September 21, 2021

„Der Food Systems Summit wird den Millionen von Menschen, die derzeit Hunger leiden, nichts bringen“

Michael Fakhri, Lucía Guadagno

Der UN-Berichterstatter für das Recht auf Nahrung, Michael Fakhri, kritisiert, dass sich der Gipfel auf die Interessen multinationaler Konzerne konzentriert, die eine große Verantwortung für die Nahrungsmittelkrise tragen. Er warnt vor den möglichen Auswirkungen vor Ort und schlägt Möglichkeiten für einen Ausweg aus der Situation vor. Agrarökologie als Instrument des Wandels.


Am 23. September beginnt der vom Weltwirtschaftsforum geförderte Food Systems Summit der Vereinten Nationen. Seit seiner Ankündigung im vergangenen Oktober wurde der Gipfel von vielen Seiten kritisiert, auch von Mitgliedern der UNO selbst. Sonderberichterstatter und ehemalige UN-Beamte warnen vor dem zunehmend besorgniserregenden Einfluss des konzentrierten Privatsektors – Unilever, Bayer, Nestlé, Coca-Cola, Pepsico, Google, Amazon, Microsoft – auf Gipfeltreffen dieser Art, die darauf abzielen, sich auf die allgemeinen Bedingungen eines Plans zu einigen, der dann Auswirkungen auf die öffentliche Politik der Länder hat.

Eine dieser kritischen Stimmen ist die von Michael Fakhri, dem Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für das Recht auf Nahrung. Für Fakhri ist dieses Gipfeltreffen eine Zeit- und Geldverschwendung für die UN-Mitgliedstaaten, das den Völkern der Welt nicht den geringsten Nutzen bringt, noch weniger den Millionen von Menschen, die derzeit Hunger leiden. Nutznießer des Gipfels sind dagegen eine Handvoll multinationaler Konzerne, die sich ihre künftigen Geschäfte sichern wollen, sowie bestimmte NGOs und Lobbygruppen, die als Berater für die Organisation dieser Art von internationalen Veranstaltungen fungieren.

Der Großteil der Menschen, sowohl in den Städten als auch in den ländlichen Gebieten, wird die Auswirkungen dieses Gipfels in den kommenden Jahren dennoch zu spüren bekommen. Nach Ansicht von Fakhri werden sich die Beschlüsse des Gipfels auf die Ernährungspläne auswirken, die die nationalen Regierungen in Zukunft umsetzen werden – Pläne, die angesichts der bisherigen Entwicklung „sehr wahrscheinlich gegen die Menschenrechte verstoßen werden“, warnt der UN-Berichterstatter.

Er befürchtet, dass die UNO den multinationalen Konzernen eine einflussreiche und entscheidende Macht darüber geben wird, wie die Nahrungsmittelkrise in einer Welt bewältigt wird, in der der Hunger nach Angaben der FAO seit 2015 immer weiter zunimmt. Im Jahr 2020, als die Covid-Pandemie alles noch schlimmer machte, hungerten schätzungsweise 700-800 Millionen Menschen.

Zusammen mit zwei früheren Berichterstattern verurteilte Fakhri, dass die Organisatoren des Gipfeltreffens etablierte und transparentere Gremien, wie den Ausschuss für Welternährungssicherheit, umgangen hätten, um über Ernährungssysteme zu diskutieren. „Das Gipfeltreffen lenkt auf eklatante Weise – und vielleicht absichtlich – die Aufmerksamkeit der Regierungen vom Ausschuss ab“, argumentierten sie.. Und sie wiesen darauf hin, dass die Regeln und die Tagesordnung des Gipfels von einem kleinen Sektor, der auf die Interessen der multinationalen Konzerne eingeht, festgelegt wurden. Daher werden die Vorschläge, die dabei herauskommen „landwirtschaftliche Systeme sein, die durch künstliche Intelligenz, Genveränderung und andere High-Tech-Lösungen gesteuert werden, welche im großen Stil auf die Agrarindustrie abzielen“, warnten sie.

