Mai 1, 2021

Der pandemische Kapitalismus

Christoph Butterwegge

Covid-19 und die sozialen Folgen


Während die ökonomischen Auswirkungen (weltweite Rezession) und die politischen Verwerfungen (Protest gegen starke Infektionsschutzmaßnahmen wie einen Lockdown) in der Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit fanden, sind die sozialen Folgen der Covid-19-Pandemie eher unbelichtet geblieben. Dabei wurde das Problem der Ungleichheit in der pandemischen Ausnahmesituation nicht bloß wie unter einem Brennglas sichtbar. Vielmehr hat es sich durch die Pandemie selbst, die von ihr mit ausgelöste Wirtschaftskrise und die verteilungspolitische Schieflage von Finanzhilfen des Staates zugunsten der Unternehmen in den meisten Ländern auch weiter verschärft. Ein wachsender Bevölkerungsteil selbst der Länder mit einem verhältnismäßig hohen Lebens- und Sozialstandard kam entgegen allen Beteuerungen, es handle sich bei ihnen um „klassenlose“ Gesellschaften mit gesicherter Wohlständigkeit all ihrer Mitglieder, nicht einmal für wenige Wochen ohne seine ungeschmälerten Regeleinkünfte auskommt.


Das Pflegepersonal des APHP Robert Debre Krankenhauses in Paris, Krankenhauspersonal aus anderen Krankenhäusern, Gewerkschafter, Arbeiter und Gelbwesten demonstrieren vor dem Eingang des Krankenhauses, um mehr finanzielle und personelle Ressourcen zu fordern, um die Arbeitsbedingungen im öffentlichen Krankenhaus zu verbessern, während die französische Bevölkerung aus der Enge kommt, die durch die Covid 19 Coronavirus-Epidemie auferlegt wurde. Transparent: „Der Kapitalismus ist das Virus, die Solidarität ist das Gegenmittel“.
Foto: Simon LAMBERT/HAYTHAM-REA/laif

Vom „rheinischen“ zum schweinischen Kapitalismus

Der französische Ökonom Michel Albert hat Deutschland kurz nach der Vereinigung von BRD und DDR zusammen mit den Niederlanden, der Schweiz, den skandinavischen Staaten und Japan als „rheinischen Kapitalismus“ bezeichnet und ihn dem angelsächsischen bzw. US-amerikanischen Wirtschaftsmodell idealtypisch gegenübergestellt. In seinem 1991 erschienenen Buch Capitalisme contre Capitalisme schrieb Albert, der endgültige Zusammenbruch des Kommunismus habe die Unterschiedlichkeit zwischen beiden Modellen erst richtig deutlich gemacht: „Das neo-amerikanische basiert auf dem individuellen Erfolg und dem schnellen finanziellen Gewinn. Das rheinische hat sein Zentrum in Deutschland und ist dem japanischen sehr ähnlich. Wie dieses auch favorisiert es den gemeinschaftlichen Erfolg, den Konsens und das langfristige Vorausdenken.“

Obwohl das rheinische Modell gerechter und effizienter sei, werde sich das ultraliberale, weniger egalitäre Modell des US-Kapitalismus, bedingt durch die Entwicklung der modernen Informations- und Kommunikationstechnologien sowie die neoliberale Globalisierung der Finanzwirtschaft, über die ganze Welt ausbreiten, prognostizierte Albert damals. Tatsächlich hat in den vergangenen Jahrzehnten – feuilletonistisch ausgedrückt – ein Wandel vom „rheinischen“ zum schweinischen Kapitalismus stattgefunden. Bei dem Letzteren handelt es um ein Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das brutale Ausbeutung, drastische Entrechtung der Beschäftigten, systematisches Lohn- und Sozialdumping, skrupellose Leuteschinderei und massenhafte Tierquälerei duldet sowie der Profitmaximierung durch eine kleine Gruppe von Multimillionären und Milliardären, die eng mit Exponenten des politischen und Regierungssystems verbunden sind, praktisch keine Grenzen setzt.

Dies wurde nie deutlicher als während der Covid-19-Pandemie: Mehr als 1.400 Beschäftigte der größten Fleischfabrik Europas, in der man täglich zehntausende Schweine schlachtet, zerlegt und weiterverarbeitet, wurden im Juni 2020 positiv auf SARS-CoV-2 getestet. Darunter waren besonders viele polnische, rumänische und bulgarische Werkvertragsarbeiter/innen, die unter skandalösen Arbeits- und Wohnbedingungen litten. Alle seinerzeit am Hauptsitz des Fleischkonzerns Tönnies in Rheda-Wiedenbrück tätigen Menschen mussten sich mitsamt ihren Familien in Quarantäne begeben, weil ein Überspringen des Virus auf die Gesamtbevölkerung befürchtet wurde.

