Oktober 10, 2019

Das Problem auf unserem Teller

Tom Strohschneider

Landraub, Flucht, Ausbeutung: Die Art, wie wir Nahrung produzieren, hat viel mit Migration zu tun. Und sie hält den kapitalistischen Verhältnissen insgesamt den Spiegel vor


Wanderarbeitskräfte in der Landwirtschaft. Foto: Bob Jagendorf, CC BY-NC 2.0

Über 820 Millionen Menschen leiden weltweit an Hunger. Laut einer aktuellen Studie sind dies 17 Millionen mehr als 2016 – trotz vieler Verbesserungen hat sich die Lage mancherorts noch weiter verschlechtert. Nackte Zahlen über nacktes Elend.

Ähnliche Zahlen machen immer wieder Schlagzeilen, Appelle folgen. Seit ein paar Jahren gehört auch der Hinweis auf die Fluchtursachen dazu, die bekämpft werden sollen. Meist ist von Kriegen, Armut, Verfolgung die Rede. Nicht selten gerät aus dem Blick, dass ein Faktor, der Menschen ihrer Lebensgrundlagen beraubt, täglich auf unseren Tellern liegt.

Laut einer Schätzung der UN-Ernährungsorganisation FAO wurden infolge der Liberalisierung des weltweiten Agrarhandels allein in 16 Staaten des Südens bisher bis zu 30 Millionen Menschen von ihrem Land vertrieben. Die globale Deregulierung war Antreiber eines Nahrungsregimes, das soziale, ökonomische und ökologische Verhältnisse drastisch umkrempelte: Aus südlichen Ländern, die überschüssige Nahrungsgüter exportierten, wurden Staaten, die sich für Agrarimporte stark verschulden müssen. Im globalen Norden wurden im Gegenzug industrielle Agrarmodelle perfektioniert und exportiert, die den Landraub verschärften.

Es ist der Siegeszug eines Produktionsmodells, das auch den Klimawandel anheizt: Verwüstung, Wassermangel und andere Schäden vertreiben weitere Menschen. 2015 prognostizierte eine Studie, dass in den kommenden 10 Jahren bis zu 50 Millionen Menschen von der Entwertung landwirtschaftlicher und an-derer Flächen betroffen sind. Andere Experten sprechen von bis zu 100 Millionen – vor allem Kleinbauern, die so ihrer Existenzgrundlage beraubt werden. Im Norden hätten die meisten von ihnen nicht einmal Asyl zu erwarten: Sie sind von der „falschen Fluchtursache“ bedroht. Und was ist mit Entwicklungshilfe? Auch hier dominiert die Idee, ein Ernährungs-regime weltweit zu etablieren, das selbst erst einen Teil der Probleme schafft, die angeblich gelöst werden sollen.

Es geht um ein ganzes System der Nahrungsproduktion: von subventionierten Agrarprodukten, die in Afrika zu Dumpingpreisen angeboten werden, über die Spekulation mit Nahrungsmitteln und Eigentumstiteln an fruchtbarem Land bis zur Erzeugung von Biokraftstoff statt Lebensmitteln. Die Art, wie wir essen, wie Nahrung produziert wird, hält den kapitalistischen Verhältnissen insgesamt den Spiegel vor.

Und es mangelt keineswegs an Wissen darüber. Das gegenwärtige Nahrungsregime folgt auf zwei historische Formationen und es lässt sich daran die Verwobenheit der weltweiten Agrarproduktion mit der Entwicklung des globalen Kapitalismus ganz gut zeigen.

