Februar 22, 2021

Die Abschaffung von Kinderarbeit: Lektionen aus der Kindersklaverei in Haiti

Fiona de Hoog Cius

Das Jahr 2021 wurde von den Vereinten Nationen zum Internationalen Jahr zur Abschaffung von Kinderarbeit erklärt. Damit werden ehrgeizige Versprechen gesetzt, da Mitgliedstaaten und Organisationen aufgefordert werden, ihre Verpflichtungen zur Bekämpfung schädlicher Formen der Kinderarbeit neu zu bestätigen, sich zur Zusammenarbeit und zum Austausch bewährter Praktiken zu verpflichten. Wenn es je einen Zeitpunkt für internationale Zusammenarbeit und den Austausch von Ideen, Lösungen und Mitteln gegeben hat, dann jetzt. Wenn wir etwas von COVID 19 gelernt haben, dann ist es die Tatsache, dass wir trotz Grenzen und Teilungen untrennbar miteinander verbunden sind und dass jede individuelle und isolierte Bemühung, etwas abzuschaffen, vergeblich ist.

Von Fiona de Hoog Cius, die am Helena Kennedy Centre an der Universität Sheffield Hallam in der Abteilung für Recht und Kriminologie, zu Menschenrechten, Gender und moderner Sklaverei forscht.


Haiti, Port-au-Prince. Miriam ist ein 7-jähriges Mädchen, das Restavek ist. Foto: Alice Smeets/laif

Kinderarbeit, einschließlich der schlimmsten Formen der Kinderarbeit, kommt zwar auf allen fünf Kontinenten vor, allerdings häufiger in Gesellschaften mit niedrigem Einkommen. Dabei führen Afrika und Asien die Zahlen an, Nord- und Südamerika sowie Europa folgen. Es ist verständlich, dass jene, die in Gesellschaften mit hohem Einkommen leben, Kinderarbeit als entferntes und isoliertes Problem abtun, mit nur geringen Auswirkungen auf ihr eigenes Leben. Jedoch bietet dieser neue Fokus auf Kinderarbeit im Jahr 2021 die Gelegenheit, das Problem in einem anderen Licht zu betrachten, globale gesellschaftliche Zusammenhänge zu schaffen und diese unsichtbaren Verknüpfungen zwischen dem Symptom der Kinderarbeit und den gesellschaftlichen Krankheiten, die uns alle auf globaler Ebene betreffen, zu verfolgen. Dabei geht es um unsere wirtschaftlichen Strukturen, die die am meisten gefährdeten Menschen auf unserem Planeten stark benachteiligen.

Gemäss den globalen Zahlen der ILO ist die Kinderarbeit in den letzten beiden Jahrzehnten zurückgegangen. Das sind zweifellos gute Nachrichten, dennoch ist jetzt nicht der Zeitpunkt für Selbstzufriedenheit. Wir wissen immer noch nicht genug über Kinderarbeit, um zu gewährleisten, dass ihre Abschaffung sowohl möglich als auch dauerhaft ist. Dieses Verständnis hat durch die Diskussionen der internationalen Gemeinschaft um die Definition von Kinderarbeit Gestalt angenommen, indem sie sie in den Kontext der Kultur, der wirtschaftlichen Bedürfnisse und der Grenzen dessen, was für Kinder akzeptabel ist, gestellt haben.. Dies zeigt sich in der Tatsache, dass es zwar in bestimmten Kontexten akzeptable Formen der Arbeit für Kinder gibt (die als ‚Kinder in Beschäftigung‘ bezeichnet werden), der Begriff ‘Kinderarbeit’ bezeichnet jedoch in der Regel Arbeit, die negative Folgen für das Wachstum und die Entwicklung von Kindern hat und in vielen Fällen auch für ihre Ausbildung. Über Kinderarbeit wird auch in einer Kategorie diskutiert, die als ‘gefährliche Arbeit’ eingestuft wird und ‘wahrscheinlich eine Gefahr für Gesundheit, Sicherheit oder Moral der Kinder’ darstellt. Dazu gehört auch die Kindersklaverei wie sexuelle Ausbeutung, Schuldknechtschaft, Zwangsarbeit im Haushalt sowie der Einsatz von Kindern bei bewaffneten Konflikten. Obwohl es wichtig ist, anzuerkennen, dass die Arbeit von Kindern eine begrenzte Bedrohung darstellen kann und unter bestimmten Umständen als notwendiger Teil des Lebens angesehen werden sollte,  gibt es eine klare Trennlinie zu den Praktiken von Kinderarbeit und -sklaverei, ausbeuterischen Verbrechen, für deren Abschaffung drastische Maßnahmen erforderlich sind.