Gemeinsam mit zwei früheren Berichterstattern prangerte Fakhri an, dass die Organisatoren des Gipfels etablierte und transparentere Gremien wie den Ausschuss für Welternährungssicherheit übersehen hätten, die an den Diskussionen über die Ernährungssysteme hätten beteiligt werden können. „Der Gipfel lenkt die Aufmerksamkeit der Regierungen ganz offenkundig, vielleicht sogar absichtlich, von dem Ausschuss ab“, erklärten sie. Sie wiesen auch darauf hin, dass die Regeln und die Tagesordnung des Gipfels von einer kleinen Gruppe aufgestellt wurden, die nur die Interessen der multinationalen Konzerne berücksichtigt. Die Vorschläge, die aus dem Gipfel hervorgehen, werden daher wahrscheinlich „durch künstliche Intelligenz, Genmanipulation und andere High-Tech-Lösungen kontrollierte landwirtschaftliche Systeme sein, die auf die groß angelegte Agroindustrie ausgerichtet sind“, warnten sie.

Seit der Ankündigung des Gipfeltreffens durch den UN-Generalsekretär Antonio Guterres im vergangenen Oktober hat Fakhri mehrere Dokumente vorgelegt, in denen er auf das Fehlen einer auf die Menschenrechte ausgerichteten Perspektive in Bezug auf die Ernährungssysteme bestand. Eines davon war ein Bericht, der dem UN-Menschenrechtsrat vorgelegt wurde, ein anderes richtete sich speziell an die Organisatoren des Gipfeltreffens, und ein weiterer Bericht wurde kürzlich  an die Generalversammlung der Vereinten Nationen adressiert.

Seit der Ankündigung des Gipfels durch UN-Generalsekretär António Guterres im vergangenen Oktober hat Fakhri mehrere Dokumente veröffentlicht, in denen er auf die fehlende Menschenrechtsperspektive bei der Gestaltung von Ernährungssystemen hinweist. Eines davon war ein Bericht, der dem UN-Menschenrechtsrat vorgelegt wurde; ein anderes war speziell an die Organisatoren des Gipfels gerichtet, und ein weiteres war ein aktueller Bericht für die UN-Generalversammlung.


Michael Fakhri, UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung.
Foto: Universität von Oregon

Agencia Tierra Viva sprach aus Buenos Aires, Argentinien, mit Fakhri, der in den Vereinigten Staaten lebt, wo er Professor an der juristischen Fakultät der Universität von Oregon ist.
Haben die offiziellen Stellen beim Gipfel auf Ihre Kritik und Ihre Vorschläge reagiert?

„Nein. Das letzte, was ich versucht habe, war, mit den verantwortlichen Stellen zu kommunizieren und Vorschläge zu machen, wie die sozialen Organisationen und Bewegungen, die bisher gegen den Gipfel waren, einbezogen werden könnten. Denn obwohl sich das Sekretariat (die Behörde) des Gipfels mit ihnen getroffen hat, haben sie sich ihre Forderungen nicht wirklich angehört oder irgendetwas an ihrem Vorgehen geändert. Ich dachte, dies könnte meine letzte Chance sein, und habe einen Vorschlag eingereicht, den sie aber abgelehnt haben. Nach diesem Austausch lautet meine Botschaft: Dieser Gipfel ist kein Gipfel für die Menschen (wie vom Generalsekretär der UNO angepriesen) – er ist Zeitverschwendung. Die Organisation des Gipfels dauerte zwei Jahre, kostete etwa 24 Millionen Dollar und erforderte den Einsatz von Tausenden von Freiwilligen. Und am Ende wird er den Menschen vor Ort, auf den Feldern, in den Fabriken und in den Städten nicht helfen. Die Menschen, die es am nötigsten haben, werden keinen Nutzen aus diesem Gipfel ziehen.“

Und wer wird von dem Gipfel profitieren?

