Oktober 12, 2021

Die Abstimmung über die „99 %-Initiative” und die progressiven Kräfte

Aris Martinelli

Am 26. September 2021 wurde die Volksinitiative „Lohnsteuern senken, Kapital gerecht besteuern”, die sogenannte „99%-Initiative” der Jungsozialist*innen (JS), von 64,9 % der Stimmberechtigten und allen Kantonen abgelehnt. Welche Lehren können progressive Kräfte aus diesem Ergebnis ziehen? Entschlüsselung.


Der Inhalt der Initiative

Die 99%-Initiative verlangte eine Änderung von Artikel 127a der Bundesverfassung über die Besteuerung von Einkommen aus Kapital und Arbeit in zwei Teilen: die Besteuerung von 150% der Kapitaleinkünfte – Dividenden, Zinsen, Aktiengewinne, Kapitalerträge und Mieteinnahmen – oberhalb eines gesetzlich festgelegten Betrags und die Zuweisung der zusätzlichen Einnahmen für Fördermaßnahmen für Geringverdiener*innen [1].

Ausgehend von einem Betrag von 100.000 CHF schätzten die Initiatoren, dass der Text 60.000 Steuerpflichtige mit einem angelegten Vermögen von 3 Millionen CHF bei einer angenommenen Rendite von 3,37 % betroffen hätte, was 1 % der Bevölkerung entspricht. Die Initiative hätte jährlich zwischen 10 und 15 Milliarden Franken eingebracht, die zur Senkung der Krankenkassenprämien und zur Finanzierung von Weiterbildung, Kinderbetreuung, Pflege und öffentlichem Verkehr verwendet werden könnten[2].

Die Gründe der Initiatoren

Die Initiative, die von der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz, der radikalen Linken, den Grünen, der Evangelischen Partei und einem Teil der Kirchen unterstützt wurde, sollte auf die wachsende wirtschaftliche Ungleichheit in der Schweiz aufmerksam machen. In diesem Land ist der Anteil des Nettovermögens, der von den reichsten 1 % der Steuerzahler*innen gehalten wird, von 33 % im Jahr 1980 auf 43 % im Jahr 2017 gestiegen und nur noch 24,6 % werden heutzutage von den 90 % der Steuerzahler*innen gehalten[3]. Zudem verfügen 23 % der Haushalte über keinerlei Vermögen, während die 0,32 % der „Superreichen” über mehr als 10 Millionen Franken verfügen und damit 32,38% besitzen[4]. Die Initiatoren hielten diese Situation für inakzeptabel, insbesondere angesichts der Stagnation der Reallöhne[5], aber auch angesichts der wachsenden Armut, von der 735.000 Menschen betroffen sind, davon 155.000 Erwerbstätige[6].

Die Initiatoren wiesen auf die Rolle der Kapitaleinkommen bei dieser zunehmenden Vermögenskonzentration hin. Wir sprechen von etwa 70 Milliarden Franken pro Jahr (ohne Kapitalgewinne), die von den reichsten Menschen gehalten werden (die 1 % halten 60 %!). Da sie über die rentabelsten Vermögenswerte verfügen, nutzen sie den Aufschwung der Aktien- und Immobilienmärkte, um mehr Einkommen zu erzielen als der Rest der Bevölkerung[7]. Begünstigt wird diese Vermögenskonzentration durch den interkantonalen Steuerwettbewerb und die Senkung der Steuern auf Gewinne, Dividenden, Großvermögen und Erbschaften in den letzten Jahren[8]. Die Einnahmeverluste für den Staat werden auf rund 5 Milliarden CHF pro Jahr geschätzt[9].

Die Initiative hatte somit eine doppelte politische Ausrichtung: die Anprangerung dieser wachsenden Ungleichheiten und die Neuausrichtung der Steuerpolitik zugunsten der 99 %. Für die Initiatoren sollten die Steuern nicht nur zur Finanzierung der hoheitlichen Aufgaben des Staates verwendet werden, sondern auch zur Unterstützung der Menschen, die von ihrer Arbeit leben und den Wohlstand des Landes schaffen[10].

