April 1, 2021

Das Internationale Jahr des Friedens und des Vertrauens

Eva Wuchold

Es braucht eine globale Bewegung für Frieden auf allen Ebenen


Die Vereinten Nationen (UN) haben das Jahr 2021 zum Internationalen Jahr des Friedens und des Vertrauens erklärt. Ziel soll es sein, die UN-Charta und ihrer Ziele und Grundsätze zu bekräftigen, und dabei vor allem die Verpflichtung in Erinnerung zu rufen, Streitigkeiten mit friedlichen Mitteln beizulegen, um dadurch nachfolgende Generationen vor der, so wörtlich, „Geißel des Krieges“ zu bewahren. Im Beschluss der Generalversammlung vom 12.09.2019 heißt es außerdem, dass die Ausrufung des Jahres in Anerkennung der wichtigen Rolle der Vereinten Nationen bei der Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Nationen geschehe und in der Erkenntnis, dass der Ansatz des Multilateralismus und der Diplomatie die drei Säulen der Vereinten Nationen, nämlich nachhaltige Entwicklung, Frieden und Sicherheit sowie Menschenrechte, fördere.


Pistolen Skulptur vor dem Hauptgebaeude der Vereinten Nationen, UN, in New York. 02/2009 © Ilja C. Hendel

Vor dem Hintergrund, dass die Vereinten Nationen bestimmte Tage, Wochen, Jahre und Jahrzehnte als Anlässe bezeichnen, um bestimmte Ereignisse oder Themen zu markieren, die durch Bewusstsein und Aktion die Ziele der Organisation und ihrer Unterorganisationen fördern sollen, klingt das Jahr des Friedens und Vertrauens zunächst sehr einleuchtend. Gleich im ersten Kapitel der UN-Charta, in dem die zentralen Ziele der Vereinten Nationen aufgelistet sind, heißt es schließlich, dass die Vereinten Nationen maßgeblich dazu beitragen sollen, den Weltfrieden und internationale Sicherheit zu wahren, in dem sie Konflikten vorbeugen, Konfliktparteien helfen, Frieden zu schließen, Frieden sichern und Bedingungen schaffen, unter denen der Frieden bestehen kann. Gerade jedoch der Verweis auf die Erklärung und das Aktionsprogramm für eine Kultur des Friedens von 1999, welches die Dekade für eine Kultur der Gewaltfreiheit und des Friedens für die Kinder der Welt 2001–2010 einläutete, wirft Fragen auf. Zwar sind im Zeitraum 2001–2010 vor allem über Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) zahlreiche friedenspädagogische Projekte ins Leben gerufen oder finanziert worden. Das angestrebte Mainstreaming der Kultur des Friedens und eine globale Bewegung für Frieden und Gewaltfreiheit jedoch rückte in noch weitere Ferne als zuvor.

Stattdessen begannen in dieser Dekade des Friedens eine Reihe von Kriegen, die bis heute fortwirken. Im Herbst 2001 wurde – als Reaktion auf die Angriffe auf das World Trade Center in New York – der sogenannte „Krieg gegen den Terror“ eingeleitet, die jüngste Phase des seit 1978 andauernden Krieges in Afghanistan, die mit der von den USA geführten Intervention (Operation Enduring Freedom) begann. Im Nahen Osten begann 2003 der zweite Irakkrieg, eine Militäroperation der USA, Großbritanniens und einer „Koalition der Willigen“ zum Sturz Saddam Husseins, die in die Besetzung des Irak 2003–2011 zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führte, 2004 der Bürgerkrieg im Jemen und 2006 der Libanonkrieg. Auf dem afrikanischen Kontinent fand der Bürgerkrieg im Tschad (2005–2010) und der Bürgerkrieg in der Elfenbeinküste (2002–2007) statt, in Asien der Bürgerkrieg in Sri Lanka (2007) und der Kaukasuskrieg (2008), um nur einige zu nennen. Von dem darauffolgenden Jahrzehnt mit den Bürgerkriegen und neuen internationalen Militäreinsätzen in Libyen, Syrien und dem Irak, dem Krieg in der Ostukraine, der Fortsetzung des Jemenkriegs, dem Bürgerkrieg im Süd Sudan und einer immer weniger in Erscheinung tretenden Friedensbewegung ganz zu schweigen.