„Es war von Anfang an klar, dass die Personen, die die Idee für den Gipfel hatten, alle mit dem Weltwirtschaftsforum verbunden waren. Das sind nicht unbedingt die Unternehmen selbst – die führenden Köpfe des Gipfels sind keine Unternehmen. Vielmehr handelt es sich um Organisationen, die eng mit diesen Unternehmen zusammenarbeiten, die ihnen dienen und sich als Teil der Lösung sehen. Ich habe die Organisatoren des Gipfels gefragt, wie sie behaupten können, dass die Unternehmen Teil der Lösung sind, wenn sie in Wirklichkeit Teil des Problems sind. Ihre Antwort lautete: „Die Regierungen sind auch Teil des Problems“. Das erklärt so einiges. Denn Regierungen sind nicht dasselbe wie Konzerne. Auch wenn Regierungen Teil des Problems sind, so sind sie doch zumindest theoretisch rechenschaftspflichtig. Unternehmen sind per definitionem nicht rechenschaftspflichtig. Bei ihnen geht es darum, die Haftung zu begrenzen und Gewinne zu erzielen. Wir wissen, dass es schwer ist, ein Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen haftbar zu machen. Zu den Gruppen, die davon profitieren werden, gehören also bestimmte landwirtschaftliche Erzeuger und Lebensmittelproduzenten, die den Konzernen mehr Macht geben wollen und sich bei der Zusammenarbeit mit ihnen wohl fühlen – und die Konzerne selbst. Was ich nicht verstehe, ist, warum die Regierungen bereit sind, den Beratern, Wissenschaftlern und Experten, die mit den Konzernen zusammenarbeiten, so viel Macht über die Vereinten Nationen zu geben. Ein weiterer Nutznießer sind die Organisatoren des Gipfels, eine Gruppe von Menschen, die ihre Beratertätigkeit fortsetzen und auch künftig wie Experten behandelt werden.“

Können Sie einige Beispiele für diese NGOs und Unternehmen und die von ihnen vorgeschlagenen Lösungen nennen?

„Der Vorsitzende von Action Track 2 (die Action Tracks sind eine Art Kommission innerhalb des Gipfels) ist Lawrence Haddad, Exekutivdirektor der als GAIN (Global Alliance for Improved Nutrition) bekannten NGO. Er möchte eine Initiative für Unternehmen ins Leben rufen, damit diese sich verpflichten. Das ist seiner Meinung nach die Lösung – die Unternehmen sollen sagen: „Wir versprechen, das Ernährungssystem zu verbessern und eine bessere Welt zu schaffen“. Ein weiteres Beispiel: Die Organisatoren des Gipfels haben etwas geschaffen, das als „bereichsübergreifende Hebel (oder Mechanismen) des Wandels“ bezeichnet wird. Was immer das auch bedeuten mag, es soll vier solcher Hebel geben: Finanzen, Innovation und Gender – und sie haben versucht, einen für Menschenrechte zu schaffen, aber das hat nicht funktioniert. Die Finanzkomponente wird von der Weltbank geleitet, die Innovationskomponente vom Weltwirtschaftsforum. Auf diese Weise können sie all ihre Ressourcen bündeln und als „übergreifender Hebel“ Einfluss auf den gesamten Gipfel ausüben. Und sie werden einen Abschlussbericht verfassen, der Einfluss darauf haben wird, was die Menschen über diese Themen denken. Eine weitere Maßnahme des Weltwirtschaftsforums war die Organisation eines Treffens kurz vor der Eröffnung des Gipfels. Dieses Treffen war wie ein Spiegelbild des gesamten Gipfels. An diesem Treffen nahmen alle multinationalen Konzerne teil: Coca Cola, Unilever, Monsanto (oder wie auch immer sie jetzt heißen), Bayer und alle Gipfelverantwortlichen – sie saßen zusammen und gaben den Ton vor dem offiziellen Beginn des Prozesses an. Darüber hinaus ist es schwierig, konkrete Beispiele für die von ihnen vorgeschlagenen Lösungen zu nennen, da drei Wochen vor Beginn des Gipfels niemand wirklich weiß, welche Ergebnisse zu erwarten sind.“

„Null-Hunger-Engagement”. So nennt sich die Initiative der ONG GAIN, auf die sich Fakhri bezieht und die eine der vom Gipfel geförderten Lösungen ist. „Diese Verpflichtung ist eine unverbindliche Erklärung der von den Unternehmen vorgeschlagenen Betriebs- und Investitionspläne. Es ist nicht beabsichtigt, rechtlich durchsetzbare Rechte oder Pflichten für Unternehmen zu begründen“, erklärt GAIN auf seiner Webseite. Zu den wichtigsten Geldgebern der ONG zählen die multinationalen Konzerne BASF, Unilever und Arla Foods sowie die Bill & Melinda Gates-Stiftung und die Rockefeller Foundation.

