April 7, 2022

Den Kreislauf von Gewinnen und Patenten in einer Pandemie durchbrechen

Jaume Vidal

COVID-19, geistiges Eigentum und ungleicher Zugang zu Gesundheits-technologien: schmerzhafte Lektionen und Anlass zur Hoffnung


Die COVID-19-Pandemie, die so viel Leid und Aufruhr verursachte, ereignete sich nicht im luftleeren Raum, sondern innerhalb bereits bestehender Strukturen sozialer Ungleichheit und politischer Ungleichgewichte. Die Entwicklung und anschliessende Beschaffung von Impfstoffen folgen bis heute einem Trend, bei dem die Wohlhabenden als Erste Zugang zu neuen medizinischen Technologien erhalten, während alle anderen gezwungen sind, zu warten und auf das Beste zu hoffen. Ein profit-orientiertes biomedizinisches Forschungs- und Entwicklungsmodell und die wichtige Rolle, die das geistige Eigentum (IP)in den Geschäftsstrategien großer, transnationaler Pharmaunternehmen spielt, bildeten weitere ideale Angriffspunkte.

Solidarität ist niemals so zwingend und überlebensnotwendig wie bei einer Bedrohung wie einer Pandemie, die keinen Unterschied zwischen Grenzen oder Vermögen macht, und bei der kein Land ungeschoren davonkommt. Die Reaktion der internationalen Gemeinschaft reichte von den markigen Worten in den Anfangstagen der Pandemie, dass Impfstoffe ein globales öffentliches Gut seien, bis hin zu der späteren verwirrenden Vielzahl von Initiativen mit dem ehrgeizigen Ziel ihrer globalen Verteilung. Letztendlich mussten wir feststellen, dass sich für die Europäische Union und andere pharma-freundliche Regierungen selbst in solch nie dagewesenen Zeiten in Bezug auf die Urheberrechte und den Zugang zu Gesundheitstechnologien alles beim Alten blieb.

Die Ausnahmeregelung als Lösung und Anklageschrift

Aus diesen Gründen kam der Vorschlag für einen temporären TRIPS-Waiver (zu Deutsch Ausnahmeregelung) für COVID-19-Gesundheitstechnologien, der von Südafrika und Indien im Oktober 2020 vorgelegt (und im Mai 2021 mit weiteren Miteinreichern überarbeitet) wurde, zur rechten Zeit und ist nach wie vor aktuell[1]. Er machte deutlich, dass die Regeln des geistigen Eigentums, die durch das TRIPS-Abkommen der Welthandelsorganisation (WTO) gestützt werden, Monopole für lebensrettende Gesundheitsprodukte zulassen. Zudem reichten die begrenzten Produktionskapazitäten (vor allem in den Vereinigten Staaten, der Europäischen Union, Großbritannien und einigen anderen Ländern) ganz offensichtlich nicht aus, um die weltweite Nachfrage zu bedienen; die Voraussetzungen für einen Wettlauf um die Impfstoffe, wie er auch schon bei der persönlichen Schutzausrüstung eingesetzt hatte, waren geschaffen.

Zweitens zeigte sich, dass der Gegensatz zwischen dem Zugang zu Gesundheitstechnologien und dem Schutz des geistigen Eigentums, der bereits während der AIDS-Pandemie in den 90er-Jahren zutage getragen war, immer noch sehr lebendig ist. Damals, als die Regierung Mandela in Südafrika versuchte, mit legitimen (und den internationalen rechtlichen Anforderungen entsprechenden) Mitteln generische antiretrovirale Medikamente zu erwerben, um eine Krankheit zu bekämpfen, die ihre eigene Bevölkerung dahinraffte, wurde sie von Dutzenden von transnationalen Pharmaunternehmen verklagt. Dies geschah mit der politischen Unterstützung der Regierungen ihrer Gastländer, vor allem in den USA, Europa und Großbritannien. Die Gegenreaktion auf diesen Schritt brachte Aktivist*innen von der Südhalbkugel mit Graswurzelbewegungen in der ganzen Welt zusammen und mündete in die Erklärung von Doha (November 2001)[2], die von allen WTO-Mitgliedern befürwortet wurde. Darin wird das Recht der Regierungen bekräftigt, bei der Durchsetzung des TRIPS-Abkommens in Bezug auf pharmazeutische Produkte von flexiblen Regelungen Gebrauch zu machen.

