April 4, 2023

Die Notwendigkeit der Schuldzahlungsverweigerung

Anaïs Carton und Éric Toussaint

Dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank zufolge waren Ende 2022 bereits 60 % der Entwicklungsländer mit niedrigem Einkommen überschuldet oder wiesen ein hohes Überschuldungsrisiko auf. Die Aussetzungen der Schuldenzahlungen haben sich in den letzten Jahren vervielfacht. Seit 2020 sind neun Länder ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen: Argentinien, Ecuador, Libanon, Surinam, Sambia, Belize, Sri Lanka, Russland und Ghana. Weitere Länder stehen kurz vor einem Zahlungsausfall, darunter El Salvador, Peru, Tunesien, Ägypten, Kenia, Äthiopien, Malawi, Pakistan und die Türkei. In den letzten drei Jahren hat der IWF Kreditvereinbarungen mit rund hundert Regierungen unterzeichnet.

Heute ist es dringend geboten, sich mit der Problematik von Schuldenerlassen und Schuldzahlungsverweigerungen auseinanderzusetzen. Staaten, die sich heute einer vielschichtigen Klima- und Gesundheitskrise mit dramatischen wirtschaftlichen und sozialen Folgen gegenübersehen, sollten sich auf die Wiener Konvention von 1983 und die «grundlegende Veränderung der Umstände» berufen, um die Rückzahlung an ihre Gläubiger zu stoppen und ihre Bevölkerung zu unterstützen, da die Menschenrechte wirksam Vorrang vor dem Recht der Gläubiger haben müssen.

Das Übereinkommen von 1983, Grundpfeiler einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung

Der Grundsatz des Fortbestands der Schuldverpflichtungen im Falle eines Staats- oder Regierungswechsels steht im Mittelpunkt der Konflikte um die Staatsschulden. Die Geschichte zeigt jedoch deutlich, dass es hierbei keineswegs um ein unantastbares Prinzip geht und dass die Schuldverpflichtungen bei einem Staats- oder Regierungswechsel nicht automatisch fortbestehen. Immer wieder haben Regierungen ganz unterschiedlicher politischer Ausrichtungen Schuldverpflichtungen abgelehnt. Und auch ganz ohne Regierungs- oder Regimewechsel kann ein Staat seinen Gläubigern eine Schuldenreduktion abverlangen.

Am 7. April 2023 feiert die Wiener Konvention über Staatennachfolge in Staatsvermögen, Staatsarchive und Staatsschulden vom 8. April 1983 ihr 40-jähriges Bestehen. Sie wurde 1983 bei der Konferenz der Vereinten Nationen über die Staatennachfolge in Staatsvermögen, Staatsarchive und Staatsschulden[1] verabschiedet, die von der Vollversammlung der Vereinten Nationen einberufen wurde. Bei dieser Konvention stehen sich die Unabhängigkeits- und Dekolonialisierungsbewegungen, die die Übernahme der von ihren Vorgängerstaaten gemachten Schulden ablehnen, einerseits und die Verteidigung der kolonialen und postkolonialen herrschenden Ordnung durch die grossen Gläubigerstaaten andererseits gegenüber. Diese haben stets einen konservativen Ansatz verfolgt und betont, dass mit der Universalsukzession (universal succession) eine vollständige und automatische Übernahme der Rechte und Pflichten des Vorgängerstaates durch den Nachfolgestaat einhergeht.

Ein anderer Ansatz stützte sich hingegen darauf, dass «die Verpflichtungen der ehemaligen Kolonie (einschliesslich der Schulden) mit der Unabhängigkeit des neuen Staates erlöschen» («Tabula-rasa-» oder Clean-state-Doktrin). Dieser Ansatz wurde vor allem von Mohamed Bedjaoui vertreten, damals Richter am Internationalen Gerichtshof in Den Haag (1982-2001), ehemaliges Mitglied der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen (1965-1982) und Sonderberichterstatter in Sachen «Staatennachfolge in allen Belangen ausser Verträgen» (1968–1974, 1976–1981). Mohamed Bedjaoui hat den Kampf innerhalb der Völkerrechtskommission für die Emanzipierung der entkolonialisierten Staaten von ihrem wirtschaftlichen Joch, das ihnen die westlichen Mächte auferlegt hatten, geführt. Eines der Ziele dabei war es, diese jungen unabhängigen Staaten mit Rechtsmitteln auszustatten, um durch das Völkerrecht unilaterale Abkommen und vor allem Schuldzahlungsverweigerungen zu legitimieren.