" Zero Hunger Pledge". So heißt die Initiative von GAIN, der von Fakhri erwähnten NGO, die eine der vom Gipfel geförderten Lösungen ist. "Die Zusage ist eine unverbindliche Erklärung über die von den Unternehmen vorgeschlagenen Tätigkeiten und Investitionspläne. Sie soll keine rechtlich einklagbaren Rechte oder Verpflichtungen für das Unternehmen oder seine Tochtergesellschaften schaffen", erklärt GAIN auf seiner Website. Zu den wichtigsten Geldgebern dieser NRO gehören die multinationalen Unternehmen BASF, Unilever und Arla Foods sowie die Bill and Melinda Gates Foundation und die Rockefeller Foundation.

Die Auswirkungen vor Ort

Welche Auswirkungen wird der Gipfel auf die einfachen Leute, die Arbeiter*innen, die Familien in den ländlichen Regionen, die indigenen Völker haben?

„Die Auswirkungen werden nicht sofort zu sehen sein, und das ist an sich schon ein Problem. Das Fehlen unmittelbarer positiver Auswirkungen während einer Pandemie ist ein Problem. In der Tat wird sich der Gipfel überhaupt nicht mit dem Thema Covid befassen. Vielmehr wird von einer Post-Covid-Welt ausgegangen – in anderen Worten, von einer Fantasie. Das Ziel des Gipfels ist es, die nationalen Regierungen zu beeinflussen. Der größte Teil der Aktivitäten zielt darauf ab, Regierungen dazu zu bringen, allgemeine Pläne für die Umstellung ihrer Ernährungssysteme bekannt zu geben. Der Gipfel wird diese Regierungen mit Investoren und Beratern zusammenbringen, die an der Zusammenarbeit mit Konzernen interessiert sind. Diese Berater werden dann die Regierungen dahingehend beraten, wie sie ihre Ernährungssysteme umstellen können. So werden wir sehen, wie immer mehr Länder Ernährungspläne entwickeln.“

Die meisten Länder haben Agrarpläne, aber keine Ernährungspläne. Nun werden also immer mehr Ernährungspläne auf eine Art und Weise entworfen und umgesetzt, die – wenn man bedenkt, wie die Dinge bisher gelaufen sind – sehr wahrscheinlich die Menschenrechte verletzen wird. Die Auswirkungen vor Ort werden sich in ein paar Jahren zeigen.

In der Zwischenzeit stellt sich die Frage, wie Menschen, die sich für die Menschenrechte einsetzen, ihren Kampf auf internationaler Ebene fortsetzen und dabei gleichzeitig Menschen ermutigen können, auf lokaler Ebene zu protestieren. Wenn nämlich die Regierungen auf nationaler Ebene genügend Druck verspüren, Ernährungspläne auf der Grundlage der Menschenrechte zu erstellen, kann dies den Gipfel neutralisieren. Letztendlich ist es immer die lokale Macht, die am effektivsten ist.“

Sie haben mehrfach behauptet, dass der Gipfel die Pandemie nicht ernst nimmt. Warum glauben Sie, ist das so?