Zunächst ging es zwischen 1870 und 1930 in erster Linie darum, billige Lebensmittel aus außereuropäischen Kolonien für die wachsende Industriearbeiterschaft vor allem in Europa zu garantieren – auch ein Mittel, deren Protestpotenzial einzudämmen. Später, vor allem in den 1950er bis 1970er Jahren, verlagerten sich die Handelsbeziehungen: Nicht mehr die Peripherie versorgte die Zentren mit Überschüssen, sondern vor allem die USA exportierten ihre in den Süden. Grundlage dafür war die enorm gewachsene Produktivität eines nun immer mehr fossile Energie verbrauchenden Agrarsystems. Nahrung wurde „angesichts von Entkolonialisierung und Kaltem Krieg als ökonomische und politische Waffe“ eingesetzt, wie das Fridolin Krausmann und Ernst Langthaler einmal beschrieben haben. Die Folge: neokoloniale Abhängigkeiten, die weltweit in immer mehr Gebieten die Ernährungssouveränität untergruben, also die Chance von Menschen, selbst über ihr Essen und die dazu notwendige Produktion zu entscheiden. Mit dem 1995 in der Welthandelsorganisation WTO verabschiedeten „Agreement on Agriculture“ setzt sich dann das dritte, heute dominierende Nahrungsregime durch: Die Deregulierung der Weltagrarmärkte benachteiligte vor allem die kleinbäuerlichen Nah-rungsproduzenten in allen Teilen der Welt.

Aber braucht man nicht moderne Methoden, industrielle Landwirtschaft, weltweit frei-en Handel mit deren Produkten, um die Nahrungsversorgung überhaupt zu garantieren? Das Gegenteil ist der Fall: Man muss ein Ernährungsregime, das von Lebensmittelverschwen-dung im Norden und Hunger im Süden geprägt ist, das „zugleich die Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter“, radikal ändern, damit es eine wachsende Welt-bevölkerung nachhaltig ernähren kann.

Der eingangs zitierte Bericht der Welthungerhilfe hat ein Schlaglicht auch auf die Nahrungsunsicherheit von Menschen gelegt, die auf der Flucht sind. Warum fliehen sie? Viele haben ihre Heimat verlassen, weil sie der Möglichkeiten beraubt wurden, selbstbestimmt für das Essen auf dem Teller und ein Auskommen zu sorgen. Was ist ihr Schicksal? Nicht wenige von denen, die sich deshalb auf die gefährliche Passage nach Europa machen müssen, finden sich als Sklaven des Agrarkapitalismus wieder: Ausgebeutet als Erntearbeiter in einem System, in dem Dumpingpreise von Lebensmitteln nicht nur von der Marktmacht einiger weniger Handelskonzerne künden, sondern auch die andere Seite einer Ver-teilungsrealität sind, die vielen Menschen kaum genug Einkommen bietet, sich ökologischer, gesünder zu ernähren.

Auf vielfache Weise hängen so Lebenschancen im globalen Süden mit Lebensrealitäten im globalen Norden zusammen. Es überlagern sich auch unterschiedliche Fronten der Auseinandersetzung: die um demokratische Produktion mit der um eine gerechte Klimapolitik und um neue soziale Solidarität; die um den Ausstieg aus der Zerstörung natürlicher Lebensgrundlagen mit der um persönliche Freiheit und Demokratie.

„Wacht auf, Verdammte dieser Erde, die stets man noch zum Hungern zwingt“, mit diesen Worten beginnt die „Internationale“. Frantz Fanon hat die Redewendung in seinem antikolonialen Manifest aufgegriffen. Es sei die Aufgabe des globalen Südens, heißt es darin, „die Probleme zu lösen, die dieses Europa nicht hat lösen können“. Die sich bildenden Netzwerke der Ernährungssouveränität und des Widerstands gegen den Agrarkapitalis-mus folgen diesem Ruf. Und der Norden? So sehr Alternativen zum gegenwärtigen Agrarkapitalismus auch eine Frage des Konsums sind, so wird man nicht substanziell voran-kommen, solange die Frage der Produktion unbeantwortet bleibt. Die immer mächtigeren Konzerne, welche die Wertschöpfungsketten beherrschen, haben kein Interesse an einem Kurswechsel. Der muss von unten kommen. Man darf sich über die Schwierigkeiten und Widersprüche dabei keine Illusionen machen. Man muss es trotzdem angehen. Gemeinsam.

Tom Strohschneider ist Mitherausgeber von maldekstra, der zweimonatlich erscheinenden Zeitschrift des Centre for International Dialogue. Dieser Artikel erschien ursprünglich in maldekstra #1.