Seuchen als soziale Gleichmacher?

Seuchen haben in der Vergangenheit oftmals zur Verringerung der Ungleichheit beigetragen, wenn auch nur für eine gewisse Zeit. Dies geschah etwa bei der mittelalterlichen Pest, die in Europa ab 1347 unzählige Menschen aller Stände dahinraffte. Hauptgrund dafür war Verfall der Lebensmittel-, Boden- und Immobilienpreise (aufgrund fehlender Käufer*innen) einerseits sowie das Ansteigen der Löhne (aufgrund fehlender Arbeitskräfte und einer gestärkten Verhandlungsposition der übriggebliebenen gegenüber den Arbeitgebern) andererseits.

Mit den bakteriell ausgelösten Epidemien, die Europa im 19. Jahrhundert heimsuchten – Cholera, Tuberkulose und Typhus –, hat die Covid-19-Erkrankung gemeinsam, die Immun- und Einkommensschwächsten am stärksten zu treffen. Hauptopfer solcher Pandemien sind die Armen der von ihr heimgesuchten Gesellschaft. Untersuchungen aus den USA zeigen, dass die afroamerikanische Minderheit besonders stark von einer Covid-19-Erkrankung betroffen ist, und in Brasilien hat sich das Virus hauptsächlich in den Favelas eingenistet, wo diejenigen wohnen, die das Leben der Wohlhabenden und Reichen durch ihre meist schlecht entlohnten Servicedienste erleichtern und verschönen.

Auf den ersten Blick sieht es so aus, als seien vor einem Virus alle Menschen gleich. Bezüglich der Infektiosität von Coronaviren trifft diese Behauptung durchaus zu, hinsichtlich der Vulnerabität und der Infektionsrisiken unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen allerdings nicht. So traf die Covid-19-Pandemie alle Bewohner/innen der Erde, aber mitnichten alle gleichermaßen. Je nach Arbeitsbedingungen, Wohnverhältnissen und Gesundheitszustand waren sie vielmehr ganz unterschiedlich betroffen. Wegen der niedrigeren Lebenserwartung von Armen gilt selbst in wohlhabenden, wenn nicht reichen Gesellschaften die zynische Grundregel: Wer arm ist, muss früher sterben. Während der Coronapandemie galt: Wer arm ist, muss eher sterben. Denn sozial bedingte Vorerkrankungen wie Adipositas, Asthma oder Diabetes mellitus, katastrophale Arbeitsbedingungen sowie beengte und hygienisch bedenkliche Wohnverhältnisse erhöhen das Risiko für eine Infektion mit SARS-CoV-2 und für einen schweren Covid-19-Krankheitsverlauf.

Ungerecht ist also nicht das Virus selbst, sondern eine Klassengesellschaft, deren Mitglieder es ungleich trifft. Von einem sozialen Gleichmacher kann ebenso wenig die Rede sein wie von einem „Ungleichheitsvirus“. Denn weder hat SARS-CoV-2 die Kluft zwischen Arm und Reich verursacht, noch war das neuartige Coronavirus für die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verantwortlich, auf die es traf. Unter ihnen ließ Covid-19 die bestehenden Interessengegensätze nur deutlicher hervortreten, während sie jeder Lockdown und fast alle staatlichen „Rettungspakete“ für die Wirtschaft zuspitzten. Nicht das Virus ist unsozial, sondern eine reiche Gesellschaft, die ihre armen Mitglieder zu wenig vor einer Infektion und den ökonomischen Verwerfungen der Pandemie schützt. Als sozialer Spaltpilz wirkt der Neoliberalismus – eine Wirtschaftstheorie, Sozialphilosophie und politische Zivilreligion, die Ungleichheit für produktiv und wohlstandssteigernd hält.

Die soziale Polarisierung verstärkt sich: Corona, Armut und Reichtum

Global wie national gilt, dass die Reichen in der pandemischen Ausnahmesituation reicher und die Armen zahlreicher geworden sind. Die finanzschwächsten Bevölkerungsgruppen, zu denen Obdach- und Wohnungslose, aber auch andere Bewohner/innen von Gemeinschaftsunterkünften wie Strafgefangene, Geflüchtete sowie Werkvertrags- und Saisonarbeiter/innen, Migrant(inn)en ohne gesicherten Aufenthaltsstatus, Menschen mit Behinderungen, Pflegebedürftige, Suchtkranke, Prostituierte, Erwerbslose, Geringverdiener*innen, Kleinstrentner*innen und Transferleistungsbezieher*innen gehören, sind auch die immunschwächsten.