„Ich weiß es nicht. Diese Frage habe ich dem Sekretariat des Gipfels immer wieder gestellt. Ich habe dieses Thema schon vor anderthalb Jahren angesprochen, aber sie haben nicht darauf reagiert. Ich kann mir einen möglichen Grund vorstellen. Die Tatsache, dass sie Covid nicht auf die Tagesordnung gesetzt haben, ohne dies öffentlich zu begründen, zeigt, wie wenig sie mit der Realität zu tun haben, wie weit sie von den unmittelbaren Bedürfnissen der Menschen entfernt sind. Es spricht dafür, dass sie eine Elite sind, die sich den Luxus leisten kann, Covid nicht auf ihre Tagesordnung zu setzen. Denn wenn man den Rest der Welt fragt, wie er mit den Ernährungsproblemen umgeht, muss er sich mit dem Covid befassen – eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Die Tatsache, dass das Gipfeltreffen-Sekretariat der Meinung war, dieses Thema nicht ansprechen zu müssen, zeigt mir, dass es keine Ahnung hat, mit welchen Problemen die Menschen wirklich zu kämpfen haben.“


Gipfel Logo

Wer trägt die Verantwortung für den Hunger?

Sie haben in mehreren Erklärungen und Berichten erklärt, dass der Hunger ein komplexeres Problem ist als die Pandemie und dass es sich nicht um ein Problem der Nahrungsmittelknappheit handelt, sondern um politisches Versagen. Können Sie ein Beispiel für ein solches Versagen nennen?

Hunger ist immer ein politisches Versagen. Und es ist nicht nur die Regierung des Landes, in dem er grassiert. Unsere Ernährungssysteme, selbst die regionalsten, sind Teil der Welt und werden daher von der globalen Wirtschaft beeinflusst. Daher kann es sich um politisches Versagen einer nationalen Regierung handeln, aber auch anderer Länder, die Einfluss ausüben. In diesem Sinne ist Hunger immer ein globales Problem. Und dafür gibt es viele Verantwortliche. Auf globaler Ebene ist dafür das gesamte System der UNO verantwortlich: Die Menschen versuchen, die Regierungen dazu zu bringen, zusammenzukommen und ihre Reaktionen auf die durch die Pandemie verschärfte Ernährungskrise zu koordinieren. Aber einige wenige mächtige Länder weigern sich, dafür multilaterale Foren zu nutzen. Das größte Forum, der Ausschuss der Vereinten Nationen für Welternährungssicherheit, ist der ideale Ort für Regierungen, die Zivilgesellschaft und andere Akteure, sich zusammenzusetzen und Reaktionen auf die Krise zu koordinieren, das ist sehr integrativ. Aber es gibt eine kontinuierliche politische Blockade mächtiger Länder, die nicht mit anderen zusammenarbeiten wollen. Sie wollen die Macht für sich behalten. Dies ist ein Beispiel für politisches Versagen.

„Hunger ist immer ein politisches Versagen. Er ist nicht nur ein Versagen der Regierung des Landes, in dem Hunger auftritt. Unsere Ernährungssysteme, selbst die lokalsten, sind Teil der Welt, und als solche werden sie von der Weltwirtschaft beeinflusst. Folglich kann das politische Versagen, das den Hunger verursacht, auch ein Versagen anderer Länder sein, die Einfluss auf das Land haben, das unter Hunger leidet. In diesem Sinne ist Hunger immer ein weltweites Problem, und es gibt viele Akteure, die die Verantwortung dafür tragen. Auf weltweiter Ebene ist das gesamte UN-System verantwortlich. Man versucht, die Regierungen dazu zu bringen, sich zusammenzuschließen und ihre Antworten auf die durch die Pandemie verschärfte Nahrungsmittelkrise zu koordinieren, aber eine kleine Anzahl mächtiger Länder weigert sich, die multilateralen Foren dafür zu nutzen. Das größte Forum, der UN-Ausschuss für Welternährungssicherheit, ist das ideale Instrument für Regierungen, Zivilgesellschaft und andere Gremien, sich an einen Tisch zu setzen und die Antworten auf die Krise zu koordinieren; es ist in hohem Maße inklusiv. Allerdings wird dies durch eine anhaltende politische Blockade seitens der mächtigen Länder verhindert, die nicht mit anderen zusammenarbeiten wollen. Sie wollen die Macht für sich behalten. Dies ist ein Beispiel für politisches Versagen.“

Inwieweit sind multinationale Agrarkonzerne für den Hunger verantwortlich?