Gegner, die Ungleichheiten akzeptieren

Eine Koalition aus Rechts- und Mitteparteien, dem Bundesrat und Wirtschaftsverbänden lehnte die Initiative mit unterschiedlichen Argumenten ab[11]. Nach Ansicht dieser Gegner ist das Einkommen in der Schweiz gleichmäßiger verteilt und das Kapital wird im Vergleich zu anderen Ländern bereits stark besteuert (sic!). Ihrer Meinung nach hätte die Initiative auch zu Ungerechtigkeiten geführt, da Kapitaleinkünfte stärker besteuert worden wären als Arbeitseinkommen, während die Reichen bereits sehr viele Steuern zahlen (zweiter sic!). Schließlich betonten die Gegner die Bedeutung des Kapitals für Innovationen, die Gründung neuer Unternehmen und die Schaffung von Arbeitsplätzen und prangerten die schädlichen Auswirkungen einer solchen Besteuerung auf kleine und mittlere Unternehmen an, insbesondere im Falle der Nachfolge. Die Wirtschaft erklärte, die Initiative widerspreche dem „unternehmerischen Geist” und gefährde den Wohlstand der Schweiz[12]

Die Gegner argumentierten, dass Ungleichheiten akzeptabel seien und nicht abgebaut werden sollten.


Demonstration gegen die AVS21, Bern, 18. September 2021 Foto: Aris Martinelli

Die internationale Steuerfrage

Die Initiative wurde von der Mehrheit der Wähler*innen abgelehnt, erhielt aber 35 % der Stimmen. Es gibt also einen bedeutenden Teil der Schweizer Bevölkerung, der verstanden hat, wie wichtig es ist, die Ungleichheiten zu bekämpfen. Die von der Initiative aufgeworfenen Fragen haben auch eine internationale Dimension. Die reichsten 1 % der Welt konnten ihren Anteil am Einkommen zwischen 1990 und 2015 steigern, während die ärmsten 40 % weniger als ein Viertel desselben Einkommens verdienten[13]. Bereits in den 1990er Jahren forderte die Antiglobalisierungsbewegung als Reaktion auf die zunehmenden Ungleichheiten u. a. eine Steuer auf internationale Devisentransaktionen (Tobin-Steuer). Im Zuge der Wirtschaftskrise 2008 rückten die Bewegungen Occupy-Wall-Street, Black-Lives-Matters und Fight-for-$15 das Thema der wirtschaftlichen und rassistisch motivierten Ungleichheit in den USA in den Vordergrund. Die Besteuerung von Superreichen und Spitzenverdiener*innen war ein zentrales Element des Wahlprogramms von Bernie Sanders bei den letzten Präsidentschaftswahlen und des Wahlprogramms der Kongressabgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez. In Europa wurde dieses Thema von Organisationen wie Syriza in Griechenland, Podemos in Spanien und Jeremy Corbyns Labour Left im Vereinigten Königreich aufgegriffen.

Während die Covid-19-Krise und soziale Bewegungen Präsident Biden gezwungen haben, eine Steuerreform einzuleiten, die höhere Steuern für Unternehmen und Superreiche vorsieht, hat das Fehlen solcher Bewegungen in Europa die Umsetzung dieser Pläne durch progressiver Kräfte verhindert. Eine wachsende Zahl von Regierungen und internationale Organisationen – der Internationale Währungsfonds (IWF), die Weltbank und die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) – plädieren jedoch für eine gerechtere Einkommensverteilung, um soziale Proteste einzudämmen und das Wirtschaftswachstum zu fördern. Die konservative Regierung des Vereinigten Königreichs hat beispielsweise eine Erhöhung der Körperschaftssteuer angekündigt, während sich die G7 und die OECD kürzlich für die Einführung einer globalen Mindeststeuer für multinationale Unternehmen eingesetzt haben.

Ist Steuergerechtigkeit heute möglich und wünschenswert?

Diese „Steuerschlacht” ist Teil der Krise des neoliberalen Kapitalismus. Angesichts der Gewinneinbußen im Zuge der Neoliberalisierungswelle der 1980er Jahre  haben Arbeitgeber und Regierungen Löhne und Gehälter gesenkt, den Sozialschutz abgebaut, das Kapital von Steuern befreit, die Investitionen in den Finanzsektor verlagert und die Kreditvergabe und das Lohnniveau der Spitzenverdiener*innen erhöht, um den Konsum zu steigern[14] Diese Maßnahmen haben die Arbeitslosigkeit erhöht und die Gewerkschaften geschwächt. So stiegen die Löhne weniger schnell als die Arbeitsproduktivität, was zu mehr Ungleichheit führte Seit den 1990er Jahren wurden in der Schweiz neoliberale Maßnahmen ergriffen[15]