Die Erklärung von Doha ist zwar ein Sieg für Aktivist*innen und Entwicklungsländer, doch wurden auch ihre Grenzen sichtbar, insbesondere für Länder, die über keine eigenen pharmazeutischen Produktionskapazitäten verfügen. Es dauerte Jahre, bis sich die Regierungen auf eine vorläufige Lösung einigten, und mehr als ein Jahrzehnt, bis diese in einen ständigen Zusatz zum TRIPS-Abkommen mündete. Unterdessen wurde den meisten Entwicklungsländern, vor allem auf dem afrikanischen Kontinent, die Nutzung von flexiblen Regelungen, darunter Zwangslizenzen, de facto verwehrt.

Im Zuge der grassierenden Covid-19-Pandemie und angesichts der begrenzten Herstellungskapazitäten, die auf Patentmonopolen beruhen, vereitelt wird, ist vielen klargeworden, dass nur eine außergewöhnliche Maßnahme, die sich auf alle COVID-19-bezogenen Produkte (inkl. Impfstoffe, Therapeutika und Diagnostika) erstreckt, ausreichen würde, um das Ziel eines allgemeinen und gerechten Zugangs zu lebensrettenden Gesundheitsgütern zu erreichen. Nur in Kombination mit anderen Maßnahmen, z. B. der Stärkung der nationalen Gesundheitssysteme, der Regulierungskapazitäten und der Lieferketten, kann eine wirksame Antwort auf die Herausforderung einer hochansteckenden Krankheit gefunden werden.

Ein Vorschlag mit vielen Unterstützern, der aber von einigen wenigen (mächtigen) Gegnern vehement bekämpft wird

Der Vorschlag wurde von der Europäischen Union, den USA und einigen weiteren Ländern wie Großbritannien und der Schweiz zunächst mit Skepsis aufgenommen. Als die Zahl der Regierungen, die den Vorschlag unterstützten, wie auch die Unterstützung durch die Zivilgesellschaft und die Wissenschaft wuchs, verhärtete sich die Position der EU und wandelte sich in eine starke Opposition, die sogar die Aussetzung des Patentschutzes ablehnte.

Die Positionen zur Aussetzung des Patentschutzes haben sich in einigen Fällen weiterentwickelt und in anderen verhärtet. Die USA, gefolgt von anderen Ländern wie Australien, verkündigten öffentlich, dass sie sich einer Aussetzung nicht widersetzen würden, solange diese auf Impfstoffe beschränkt bleibt (und damit alle anderen Gesundheitstechnologien ausschließt). Die EU hat unterdessen den von Südafrika und Indien aufgeworfenen Fragen nicht einmal in Betracht gezogen, als sie ihre Antwort (die sie selbst als Gegenvorschlag bezeichnet) vorlegte, in der sie im Wesentlichen die Optimierung der Nutzung von Zwangslizenzen und die Aufhebung der Ausfuhrkontrollen als die besten Maßnahmen zur Mängelbeseitigung bei der Produktion und Lieferung von COVID-19-bezogenen Gesundheitsprodukten bezeichnete.

Über ein Jahr fand keine ernsthafte Diskussion über den von Südafrika und Indien unterbreiteten Vorschlag statt. Auf den Sitzungen der WTO-Gremien wie dem TRIPS-Rat und dem Allgemeinen Handelsausschuss forderten die Gegner der befristeten Aussetzung wiederholt zusätzliche Informationen, ohne dabei in einen sinnvollen Dialog zu treten. Gleichzeitig verabschiedete das Europäische Parlament bis zu drei förmliche Aufforderungen an die Europäische Kommission, Verhandlungen auf Textbasis aufzunehmen, die von Dutzenden nationaler Abgeordneter sowie von ehemaligen Regierungschefs und Wissenschaftlern aufgegriffen wurden. 

