte“ weibliche Humankapital auf den neoliberalen Märkten mehr gleiche Rechte und Chancen haben sollte, um Wachstum und Produktivität zu fördern. Diskriminierung und Ausschluss gelten als Wachstumshindernis. Diese Marktlogik nahmen Businessfeminist*innen mit ihrer Forderung nach Frauen als Top-Unternehmerinnen und in Führungspositionen auf. Das wiederum kritisierte Nancy Fraser als eine unselige Verbindung von Neoliberalismus und Feminismus. In diesem Kontext tauchen auch Marktrechte mit dem Etikett der Gleichstellung als neue Menschenrechte auf, z.B. ein Menschenrecht auf Mikrokredit.


Opening meeting of the 64th Commission on the Status of Women (CSW) at the UN headquarters in New York
UN- 10 März 2020 – Das am 9. März 2020 aufgenommene Foto zeigt die Eröffnungssitzung der 64. Kommission für den Status der Frau (CSW) im UN-Hauptquartier in New York. UN-Generalsekretär Antonio Guterres wurde am Montag von dem, was er als bewegungsaufbauend für die Gleichstellung der Geschlechter ansah, ermutigt und forderte weitere Anstrengungen, um die Sache weiter voranzutreiben. In diesem Jahr feiert die Welt den 25. Jahrestag der Erklärung von Peking und ihrer Aktionsplattform, die zusammen die umfassendste und transformativste globale Agenda für die Gleichstellung der Geschlechter und die Stärkung der Rolle der Frauen definieren, sagte er auf der Eröffnungssitzung der 64. CSW. Foto: Li Muzi Xinhua / eyevine / eyevine / laif

Menschenrechte sind (auch) die Rechte der Anderen

Menschenrechte sind nicht statisch, sondern haben längst das binäre Geschlechterkonzept und identitäre Frauenpolitik überwunden. Das Konzept hat unterschiedliche Dynamiken von Öffnung und Schließung erfahren. Muss das Paradigma von Menschenrechten sich ändern, wenn es in unterschiedlichen Kontexten gerecht sein will? Wie kann es allgemein sein und doch unterschiedlichen Differenzen und Identitäten gerecht werden? Immer noch trifft zu, dass wenn Ungleiche gleiche Rechte, Möglichkeiten und Behandlung bekommen, dass dann die Ungleichheiten zunehmen. Bei jeder Verallgemeinerung und Übertragung muss jedenfalls in Rechnung gestellt werden, dass ein eurozentristisches, gegendertes und rassifiziertes Menschenbild tief in die Menschenrechte eingeschrieben ist.

Die Weiterentwicklung des Konzepts zu globalen sozialen Rechten trifft sich mit dem Fähigkeiten-Ansatz (capabilities approach) von Martha Nussbaum, der nicht normativ von einem bestimmten Menschenbild ausgeht, sondern von anthropologischen Gemeinsamkeiten. Er zielt auf die Herstellung von Handlungsfähigkeit und Bedingungen, um und ein gutes Leben sowie ein Empowerment von Frauen und anderen Marginalisierten, Diskriminierten und Ausgeschlossenen als autonome Rechtssubjekte zu erreichen. Gayatri Spivak, die den Menschenrechten als eurozentristischem und imperialistisches Konstrukt kritisch gegenübersteht, plädiert dafür, dem westlich-aufklärerischen Rechtsdenken, das auf Rationalität und Vertrag beruht, ein Gerechtigkeitsdenken zur Seite zu stellen, das auf Verantwortung für die anderen, die Subalternen, und für ihre Handlungsfähigkeit beruht. Zentral ist, dass mithilfe des Menschenrechtsparadigmas der Opferstatus überwunden, intersektionales Unrecht politisiert und Ungleichheiten und Machtasymmetrien überwunden werden können.

Es ist genau dieses Handlungsfeld, wo die Kämpfe für Menschenrechte, globale soziale Rechte und identitätsbezogene Rechte vielerorts miteinander verwoben und nicht voneinander zu trennen sind.

Christa Wichterich ist eine wissenschaftliche Aktivistin und feministische Soziologin aus Deutschland, die viele Jahre ihres Berufslebens in Indien und Ostafrika gearbeitet hat. In den 1990er Jahren verfolgte sie die Reihe der UN-Konferenzen als Journalistin, Buchautorin und Forscherin. Zuletzt arbeitete sie an Universitäten in Deutschland, Österreich und der Schweiz als Gastprofessorin für Geschlechterpolitik.