Die Wiener Konvention von 1983, die diesen Ansatz widerspiegelt, wurde 1983 von 54 Staaten verabschiedet. Doch Mohamed Bedjaoui und der Bewegung der blockfreien Staaten ist es nicht gelungen, Unterstützung durch die Gläubigerstaaten zu erreichen. Da die Konvention nur von sieben Staaten ratifiziert und von sieben weiteren unterzeichnet wurde[2], ist sie bis heute nicht in Kraft getreten. Als rechtlich nicht bindende Grundsatzerklärung gilt sie heute dennoch als Referenz im Völkerrecht[3], da sich ihr Inhalt auf die Legitimität einer von der Vollversammlung der Vereinten Nationen angenommenen Resolution erstreckt.

Die lange Geschichte der Schuldzahlungsverweigerungen

Die Wiener Konvention jedoch kann sich auf wichtige Präzedenzfälle von einseitigen Schuldzahlungsverweigerungen im 19. und 20. Jahrhundert berufen (darunter auch von Ländern, die gegen diese Konvention gestimmt hatten!): Portugal 1837, Mexiko 1861 und 1867, USA 1865, 1870 und 1898, sowie Costa Rica nach einem Regimewechsel 1919. Im Februar 1918 lehnte die Sowjetregierung die Übernahme sämtlicher vom Zarenreich und von der Übergangsregierung, die im Oktober 1917 auf dieses folgte, eingegangenen Schulden ab. 1933-1934 haben die Vereinigten Staaten unter der Präsidentschaft von Franklin D. Roosevelt in allen bestehenden Schuldverträgen die Möglichkeit einer Rückzahlung an die Gläubiger in Gold zurückgewiesen[4]. Und dies nahm im 20. Jahrhundert kein Ende: Schuldenzahlungsverweigerung durch das revolutionäre China 1949-1952, durch Indonesien 1956 (von den Niederlanden geltend gemachte Schulden, die das Archipel bis 1949 als Kolonie verwalteten 1949), 1958 Weigerung von Conakry, der Hauptstadt Guineas, die Schulden der französischen Kolonialmacht zu übernehmen, Schuldzahlungsverweigerung durch Kuba 1959-1960, 1960 Weigerung des kongolesischen Premierministers Lumumba, die Schulden der belgischen Kolonialmacht zu übernehmen, 1962 Verweigerung der Übernahme der Schulden der französischen Kolonialmacht durch Algerien, 1979 Weigerung des Iran, die vom Schah eingegangenen Schulden für Waffenkäufe zu übernehmen[5].

Auch in jüngerer Zeit haben unter den 15 Republiken, die nach dem Zerfall der UdSSR im Jahre 1991 ihre Unabhängigkeit erlangten, die drei baltischen Staaten das Prinzip der Schuldennachfolge klar abgelehnt, zwei Staaten haben für die Schulden der ehemaligen Sowjetunion keinerlei Verantwortung übernommen (Aserbaidschan und Usbekistan), und die restlichen haben ihren Anteil an den Schulden nicht zum erwarteten Zeitpunkt zurückgezahlt.

1993 erlangt Eritrea nach dem Befreiungskrieg seine Unabhängigkeit von Äthiopien. Die neue Republik lehnt es ab, auch nur einen Teil der äthiopischen Schulden zu übernehmen[6]. Dieser Beschluss wird jedoch in der Folge nicht gutgeheissen. 1994 annulliert die Post-Apartheid-Regierung Nelson Mandelas die Schulden, die Südafrika von Namibia zurückgefordert hatte[7].

Die berühmtesten Fälle zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind die von Ost-Timor, das mit seiner Unabhängigkeit im Mai 2002 zu einem neuen Staat wird, der ohne Schulden gegründet wird. Oder der Fall des Südsudan, der sich nach einem Referendum zur Selbstbestimmung am 9. Juli 2011 von der Republik Sudan abspaltet. Im September 2012 unterzeichnen beide Länder eine Vereinbarung, kraft derer der Sudan alle externen Vermögenswerte und Schulden einbehält[8].

Auch in Europa wird dieser Grundsatz des Fortbestands der Schuldverpflichtungen durch Unabhängigkeitsbestrebungen in Frage gestellt. Den Unabhängigkeitsreferenden in Schottland (2014) und Katalonien (2017) gingen Debatten über die Schuldenfrage voraus. Das Vereinigte Königreich hat daher erklärt, davon auszugehen, dass ein unabhängiger schottischer Staat einen fairen Anteil der Schulden übernehmen würde, während die schottische Regierung vorbringt, dass Schottland mit seiner Unabhängigkeit mit der Vergangenheit «tabula rasa» machen würde[9]. In Spanien hatte der damaligen Vizepräsident Kataloniens, Oriol Junqueras, bereits 2014 vorgeschlagen, dass Katalonien einen Teil der spanischen Staatsschulden übernehmen würde, falls sich Spanien bereit erklärt, über die Übertragung seiner Vermögenswerte nach Katalonien zu verhandeln[10].