Allerdings haben die Wirtschafts-, Gesundheits- und Umweltkrise und die sozialen Bewegungen in vielen Ländern dazu geführt, dass der neoliberale Kapitalismus in Frage gestellt wird. Sie haben die Idee entkräftet, dass wirtschaftlicher Wohlstand durch die Entlastung des Kapitals und den Druck auf die Arbeit erreicht werden kann. In diesem Zusammenhang wird die Steuerschlacht von zwei Visionen geleitet: die eine zielt auf die Rettung des neoliberalen Kapitalismus und des 1 % der Bevölkerung ab, die von ihm profitiert, die andere auf dessen Überwindung zugunsten einer Steuerpolitik für die 99 %.

In einer Zeit, in der sich die Fronten zwischen Kapital und Arbeit immer weiter verhärten, ist die Forderung nach einer Besteuerung zugunsten der 99 % zwar sinnvoll, aber nicht ausreichend. Die Besteuerung von Kapitaleinkommen setzt auf der Ebene der Vermögensverteilung an und ermöglicht es, Ungleichheiten zu korrigieren, ohne die kapitalistischen Produktionsverhältnisse anzutasten, die diese Ungleichheiten permanent hervorbringen[16]. Selbst im Falle einer progressiven Steuerpolitik werden die Kapitaleigner*innen genügend Spielraum haben, um neue Steuernormen zu umgehen oder die Kosten auf die Arbeitnehmer*innen abzuwälzen. In der Schweiz ist Steuerhinterziehung an der Tagesordnung. Erschwerend kommt hinzu, dass es keine sozialen Massenbewegungen gibt, die die Behörden dazu zwingen könnten, ein Steuersystem einzuführen, das Arbeitseinkommen begünstigt.

Schlussfolgerung

Das Verdienst der 99%-Initiative bestand darin, dass sie das Thema der Ungleichheit in den Mittelpunkt der politischen Debatte in der Schweiz gestellt hat. Die Tatsache, dass 35 % der Bevölkerung trotz der Covid-19-Krise, die den Wahlkampf behindert hat, dafür gestimmt haben, ist ein positives Signal. Die Abstimmung hat jedoch auch die Grenzen des Konzepts aufgezeigt. Ohne massive Mobilisierung wird es schwierig sein, in den kommenden Jahren in der Schweiz und im Rest der Welt Maßnahmen für mehr Steuergerechtigkeit durchzusetzen. Die Unternehmen wollen die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft in einem zunehmend instabilen internationalen Umfeld um jeden Preis erhalten. Ein Großteil der von den Regierungen angekündigten Maßnahmen wird daher an der Situation nichts ändern.

In der Schweiz stellt sich vor allem die Frage, ob die Debatten und Mobilisierungen rund um die 99%-Initiative zu einer Politik zugunsten der 99 % führen werden oder ob im Gegenzug die politische Rechte die Gelegenheit nutzen wird, das Kapital immer weniger zu besteuern. Unserer Meinung nach liegt es im Interesse der progressiven Kräfte, die positiven Aspekte dieser Abstimmung zu nutzen, um ein Kontrastprogramm zu dem von den 1 % geprägten Wirtschaftssystem zu entwickeln. Dieses Programm könnte sich auf eine Analyse der Mechanismen stützen, die den Ungleichheiten zugrunde liegen, d.h. auf die zentrale Funktion der kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Diese theoretische Anstrengung würde eine weitere erfordern: den Mut, mit der Kollegialität der Schweizer Politik zu brechen, um die Ursachen der Ungleichheiten, die mit den neuen Modalitäten der Arbeitsausbeutung zusammenhängen, zu bekämpfen. Dies bedeutet, jede Art von billigem Kompromiss abzulehnen, der die Kapitaleigner*innen von der Zweckmäßigkeit der vorgeschlagenen Maßnahmen überzeugen soll. Es geht darum, die Konfrontation zwischen Kapital und Arbeit nicht nur auf den Fernsehbildschirmen, sondern auch an den Arbeitsplätzen und im Alltagsleben der 99% zu beenden.

Aris Martinelli ist wissenschaftlicher Assistent an der Fachhochschule HEG Arc, Neuchâtel.