Die Dekade des Friedens liegt lange hinter uns. Wie aber sieht es im Jahr 2021, dem erklärten Jahr des Friedens und Vertrauens aus mit dieser „Kultur des Friedens“, von der die Vereinten Nationen bereits seit Anfang der 2000er Jahre sprechen? Über 60 Prozent der derzeitigen bewaffneten Konflikte bestehen bereits seit mehr als zehn Jahren, so die Analyse des International Institute for Strategic Studies IISS in seinem Armed Conflict Survey. Dem Krieg in Afghanistan fielen laut UN 2019 für das sechste Jahr in Folge mehr als 10.000 Menschen zum Opfer. Für den Krieg in Jemen errechnete das Projekt „Armed Conflict Location and Event Data“, das bestätigte Todesfälle in dem Konflikt verfolgt und als zuverlässig gilt, dass im Jahr 2020 20.000 Menschen getötet wurden, was es zum zweittödlichsten Jahr des Krieges nach 2018 macht. Im syrischen Bürgerkrieg wurden seit 2011 laut dem Syrian Observatory for Human Rights 593.000 Menschen getötet, 7-8.000 Menschen allein ein 2020. Hinzu kommen weitere 12 Konflikte, in denen Kriegshandlungen mindestens 1.000 bis 10.000 Todesopfer verursacht haben, so das Upsalla Conflict Data Program.

Es ist klar, dass ein Jahr des Friedens und Vertrauens, wenn es seinem Namen gerecht werden möchte, ebenso wie die Durchsetzung einer Kultur des Friedens eines politischen Programms bedarf, das die Problemstellungen benennt und konkrete Handlungsempfehlungen ausspricht und im besten Fall auch durchsetzt. In seiner Ansprache an der Columbia University zum Zustand des Planeten am 2. Dezember 2020 hat UN-Generalsekretär António Guterres die die Herausforderungen, vor denen die Weltgemeinschaft steht, aufgezeigt, und das mit ungewohnt deutlichen Worten. Er sprach von einem „Krieg gegen die Natur“, den die Menschheit führe, der „selbstmörderisch“, sei. Und auch andere Prognosen sind wenig rosig. Der Internationale Währungsfonds spricht in Bezug auf 2020 aufgrund der COVID19-Pandemie und den damit verbundenen Lockdowns vom schlimmsten Wirtschaftsabschwung seit der Großen Depression. Bereits 2019 prognostizierten die Vereinten Nationen, dass im Jahr 2020 weltweit fast 168 Millionen Menschen humanitäre Hilfe und Schutz benötigen werden, was etwa einem von 45 Menschen entspricht und die höchste Zahl seit Jahrzehnten ist. Ebenfalls 2019 gingen die Vereinten Nationen mit Analysen an die Öffentlichkeit, dass der Klimawandel die Schwächsten am stärksten treffen wird und in armen Ländern, Regionen und an den Orten, an denen arme Menschen leben und arbeiten, die größten Auswirkungen haben und bis 2030 mehr als 120 Millionen Menschen in die Armut treiben wird. Ebenfalls 2019 zeigte eine Studie im Fachmagazin Nature unter Leitung der Stanford Universität und mit Beteiligung der Universität Hamburg auf, dass das Konfliktrisiko durch den Klimawandel um ein Mehrfaches zunehmen könnte. In einem Szenario mit vier Grad Erwärmung (wenn die Emissionen von Treibhausgasen nicht radikal reduziert werden) könnte das Risiko für bewaffnete Konflikte im Mittel um 26 Prozent gegenüber einer Welt ohne menschengemachten Klimawandel steigen. Damit wäre das zusätzliche Konfliktrisiko durch Klimawandel etwa fünfmal so hoch wie das im letzten Jahrhundert.