Vorrang von Menschenrechten und Reparationen

Auch wenn eine Übertragung der Schuldverpflichtungen noch lange nicht automatisch erfolgt, so steht mit der Ratifizierung der Konvention von 1983 für die ehemaligen Kolonien noch immer viel auf dem Spiel, zumal sie Artikel enthält, die Reparationszahlungen seitens der ehemaligen Kolonialmächte Tür und Tor öffnen würden. Diese Reparationen könnten im Übrigen in Form von Schuldenerlassen oder Verstaatlichungen ohne Entschädigungen erfolgen, wie von Mohamed Bedjaoui vorgesehen.

Und auch ganz ohne Regierungs- oder Regimewechsel kann ein Staat seinen Gläubigern eine Schuldenreduktion abverlangen. Dies wurde durch einen Erlass des Tribunals des Europäischen Gerichtshofs vom 23. Mai 2019 bestätigt. Dieser besagt, dass ein Staat nach internationalem Recht seine Schuldverpflichtungen unilateral modifizieren kann, um seine Bevölkerung zu unterstützen, indem er sich zu Recht auf das Prinzip rebus sic stantibus[11] (veränderte Umstände) beruft. Das von Griechenland 2012 verabschiedete Gesetz, das einen Zwangstausch von Schuldtiteln gegen neue Titel mit einer Wertminderung von über 50 % vorschrieb, stellte daher keine Verletzung seiner Verpflichtungen gegenüber seinen Gläubigern dar.[12]

Staaten, die sich heute einer internationalen Wirtschaftskrise infolge der Klima- und Gesundheitskrise gegenübersehen, sollten sich auf die «grundlegende Veränderung der Umstände» berufen, um die Rückzahlung an ihre Gläubiger zu stoppen und ihre Bevölkerung zu unterstützen, da die Menschenrechte wirksam Vorrang vor dem Recht der Gläubiger haben müssen.

Anaïs Carton und Éric Toussaint, CADTM international
Die Co-Autor/-innen danken Tijana Okić, Maxime Perriot, Jeanne Planche, Ana Podvršič und Andreja Zivkovic für ihr Korrektorat und ihre Hilfe bei der Aktualisierung der Daten. Die Co-Autor/-innen haften ggf. für in diesem Artikel enthaltene Fehler.

[1] Jean Monnier, « La Convention de Vienne sur la succession d’États en matière de biens, archives et dettes d’État », Annuaire français de droit international, Bd. 30, 1984, S.221-229

[2] Unterzeichnerstaaten: Algerien, Argentinien, Ägypten, Montenegro, Niger, Peru, Serbien. Staaten, die die Konvention ratifiziert haben: Kroatien, Estland, Georgien, Liberia, Nordmazedonien, Slowenien und Ukraine. Artikel 50 der Konvention lautet wie folgt: «1. Dieses Übereinkommen tritt mit dem dreißigsten Tag nach Hinterlegung der fünfzehnten Ratifikations- oder Beitrittsurkunde in Kraft

[3] Anthony Aust, «Convention de Vienne sur la succession d’États en matière de biens, archives et dettes d’État», Introductory Note, United Nations Audiovisual Library of International Law, 2009.

[4] Sebastian Edwards, American Default : The Untold Story of FDR, the Supreme Court, and the Battle over Gold, Princeton University Press, 2018.

[5] Éric Toussaint, «Un livre qui remet la dette odieuse à l’ordre du jour», 14. Januar 2022, und «La doctrine de la Dette Odieuse dans le contexte de l’Afrique aujourd’hui», publiziert am 7. November 2022, vorgestellt bei der Konferenz «African Economic and Monetary Sovereignty Initiative» in Dakar im Oktober 2022.

[6] Jeff King, The Doctrine of Odious Debt in International Law. A restatement., Cambridge University Press, 2016, S. 106.

[7] Ebd., S. 107.

[8] Agreement on Certain Economic Matters : Division of Assets and Liabilities, Arrears and Claims and Joint Approach to the International Community, Addis-Abeba, Äthiopien, 27. September 2012 und Jasmine Moussa, «L’indépendance du Soudan du sud et la Convention de Vienne sur la succession d’États en matière de droit des traités», in: G. Distefano, G. Gaggioli, A. Hêche (Hg.), La convention de Vienne de 1978 sur la succession d’États en matière de traités. Kommentare Artikel für Artikel und thematische Studien, Brüssel, Bruylant, 2016.

[9] Am 18. September 2014 sprachen sich 55,3 % der abgegebenen Wählerstimmen gegen die Unabhängigkeit Schottlands aus. Ein neues Referendum soll 2023 stattfinden.

[10] Maiol Roger, «Si España No Acepta Negociar, Cataluña No Pagará Su Deuda», El País, 1. November 2014.

[11] https://fr.wiktionary.org/wiki/clausula_rebus_sic_stantibus

[12] Éric Toussaint, «Le principe de droit selon lequel un État doit respecter les obligations qu’il a contractées n’est pas absolu», publiziert in  Le Monde am 22. Januar 2021.