„Zwischen 1960 und heute ist die Nahrungsmittelproduktion um 300 % gestiegen – und trotzdem hat der Hunger zugenommen. Die Agrarindustrie hat sich darauf konzentriert, mehr und mehr und mehr Nahrungsmittel zu produzieren, und dabei Fragen wie diese ignoriert: Wie werden diese Nahrungsmittel produziert? Welchen Schaden könnte sie anrichten? Mit ihrem wachsenden Einfluss auf die Ernährungssysteme haben sie den Einsatz von Pestiziden, genetisch verändertem Saatgut und Monokulturen gefördert. Sie haben zur Verringerung der Artenvielfalt beigetragen, die nicht nur eines der Hauptprobleme der heutigen Nahrungsmittelsysteme ist, sondern auch eines der Hauptprobleme des Klimawandels. Und das alles nur, weil ihr Hauptaugenmerk auf Profiten und der Konsolidierung ihrer Macht liegt. Jetzt versuchen sie, sich anzupassen, um „nachhaltiger“ zu werden, wie sie es nennen. Aber es gibt keinen Grund zu erwarten, dass sie das Problem lösen werden.

Letztlich ist das Problem nicht, was diese Leute tun, sondern ihre Macht – und wer die Macht hat. Wenn man nur einer kleinen Gruppe von Menschen Macht gibt, werden sie in keiner Situation gute Arbeit leisten. Liegt die Macht in den Händen der Bürger*innen, so wissen diese, was sie brauchen – sie wissen es besser als alle anderen. Sie sind in der Lage, sich an ihre jeweiligen Kontexte und Ökosysteme anzupassen.

Es ist schwierig, Menschen dazu zu bringen, zusammenzuarbeiten und zu kooperieren. Aber das ist immer ein Problem in einer Demokratie, ein gutes Problem. Ein schlechtes Problem ist der Umgang mit konzentrierter Macht. Denn diejenigen, die sie konzentrieren, sind von der Realität abgekoppelt. Das ist das größte Problem. Der Gipfel spiegelt also viele der aktuellen Probleme der Ernährungssysteme im Allgemeinen wider.“

Mögliche Wege des Widerstands

Was halten Sie von dem Gegengipfel „Food Systems for People“, der von sozialen Aktivist*innen und Bewegungen organisiert wurde, die den Gipfel für seine Ausrichtung auf die Agenda der multinationalen Konzerne kritisieren?

„Es ist inspirierend: Diese Gruppen haben sich zusammengetan, sie repräsentieren Millionen von Menschen, sie denken nicht alle gleich, und sie haben sogar gegensätzliche Positionen zu einigen Dingen. Aber sie waren in der Lage, zu verhandeln, ihre Differenzen zu überwinden und in Solidarität eine gemeinsame Basis zu finden. Dieser Geist der Solidarität sollte auch für die nationalen Regierungen eine Inspiration sein. Denn wenn die Menschen dies aus eigener Kraft erreichen können, sollten auch die Regierungen in der Lage sein, sich zusammenzuschließen, ihre Differenzen zu überwinden und den Bedürfnissen der Menschen zu dienen. Diese Gegenmobilisierung, die die Menschen unter unglaublich schwierigen Umständen mitten in einer Pandemie durchführen, ist für mich eine Inspiration.“

Welche Schritte würden Sie als Berichterstatter vorschlagen, um die Probleme der Welt mit den Lebensmittelsystemen zu lösen?

