Februar 12, 2021

Dazugehörig

Rachid Boutayeb

Die westliche Kultur enthält Spuren eines kalten Rationalismus und einen nach innen gerichteten Chauvinismus, der das Heimatland erhöht und Außenstehende mit fremdenfeindlichem Misstrauen betrachtet. Dies taugt nicht für eine moderne Gesellschaft, in der Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund in Nachbarschaft leben. Stattdessen brauchen wir eine Ethik, die Fremde willkommen heißt.


Rachid Boutayeb ist Professor für moderne Philoso-phie am Doha-Institut. Er forscht zu Andersartigkeit, Beziehungen zwischen dem Islam und dem Westen und zur Sozialphilosophie.

Der Artikel wurde im Reader zum Atlas der Staatenlosen auf Deutsch, Englisch und Französisch veröffentlicht.


Wir sind alle Ausländer – richtet sich diese Aufschrift an der Wand einer deutschen Universität an die Leute im Allgemeinen, an Leute, die diesen Menschen gegenüber oft genug misstrauisch sind? Oder richtet sie sich an Studierende im Besonderen? Oder an Philosophierende, die von einer besseren Welt träumen?

Die „überflüssigen Menschen“ der Moderne, die „moralische Panikmache“ und die „Politik der Absicherung“, von denen der Soziologe Zygmunt Bauman sprach,[1] sind eng miteinander verwoben. Doch die Politik auf Stimmenfang und die Medien im Panikmodus interessieren sich nicht für solche Diagnosen; sie haben bereits einen Schuldigen gefunden, nämlich – wie immer – die Ausländer*innen. Heute sind es vor allem die Menschen islamischen Glaubens, denen diese Rolle zugewiesen wird. Die Paranoia gegenüber dem Islam ist die große Lüge im neoliberalen Diskurs. Schon Hannah Arendt meinte dazu, die politische Lüge sei in der Moderne „vollständig und endgültig“ geworden.

Diese Industrie der Angst basiert auf Ideen oder vielmehr Vorurteilen, die zu einem großen Teil noch aus dem Mittelalter und dem Zeitalter der Aufklärung stammen. Sie beherrscht nach wie vor die Verbindungen zwischen dem Westen und dem Islam, allem Erkenntniszuwachs zum Trotz. Schließlich ist der Islam schon seit der Spätantike ein fester Bestandteil der westlichen Kultur und Geschichte. Indem er ihn wegstößt, bestätigt der Westen lediglich die Präsenz des Islam, zumindest als etwas Unverständliches und Fremdes. Da der Islam bekanntlich politisch instrumentalisiert und in seinem Namen eine blutige Ideologie vertreten wird, ist diese Angst durchaus nachvollziehbar. Gleichwohl wird sie im Westen und anderswo ausgenutzt. Anstatt die Instrumentalisierung des Islam abzulehnen, geben wir uns mit der Schuldzuweisung an die Kultur zufrieden. Mit der Verurteilung des Islam verurteilt die westliche Moderne jedoch nur sich selbst.

Die Debatte über die angeblichen Integrationsprobleme von Muslim*innen scheint daher der falsche Ansatz zu sein. Mag sein, dass sich manche im Namen eines illusorischen Zugehörigkeitsgefühls selbst gettoisieren, während ihre etwaigen Verfehlungen in den Medien unverhältnismäßige Aufmerksamkeit erregen. Doch wird im politischen und medialen Diskurs in Ländern wie Deutschland und Frankreich übersehen, dass wir es dabei nicht mit Religion, sondern mit Religiosität zu tun haben. Diese Religiosität hängt zusammen mit den Erfahrungen der Marginalisierung und Ablehnung, ja auch mit sozialer Unsichtbarkeit, um es mit dem Philosophen Axel Honneth zu sagen.[2]

Immanuel Kant hatte seinerzeit dem Judentum „Unfreiheit“ unterstellt. Viele zeitgenössische Denker wie Peter Sloterdijk behaupten gar, es sei unmöglich, dem Islam anzugehören und gleichzeitig Bürger*in einer Demokratie zu sein. Hegelianische Philosophie „reist nicht“ und wird dennoch von dem starken Bedürfnis getrieben, über andere zu urteilen. Wie ein Kind versucht sie, das Gegenüber zu beherrschen, es zu zivilisieren und zu vollständigem Gehorsam zu bringen. Die kühle Vernunft unterscheidet sich in ihrer Missachtung der interkulturellen Beziehungen nicht von einem solchen Intellektualismus, in dem (wie Emmanuel Levinas gezeigt hat) sich Sinngebung auf „Inhalte, die zu Be-wusstsein kommen“, beschränkt.[3]