Während sie sich in der WTO und anderen internationalen Gremien gegen den TRIPS-Waiver aussprach, kündigte die EU vermehrt unilaterale Initiativen an, um den Zugang zu COVID-19-Impfstoffen zu verbessern: von der Unterstützung der COVAX-Einrichtung über die Aufstockung von (ungenutzten) Impfstoffspenden[3] bis hin zum Vorschlag eines neuen Pandemievertrags[4]. Diese Gesten, die von Beamten der Europäischen Kommission häufig als Beweis ihres Engagements für die globale Gesundheit und für einen gerechten universellen Zugang zu Gesundheitstechnologien angeführt werden, ließen jedoch größtenteils Transparenz, Rechenschaftspflicht und Konsultationen mit den betroffenen Parteien und anderen Interessengruppen vermissen.


Marcelo Leal / Unsplash

Hoffnung inmitten der Wut

Nach der Absage der 12. Ministerkonferenz der WTO im November letzten Jahres nahmen die Ereignisse Anfang 2022 mit zahlreichen informellen Treffen zwischen den USA, der EU, Indien und Südafrika[5] (bekannt als Quad-Gruppe) an Fahrt auf. Aufgrund der mangelnden Transparenz und des vertraulichen Charakters der Gespräche war es schwierig, sich einen Überblick über den Inhalt der Gespräche zu verschaffen. Das Schicksal des Handels, der globalen Gesundheit und des Multilateralismus wurde hinter verschlossenen Türen besiegelt.

Nachdem sich die Gerüchte über den allgemeinen Tenor der Gespräche verdichtet hatten, wurde ein geleaktes Dokument der Europäischen Kommission[6], das angeblich eine vorläufige Einigung innerhalb der Quad-Gruppe beschreibt, von mehreren Medien verbreitet, die es als Kompromiss bezeichneten (der vom GD der WTO begrüsst wurde). Das Dokument, das nur für Impfstoffe gilt, auf die Dauer der Pandemie begrenzt ist und sich nur mit Patenten befasst, schien die Anwendung der flexiblen TRIPS-Regelungen weiter bürokratisch zu erschweren und ging auf die meisten Hauptpunkte des ursprünglichen Vorschlags eines TRIPS-Waivers gar nicht ein. Die Uneinigkeit war so groß, dass zahlreiche Stimmen darauf hinwiesen, dass es sich nicht um eine Ausnahmeregelung handele.

Die Befürworter, Unterstützer und Verbündeten des TRIPS-Waivers haben jedoch deutlich gemacht, dass dies nie ein Ziel an sich war, sondern Teil eines umfassenderen, langfristig angelegten Vorhabens. Indem sie die Unterstützung anderer Regierungen und der organisierten Zivilgesellschaft gewannen, haben die Mobilisierungskampagnen und die Öffentlichkeitsarbeit der letzten 17 Monate in der öffentlichen Meinung, bei politischen Parteien und bei anderen Interessenvertretern die Vorstellung gefestigt, dass eine grundlegende Überarbeitung der Art und Weise, wie der Zugang zu Gesundheitstechnologien verwaltet und gestaltet wird, dringend erforderlich ist. Eine Diskussion, die noch lange nach dem Ende der Pandemie weitergehen wird.

Dieser Austausch muss einerseits die seit langem bestehenden Forderungen des globalen Südens nach einem wirksamen Technologietransfer, der Weitergabe von Know-how und einem gesundheitsorientierten Umgang mit dem geistigen Eigentum und andererseits die Versprechen und Zusagen der wohlhabenden Nationen in Bezug auf solche Initiativen (WHO Covid-19 Technologies Access Pool, das mRNA Tech Transfer Hub oder die laufenden Verhandlungen über die Pandemievorsorge[7]) berücksichtigen. Die von den EU-Mitgliedstaaten bekundete Unterstützung für einen gerechteren Zugang zu Gesundheitstechnologien wird dann auf den Prüfstand gestellt. Dies gilt auch für die Fähigkeit der Regierungen der Regierungen des globalen Südens, sich umfassend an den Diskussionen zu beteiligen, die sie selbst am meisten betreffen.

Auch wenn die Diskussionen über den TRIPS-Waiver die Grenzen der Diplomatie und die nachlassende Attraktivität des Multilateralismus aufgezeigt haben mögen, so sind sie doch auch ein eindrückliches Beispiel dafür, wie eine Koalition aus Regierungen, Zivilgesellschaft und einzelnen Bürger*innen gemeinsam eine Antwort auf eine Krise finden kann, die sich von einem moralischen Kompass und nicht von kurzfristigen wirtschaftlichen Profiten oder politischen Siegen leiten lässt. Es war nicht das erste Mal und wird auch sicher nicht das letzte Mal sein.