„Zunächst einmal: dass die Menschen sich engagieren, wenn sie es nicht schon tun. In jeder Stadt, jeder Gemeinschaft und jedem Land gibt es Souveränitätsbewegungen, Bewegungen für Ernährungsgerechtigkeit, Bauernorganisationen, Gewerkschaften, Genossenschaften. Je mehr Menschen sich aktiv an den lokalen Kämpfen beteiligen, desto besser. Was die Regierungen betrifft: Sie müssen versuchen, eine Führungsrolle zu übernehmen. Wir brauchen nur eine kleine Gruppe von Regierungen, die sich zusammenschließen und Druck auf die Agenda der multinationalen Konzerne ausüben. Sie müssen die Nahrungsmittelsysteme verteidigen und die Menschenrechte achten. Es gibt Regierungen, die dazu in der Lage sind, aber alle warten darauf, dass jemand anderes den ersten Schritt macht. Ich denke, dass die Hoffnung besteht, diese Länder zusammenzubringen, um eine Art Koalition zu bilden, die andere inspirieren und anführen wird. Aus der Erfahrung meiner Arbeit weiß ich, dass die meisten Regierungen die Dinge richtig machen wollen. Aber auch hier gibt es eine kleine Clique der Mächtigen, die alles blockiert. Das System der Vereinten Nationen hat sowohl Stärken als auch Schwächen. Eine seiner Stärken besteht darin, dass eine Mehrheit von Ländern die Tagesordnung positiv beeinflussen kann, wenn sie sich zusammentut. Das hat in der Vergangenheit funktioniert, und es kann wieder funktionieren. Der dritte Vorschlag, den ich machen möchte, ist der Aufbau neuer Beziehungen zwischen den Menschen. Veränderungen ergeben sich durch das Entstehen neuer Beziehungen und Freundschaften. Ein Beispiel, das mich in dieser Hinsicht inspiriert hat, sind die Bewegungen in Indien. Sie wurden von Bauernorganisationen angeführt, die für ihre Menschenrechte kämpften. Und dann haben sich die Arbeiter*innen und die Gewerkschaften solidarisch mit ihnen zusammengeschlossen. Bäuer*innen und Arbeiter*innen kommen nicht immer gut miteinander aus – das Verhältnis ist kompliziert. Aber in diesem Fall konnten sie ein neues Band knüpfen. Ich denke also, dass neue Beziehungen zu einer neuen Politik und neuen Ideen führen, und genau das ist der Weg zum Wandel.“

In Südamerika herrscht seit mehr als drei Jahrzehnten das Agrarindustriemodell, das gentechnisch veränderte Pflanzen, Agrotoxine und Landkonzentration miteinander verbindet. Auch die Regierungen fördern dies weiterhin als eine Form der Entwicklung. Was ist Ihre Meinung dazu?

„Es besteht eine Diskrepanz zwischen der Ernährungs- und der Handelspolitik, was sich auf die Bodennutzung der Länder auswirkt. Wenn ein Land in erster Linie auf den Export ausgerichtet ist, so fördert es einen Ansatz, bei dem das Land auf die Produktion von Rohstoffen und nicht von Nahrungsmitteln ausgerichtet ist. Dies entspricht einem Entwicklungsmodell, das darauf abzielt, Waren zu produzieren – als ob wir eine Fabrik wären -, sie an den internationalen Markt zu verkaufen, dafür Geld zu erhalten, dieses Geld wieder in das Land zu investieren und es dann für eine bessere Ernährung und eine höhere Lebensqualität zu verwenden. Dies ist ein Wirtschaftsmodell aus den 1950er Jahren – es wurde in der ganzen Welt umgesetzt. Wir haben vor allem in den südlichen Ländern gesehen, dass die Neuausrichtung des Agrarsektors auf den Export in dreifacher Hinsicht Wirkung gezeigt hat. Erstens ist die biologische Vielfalt zurückgegangen, was sich sowohl auf die Umwelt als auch auf die menschliche Gesundheit, die physische Gesundheit, auswirkt. Zweitens hat diese Neuausrichtung auf den Export die sozioökonomischen Bedingungen nicht verbessert: nur eine kleine Gruppe von Reichen ist reicher geworden. Dies zeigt sich auch in der Welthandelsorganisation: Die Entwicklungsländer sind mit der internationalen Handelspolitik nicht zufrieden. Das dritte Ergebnis ist die Schaffung von Ernährungsunsicherheit in den betroffenen Ländern: Sie exportieren Lebensmittel, sie importieren Geld, aber die Menschen hungern. Das ist absurd. Sie haben einen Agrarsektor, der Nahrungsmittel ins Ausland verschifft, während die Bevölkerung vor der Haustür hungert. Es gibt kein Land, in dem das Ernährungssystem gut mit dem Handelssystem verknüpft ist. Südamerika könnte ein guter Ort sein, dies zu tun. Dort gibt es Landwirtschaft, es gibt eine Geschichte von Bürgerbewegungen, und der Handel war dort immer ein Thema, mehr als in anderen Regionen.“

Investitionen in die Agrarökologie

Sowohl Sie als auch frühere Berichterstatter schlagen die Agrarökologie als eine der Lösungen für die Nahrungsmittelkrise vor. Was entgegnen Sie denen, die behaupten, die Agrarökologie sei eine Sache der Vergangenheit, etwas Primitives?