Ein junges Mädchen, das früher ein „Restvek“ war, lebt heute in der Barackensiedlung der Cité de Dieu in Port-au-Prince. Foto: Lemoine/Redux/Laif

Verschiedene Beispiele für gefährliche Kinderarbeit finden sich überall auf der Welt und die Arten der Arbeit und die damit verbundene Ausbeutung sind genau so unterschiedlich wie die lokalen Gegebenheiten. Dies ist wichtig, weil die Kinderarbeit zwar als globales Problem betrachtet werden muss, wir aber auch anerkennen müssen, dass wir über lokale Systeme sprechen und die Faktoren, die Kinderarbeit möglich machen, ihre Wurzeln in den lokalisierten Symptomen einer globalen sozialen und ökonomischen Struktur haben. Darüber hinaus müssen Änderungen zwar auf globaler Ebene vorgenommen werden, aber erst wenn wir die Realität der Kinderarbeit auf lokaler, kommunaler Ebene betrachten, können wir erkennen, welche Änderungen nötig sind und wie sie effektiv umgesetzt werden können. Hier schauen wir uns ein spezifisches Beispiel an, um Kinderarbeit– in diesem Fall Kindersklaverei – besser zu verstehen, damit wir letztendlich die Ursachen identifizieren und einen kalkulierten Fahrplan zu ihrer Abschaffung aufstellen können.

In Haiti existiert ein System der Zwangsarbeit von Kindern im Haushalt, vor Ort bekannt als Restavèk-System. Das Haiti-kreolische Wort ‘Restavèk’ kommt aus dem Französischen ‘reste avec’, was so viel bedeutet wie ‘bei jemandem bleiben’. Es heißt so, weil Kinder in diesem System in Haushalte gesteckt werden, wo sie bleiben und Hausarbeit verrichten, meist unter ausbeuterischen, missbräuchlichen und gewalttätigen Bedingungen. Die Restavèk-Kinder, meist sind es Mädchen (um die 70 %), sind zum Teil erst fünf Jahre alt und bleiben jahrelang in diesen Haushalten, manchmal, bis sie erwachsen geworden sind. Die Anzahl der betroffenen Kinder ist nicht bekannt, aber es könnten bis zu 500.000 sein, mehr als eines von zehn Kindern in Haiti.

Obwohl Kinder, die in einem solchen Haushalt leben, unterschiedliche Arten der Behandlung erfahren, davon einige sogar auf gewisse Weise vorteilhaft, steht das Wort ‘Restavèk’ in der Regel für Kinder unter den schlimmsten Bedingungen, in denen Gewalt, Vernachlässigung und Misshandlung vorkommen. Die Arbeit, die sie erledigen müssen, ist anstrengend, intensiv und oft gefährlich. Die unzureichende infrastrukturelle Entwicklung macht das Leben in Haiti zu einer extremen Herausforderung, und Restavèk-Kinder sind besonders gefährdet. Sie tragen schwere Lasten, wenn sie mehrmals am Tag Wasser holen, kochen auf offenem Feuer und gehen durch Gebiete mit hoher Strassengewalt. Auch werden sie oft von ihren Entführern und den Mitgliedern des Haushalts körperlich und sexuell misshandelt. Man kann viel über die Restavèk-Bedingungen diskutieren, aber wenn wir die Absicht haben, dieses oder ähnliche Systeme abzuschaffen, dann müssen wir uns die Ursachen anschauen, die Gründe dafür, weshalb sie überhaupt existieren. Wir müssen uns die Faktoren anschauen, die Kinder sowohl dazu drängen als auch ziehen.

Zum größten Teil kommen Restavèk-Kinder aus armen Haushalten in ländlichen Gebieten und landen in armen Häusern in städtischen Gebieten. Extreme Armut in ländlichen Gebieten mit vielen Kindern pro Familie und ohne Zugang zu kostenloser Beschulung trägt ihren Teil dazu bei, dass Eltern ihre Kinder in Haushalte in städtischen Gebieten schicken. Sie hoffen, dass man für sie sorgt und sie zur Schule gehen können. Allerdings dienen Restavèk-Kinder letztlich in Haushalten, die ebenfalls stark von Armut betroffen sind. Selten sorgt man auf nennenswerte Weise für sie oder schickt sie zur Schule. Wenn man die sozialen und wirtschaftlichen Ursachen des Restavèk-Systems näher betrachtet, stellt man fest, dass der Stellenwert der Frauen und ihre Rollen in der Gesellschaft auf äußerst wichtige Weise Teil des Restavèk-Kontextes sind. Der Faden, der die verschiedenen Etappen des Menschenhandels – von der Rekrutierung bis hin zur Versklavung – verbindet, hat seinen Anfang in der sozio-ökonomischen Position armer Frauen, sowohl in städtischen wie auch ländlichen Gebieten. Die Arbeit, die die Restavèk-Kinder verrichten, fällt in den geschlechtsspezifischen Verantwortungsbereich von Frauen. Und es ist daher logisch, dass diejenigen, die für Restavèk-Kinder verantwortlich sind und sie der Ausbeutung und dem Missbrauch aussetzen, Frauen sind.