Das gegenwärtige internationale Regelwerk ist gegen derartige Entwicklungen nicht gewappnet. Und die alten Handlungsmuster – wie die Erhöhung der Militärausgaben bei einer Erhöhung von Konfliktrisiken – werden für zukünftige Konflikte noch weniger greifen als bisher. Eine globale Umfrage der Vereinten Nationen zu ihrem 75jährigen Jubiläum im vergangenen Jahr ergab, dass 87 Prozent der Befragten glauben, dass die globale Zusammenarbeit für die Bewältigung der heutigen Herausforderungen von entscheidender Bedeutung ist. 75 Jahre nach ihrer Gründung glauben sechs von zehn Befragten, dass die Vereinten Nationen die Welt zu einem besseren Ort gemacht haben. Mit Blick auf die Zukunft sehen 74 Prozent die Vereinten Nationen als „unentbehrlich“ für die Bewältigung der globalen Herausforderungen an. Eine Großzahl der Befragten erwartete aber auch, dass sich die Vereinten Nationen ändern und innovativer werden. Dies muss angesichts der Ignoranz oder des Rückzugs von Staaten aus internationalen Verträgen, der Missachtung festgelegter Regeln und stärker werdender rechter Bewegungen nicht nur für die Vereinten Nationen, sondern für die internationale Staatengemeinschaft insgesamt gelten.

Rosa Luxemburg verwies bereits 1915 in Anbetracht des Ersten Weltkriegs in ihren heimlich im Gefängnis verfassten Junius-Thesen, darauf, dass der Weltfrieden nicht gesichert werden kann „durch utopische oder im Grunde reaktionäre Pläne wie internationale Schiedsgerichte kapitalistischer Diplomaten, diplomatische Abmachungen über ‚Abrüstung‘ […], ‚europäische Staatenbündnisse‘, ‚mitteleuropäische Zollvereine‘, nationale Pufferstaaten und dergleichen“ *. Die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung war sicherlich ein Anfang zur Lösung der Probleme der Welt. Die Herausforderungen sind allerdings jetzt schon so groß, dass die internationale Staatengemeinschaft es dabei nicht wird belassen können. Die International Crisis Group hat in ihrer Liste der zehn Konflikte, die 2021 zu beobachten sind, neben den Konflikten in Afghanistan, Äthiopien, der Sahelzone, dem Jemen, Venezuela, Somalia, Libyen, Iran-USA, Russland-Türkei als zehnten Konflikt auch den Klimawandel aufgenommen. Es wird Aufgabe zukünftiger Politik sein, die einzelnen Konflikte und Konfliktszenarien klar zu benennen, sie ins Verhältnis zueinander zu setzen und gemeinsame Lösungswege aufzuzeigen, die so konkret, kurzfristig, weitreichend und verbindlich sind, dass sie tatsächlich in der Lage sind, den Lauf der Dinge nachhaltig beeinflussen. Dies wird sowohl neuer, verbindlicher internationaler Normen und Regeln für deren Umsetzung bedürfen als auch wirksamer Sanktionsmechanismen bei deren Missachtung. Was es ebenso benötigt ist ein tatsächliches Mainstreaming der Kultur des Friedens, wie es schon in der Dekade des Friedens angelegt war, durch die Förderung von Bildung für alle, insbesondere für Mädchen; Überarbeitung der Lehrpläne zur Förderung qualitativer Werte, Einstellungen und Verhaltensweisen, die einer Kultur des Friedens innewohnen. Und es braucht eine tatsächliche globale Bewegung für Frieden auf allen Ebenen, die Themen und damit auch Kräfte bündelt und so Druck aufbauen kann. Nur dann wird die Menschheit überhaupt noch eine Chance haben, die riesigen Herausforderungen, die uns bevorstehen, zu bewältigen, und nur dann wird ein Internationales Jahr des Friedens und des Vertrauens auch tatsächlich zu einem solchen.

Eva Wuchold leitet das Programm Soziale Rechte der Rosa-Luxemburg-Stiftung im RLS-Büro in Genf. Sie ist studierte Politik- und Friedenswissenschaftlerin und begann ihre berufliche Karriere als Referentin für Friedensfragen.

* Rosa Luxemburg 1916: Die Krise der Sozialdemokratie, Entwurf zu den Junius-Thesen, in: GW 4, Berlin, 43–47.