„Die Agrarökologie basiert auf langjährigen Traditionen des Nahrungsmittelanbaus. Sie stützt sich auf das Wissen und die Kompetenz der Menschen, die die Arbeit tatsächlich verrichten: Bäuer*innen, Fischer*innen, Hirt*innen und andere. Sie ist in bestimmten Traditionen verwurzelt, aber gleichzeitig dynamisch. Und sie ist zukunftsorientiert. Die Welt, in der wir heute leben, begann 1970, als die Grüne Revolution einsetzte und die Korporatisierung der Landwirtschaft in großem Stil begann. Das ist ein junges Phänomen, aber sehen Sie sich die Zerstörung an, die es in nur 50 Jahren verursacht hat. Die Agrarökologie ist also insofern neu, als wir uns weltweit noch nicht dazu verpflichtet haben, unsere Ernährungspolitik bewusst so zu gestalten, dass sie mit ökologischen Prozessen im Einklang steht. Agrarökologie hat zwar eine Geschichte, aber alles hat eine Geschichte. Die Agrarindustrie ist ein Teil der Geschichte der industriellen Tätigkeit. Sie haben die Landwirtschaft mit der Geschichte der Fabriken und der Industrie verknüpft. Es war nicht nur irgendein technologischer Fortschritt – es war ein Fortschritt, der darauf abzielte, Rohstoffe zu produzieren, um Gewinne zu erzielen. Lassen Sie uns die Landwirtschaft zurückführen in die Tradition des lokalen Wissens und der Kompetenz – der Bäuer*innen, der indigenen Völker. Aber auch hier geht es um eine neue, an die heutige Zeit angepasste Tradition. Wir müssen neue Technologien entwickeln, Geld, wissenschaftliches Know-how, Bildung und dergleichen investieren, und das Ergebnis wird etwas Neues sein. Die Agrarökologie verfügt über Techniken, die sich bewährt haben. Aufgrund des Klimawandels verändern sich die Ökosysteme in einem sehr schnellen Tempo. In diesem Sinne ist die Agrarökologie per Definition modern, denn sie ist eine direkte Reaktion auf ein für uns neues Ökosystem. Sie ist dynamischer und widerstandsfähiger als die industrielle Landwirtschaft.“

In Ihrem letzten Bericht haben Sie die Notwendigkeit von Investitionen in die Agrarökologie betont.

„Die Investitionen müssen auf das ausgerichtet sein, was mit den Menschenrechten und den ökologischen Belangen in Einklang steht; die Macht muss in die Hände der Menschen gelegt werden. Es wird nicht genug in die Agrarökologie investiert. Durch meine Arbeit habe ich gesehen, dass viele Regierungen interessiert sind. Viele Regierungen wollen diesen Wandel vollziehen, und es geht fast nur darum, wie schnell sie ihn vollziehen wollen. Das ist die Frage, wirklich. Ich denke, das Problem mit der Agrarökologie ist, dass die Agrarindustrie versucht, zwei Dinge gleichzeitig zu tun: einerseits zu sagen, dass Agrarökologie irrelevant oder nicht produktiv ist, und andererseits zu sagen: ‚Ah, aber wir können selbst Agrarökologie betreiben.‘ Sie definieren den Begriff um, um ihre eigenen Ziele zu erreichen, und das schafft Verwirrung. Aber ich denke, je klarer wir die Situation einschätzen, desto mehr Regierungen werden sich engagieren und in die Agrarökologie investieren, und desto schneller wird sich der Wandel vollziehen. Die Lösung wird entwickelt, ich wünschte nur, es würde schneller gehen.“