Mein Vorschlag stellt eine Alternative zu einem Zugehörigkeitsgefühl dar, das andere Menschen angreift, sie zu assimilieren und auf diese Weise selbst unverän-dert zu bleiben versucht. Anstelle dessen schlage ich eine „Rationalität der Nachbarschaft“ vor, eine Ethik des Mitgefühls und der Toleranz gegenüber Mehrdeutigkeiten. Es handelt sich um eine Rationalität, die sich bewusst der Sprache der Spontaneität, Empathie und Kooperation bedient. Sie tritt, anders gesagt, der Über-bewertung des kognitiven, abstrakten Denkens entgegen und setzt ein Zeichen gegen die Machtausweitung und die grausame Ablehnung anderer. Ihre Logik ist nicht die des objektiven Denkens, sondern der subjektiven Dankbarkeit – einer Dankbarkeit, die sich nicht auf eine geschäftsmäßige Reaktion, auf einen zu erhaltenen Nutzen reduzieren lässt. Sie ist eine ethische Vision, wie sie von den großen monotheistischen Religionen[4] vertreten wurde, aber heute ungebräuchlich geworden ist.

Die deutsche Idee des Heimatdenkens ist die falsche Antwort auf den gesellschaftlichen Winter der Vernunft. Heimatdenken ist eine irrationale Reaktion, die von genau dieser Ratio ausgeht und ihre eigene Logik der Ausgrenzung reproduziert. „Heimat“ impliziert Besitz, nicht Teilen. Und ein solches Denken bleibt der Logik der Verwandtschaft, einem spezifischen genealogischen Mythos verhaftet. Levinas sieht in dieser Fetischisierung des Ortes, der Heimat, zu Recht die Auslöschung derjenigen, die nicht Teil davon sind (und auch nicht dazugehören sollen).

Ich neige nicht zur Oikophobie (der Abneigung gegen die eigene Heimat). Ich lehne aber trotzdem die These ab, dass man von Nachbarschaft nur in Bezug auf den Oikos sprechen kann. In der Nachbarschaft besteht eine Bindung zu den anderen, was die Nachbarschaft zu einem ontologischen Bestandteil eines jeden Menschen macht. Mehr noch, die Nachbarschaft stellt einen Rückzug von sich selbst dar, eine Dissoziation des Ortes, denn Nachbarn ersetzen in demokratischen Gesellschaften die Verwandtschaft. Sie ist laut Hélène L‘Heuillet eine Art „freier Zusammenschluss“.[5]

Für all diejenigen aber, die in einem nationalisti-schen Paradigma gefangen bleiben, kann der Nachbar allenfalls ein Verwandter sein. Es gibt keinen Platz für das, was Jacques Derrida das „absolut Ungleiche“ nennt, für das Gesicht, das im Sinne von Levinas jede objektivierende Intentionalität überwindet, oder für den Gott, Freund des Fremden, von dem Hermann Cohen sprach. Es wird deutlich, welche Form der Mensch annehmen oder verlieren kann, wenn das Heimatdenken – jener ethnokulturelle Ansatz, der soziale Gruppen nach ihrer Herkunft oder Zugehörigkeit definiert – und damit die Versuchung, Mauern zu bauen, beziehungs-weise die politische „Diktatur der Brüder“ die Welt erobert. Ich habe nur ein Land, aber es gehört mir nicht.


[1] Zygmunt Bauman, Wasted lives: Modernity and its outcasts, Malden, Massachusetts 2003. Deutsch: Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne, Hamburg 2005

[2] Axel Honneth, „Invisibility: On the Epistemology of ‚Recognition‘“, in: Aristotelian Society Supplementary Volume, Band 75, Heft 1, S. 111–126, Juli 2001

[3] „contenus donnés à la conscience“, Emmanuel Levinas, Humanisme et l’autre homme, Paris 1987, S. 18. Deutsch: Humanismus des anderen Menschen, Hamburg 2005

[4] Elisabeth Conradi, „Forgotten Approaches to Care. The Human Being as Neighbour in the German-Jewish Tradition of the Nineteenth Century“, in: Care in Healthcare, hrsg. v. Franziska Krause und Joachim Boldt, Cham 2017, S. 13–35

[5] Hélène L’Heuillet, Du voisinage, Paris 2016


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