Haïti, Port-au-Prince. En Haïti, il y a plus de 300 000 Restavek. Photo : Alice Smeets/laif

Ungleichheit der Geschlechter und Frauen, die in Armut leben, bilden die Grundlagen für die Ursachen des Restavèk-Systems. Kinder werden aufgrund der Armut in den ländlichen Gebieten, wo vorwiegend die Frauen die Folgen der hohen Geburtsraten zu spüren bekommen, von Zuhause weggeschickt. Viele Mütter von Restavèk-Kindern sind Alleinerziehende, gefangen in einem Zyklus, in dem sie Sex gegen die Hoffnung eintauschen, dass ein männlicher Partner für sie sorgt. Das führt zu Schwangerschaften und sehr oft zu Vätern, die nicht da sind. Die daraus resultierenden Kinder, wie auch Kinder aus anderen armen ländlichen Haushalten sind diejenicen, die am meisten gefährdet sind, in das Restavèk-System verschleppt zu werden. Das hängt mit der „Feminisierung der Armut“ zusammen und der Art, wie Frauen in unverhältnismäßig hohem Maße die Kosten für Kindererziehung tragen, und das in einem Umfeld, wo auf dem Arbeitsmarkt und in den sozialen Strukturen Männer bevorzugt werden. Dies ist nicht nur auf Haiti der Fall, sondern betrifft Gesellschaften auf der ganzen Welt, insbesondere im globalen Süden.   

Die Ungleichheit der Geschlechter ist auch einer der Faktoren, durch die Kinder in das Restavèk-System gezogen werden. Arme Frauen in städtischen Gebieten müssen geschlechterspezifische Verantwortung im Haushalt und bei der Versorgung der Kinder übernehmen. Gleichzeitig müssen sie einen großen Teil ihrer Zeit außerhalb des Hauses verbringen, um Geld zu verdienen – meist mit Straßenverkäufen. Leben und Überleben stellt für einen Hauptteil der Bevölkerung auf Haiti aufgrund ihrer ausgeprägten Armut eine extreme Herausforderung dar. Dabei haben Frauen außerordentlich schwierige Probleme zu bewältigen. Sie leben öfter in extremer Armut, haben Kinder, für die sie sorgen müssen und erleben geschlechtsspezifische Gewalt, Ungleichheit und sexuelle Ausbeutung oder Missbrauch. Das erklärt nicht nur den Raum, den Restavèk-Kinder einnehmen, denn durch ihre Arbeit werden Lücken im Leben ihrer Kidnapper gefüllt. Es erklärt auch auf gewisse Weise, wie das Elend und die Frustration, die die Frauen erfahren, sich in tief empfundener Wut zeigen kann, die sich dann in Gewalt und Missbrauch gegenüber Restavèk-Kindern äußert. Dies entschuldigt nicht die Behandlung von Restavèk-Kindern, gibt uns aber Einsicht in wichtige Zusammenhänge. So können wir die Ursachen des Systems und die geschlechterspezifischen sozio-ökonomischen Faktoren verstehen, die wir angehen müssen, wenn wir es abzuschaffen wollen.

Dieses Beispiel für Kindersklaverei im Haushalt in Haiti und ihrer geschlechterspezifischen Ursachen zeigt nur ein System von Kinderarbeit von vielen anderen auf der ganzen Welt. Es ist aber wichtig, Kinderarbeit vor Ort zu erkennen und zu untersuchen, bei den Menschen, die betroffen sind. Man muss verstehen und sich vorstellen können, auf welche Weise die globale Gesellschaft sie zusammen bekämpfen und abschaffen kann. Zwar gibt es Unterschiede zwischen den Gesellschaften, in denen Kinderarbeit verbreitet ist, aber auch Faktoren, die sie miteinander verbinden. Die Ungleichheit der Geschlechter und das Elend der Frauen in Gesellschaften mit niedrigem Einkommen sind wahrscheinlich die wichtigste Basis, um die Systeme der Kinderarbeit und ihre Ursachen zu betrachten.. Da normalerweise den Frauen die Betreuung der Kinder übertragen wird, ist es logisch, dass wir uns geschlechterspezifische Erfahrungen der Armut anschauen, sowohl auf lokaler wie auf globaler Ebene. Nur so können wir Kinderarbeit weltweit verstehen und die damit verbundenen Probleme angehen.