Jaume Vidal hat einen Abschluss in Politikwissenschaften mit Schwerpunkt Internationale Beziehungen und arbeitet seit 20 Jahren im Bereich der öffentlichen Gesundheit. Sein besonderes Interesse gilt den Überschneidungen zwischen geistigen Eigentumsrechten, Innovation, Zugang zu Gesundheitstechnologien und Menschenrechten. eine berufliche Erfahrung umfasst Tätigkeiten  in verschiedenen internationalen Organisationen, Think Tanks und Nichtregierungsorganisationen.

[1] DESIERTO, D. Overcoming the Global Vaccine and Therapeutics Lag and ‘Vaccine Apartheid’: Abuse of Rights in the EU’s Continued Blocking of the TRIPS Waiver for COVID Vaccines and Related Medicines Blog of the European Journal of International Law 25. Januar 2022 Abrufbar unter https://www.ejiltalk.org/overcoming-the-global-vaccine-and-therapeutics-lag-abuse-of-rights-in-vaccine-apartheid-and-the-eus-continued-blocking-of-the-trips-waiver-for-covid-vaccines-and-related-medicines/ Abgerufen am 18. März 2022

[2] Siehe WORLD TRADE ORGANIZATION (WTO) Declaration on the TRIPS agreement and public health DOHA WTO MINISTERIAL 2001: TRIPS WT/MIN(01)/DEC/2 20. November 2001 Aufrufbar unter https://www.wto.org/english/thewto_e/minist_e/min01_e/mindecl_trips_e.htm Abgerufen 18. März 2022. Von besonderem Interesse war Absatz 6: «Wir erkennen an, dass WTO-Mitglieder mit unzureichenden oder fehlenden Produktionskapazitäten im Arzneimittelsektor Schwierigkeiten haben könnten, die Zwangslizenzen im Rahmen des TRIPS-Übereinkommens wirksam zu nutzen. Wir beauftragen daher den TRIPS-Rat, eine rasche Lösung für dieses Problem zu finden und der Allgemeinen Kommission vor Ende 2002 Bericht zu erstatten», was Gegenstand langwieriger Verhandlungen war, die 2017 mit der Verabschiedung von Art. 31 bis als Zusatz zum TRIPS-Abkommen endeten.

[3] Information zur Unterstützung von Covax, ACT-A, Impfstoffverteilung und anderen Initiativen bei der EUROPÄISCHEN KOMMISSION durch die Europäische Union Global response to Coronavirus Abrufbar unter https://ec.europa.eu/info/live-work-travel-eu/coronavirus-response/safe-covid-19-vaccines-europeans/global-response-coronavirus_en Abgerufen am 18. März 2021

[4] Europäischer Rat. An international treaty on pandemic prevention and preparedness Abrufbar unter https://www.consilium.europa.eu/en/policies/coronavirus/pandemic-treaty/ Abgerufen am 18. März 2021

[5] Ein solcher quadrilateraler Dialog mit Unterstützung durch die GD der WTO, auch bekannt als Quad-Gruppe, wurde von anderen WTO-Mitgliedern wie Grossbritannien und der Schweiz als ausgrenzend empfunden

[6] FURLONG, A. Compromise reached on COVID-19 vaccine intellectual property rights waiver Abrufbar unter https://www.politico.eu/article/compromise-reached-on-covid-19-vaccine-intellectual-property-rights-waiver/ Abgerufen am 18. März 2022

[7] Siehe die einleitenden Worte des GD der WHO auf der ersten Sitzung des zwischenstaatlichen Verhandlungsgremiums zur Ausarbeitung und Aushandlung eines WHO-Übereinkommens, einer Vereinbarung oder eines anderen internationalen Instruments zur Pandemieprävention,
-vorsorge und -bekämpfung – 24. Februar 2022 Aufrufbar unter https://www.who.int/director-general/speeches/detail/who-director-general-s-opening-remarks-at-first-meeting-of-the-intergovernmental-negotiating-body-to-draft-and-negotiate-a-who-convention-agreement-or-other-international-instrument-on-pandemic-prevention-preparedness-and-response-24-february-2022 Abgerufen am 18. März 2021