Die durch das Coronavirus bewirkte Unterbrechung von Lieferketten und Vertriebsstrukturen, der Verlust von Absatzmärkten sowie die als Reaktion auf die Covid-19-Pandemie behördlich verordnete Schließung von Geschäften, Gaststätten, Hotels, Clubs, Kinos, Theatern und anderen Einrichtungen hatten erhebliche wirtschaftliche Einbußen für die dort Tätigen, aber auch eine Konkurswelle und Entlassungen im großen Stil zur Folge. Einerseits blieben Kurzarbeit sowie massenhafte Entlassungen (z.B. in der Gastronomie, der Touristik und der Luftfahrtindustrie) nicht aus, andererseits realisierten Großkonzerne krisenresistenter Branchen in der Coronakrise sogar Extraprofite: Apotheken, Drogeriemärkte, Lebensmittel-Discounter, Online-Versandhandel, Paket- und Lieferdienste, Digitalwirtschaft und Pharmaindustrie.

Kontaktverbote, Ausgangsbeschränkungen und Einrichtungsschließungen im Lockdown zerstörten die ohnehin brüchige Lebensgrundlage der ärmsten Menschen (Bettler*innen, Pfandsammler*innen und Verkäufer*innen von Straßenzeitungen), weil fehlende Passant(inn)en und die Furcht vor Ansteckung manchmal zum Totalausfall der Einnahmen führten. Die finanzielle Belastung von Transferleistungsbezieher*innen, Kleinstrentner*innen und Geflüchteten nahm durch die Schließung karitativer Einrichtungen, Suppenküchen und Sozialkaufhäuser weiter zu.

Zwar brachen die Aktienkurse nach Ausbruch der Covid-19-Pandemie an sämtlichen Börsen der Welt vorübergehend ein, dramatische Verluste erlitten aber vor allem Kleinaktionäre, die generell zu Panikreaktionen und überhasteten Verkäufen neigen. Hedgefonds und Finanzkonglomerate wie BlackRock wetteten hingegen sogar mittels Leerverkäufen erfolgreich auf fallende Aktienkurse und verdienten an den Einbußen der Kleinanleger*innen. Großinvestoren nutzten die Gunst der Stunde außerdem für Ergänzungskäufe zu relativ niedrigen Kursen und profitierten davon, dass der Kurstrend in Erwartung staatlicher Konjunkturprogramme bald wieder nach oben zeigte.


Justine Debrie, eine 29-jährige Krankenschwester, posiert vor dem Robert-Debre-Krankenhaus während eines Protests französischer Beschäftigter im Gesundheitswesen in Paris als Teil eines landesweiten Aktionstages, um die Regierung aufzufordern, die Löhne zu verbessern und in öffentliche Krankenhäuser zu investieren, im Zuge der Coronavirus-Krise (COVID-19) in Frankreich am 16. Juni 2020. Foto: REUTERS/Charles Platiau

Zusammenfassung und Schlussfolgerung

Vor dem als SARS-CoV-2 bezeichneten Coronavirus sind, was seine Infektiosität betrifft, sämtliche Menschen gleich. Nur weil sich deren Gesundheitszustand, Lebensbedingungen sowie Einkommens-, Vermögens- und Wohnverhältnisse zum Teil stark voneinander unterscheiden, sind auch die Infektionsrisiken zwischen den sozialen Klassen und Schichten sehr ungleich verteilt.

Während am Ausbau der digitalen Infrastruktur nach den positiven Erfahrungen vieler Unternehmen mit Homeoffice, Videokonferenzen und Online-Workshops im Lockdown verstärkt gearbeitet werden dürfte, ist die Lobby für den Ausbau der sozialen, Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur sowie die Erweiterung der öffentlichen Dienstleistungen im Pflegebereich und im Gesundheitswesen politisch weniger einflussreich. Für den Fall, dass die Pandemie, der Lockdown und die coronabedingte Rezession – wie oft prognostiziert – tiefe Spuren im Kollektivgedächtnis hinterlassen, müssten sie jedoch eine nachhaltige öffentliche Debatte über die sozioökonomische Ungleichheit und Möglichkeiten ihrer Reduktion auslösen, zumal sich das Problem im Gefolge dieser Ereignisse noch verschärft.

Wenn das Infektions-, Krankheits- und Sterblichkeitsrisiko in und nach der Covid-19-Pandemie nicht mehr entscheidend von den materiellen Ressourcen abhängen soll, muss das kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem überwunden werden. Gelehrt hat uns die Coronakrise, dass die Produktions-, Konsum- und Lebensweise eines pandemischen Kapitalismus weder nachhaltig noch geeignet ist, die durch den Ausstoß von Treibhausgasen drohende Klimakatastrophe zu verhindern.

Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und zuletzt das Buch „Ungleichheit in der Klassengesellschaft“ (Köln: PapyRossa Verlag) veröffentlicht.