Januar 18, 2021

Dominikanische Republik: Herkunft Haiti

Hans-Ulrich Dillmann

Fast einer viertel Million Menschen wollte die Dominikanische Republik die Staatsbürgerschaft aberkennen – sogar rückwirkend. Noch immer fürchten viele die Behörden.


Mit einer 2010 in Kraft getretenen Verfassungsänderung erkannte die Dominikanische Republik fast 250.000 Menschen ihre Staatsbürgerschaft ab. Der Beschluss, den 209 von 215 Deputierten und Senatoren unterzeichnet hatten, machte auf einen Schlag eine viertel Million Menschen staatenlos. Betroffen waren auf dominikanischem Territorium geborene Kinder von Eltern, die aus dem Nachbarland Haiti eingewandert waren.

Damit änderte das Land das seit der Staatsgründung 1844 geltende Territorialprinzip, nach dem jede Person, die innerhalb der Landesgrenze geboren wurde, den Anspruch auf die dominikanische Staatsbürgerschaft hatte. Im Staatsrecht ist dieses Prinzip auch als „Jus soli“, als „Recht des Bodens“ bekannt. Ab 2010 galt hingegen nach Artikel 18 der Verfassung das Abstammungsrecht, das „Jus sanguinis“ oder „Recht des Blutes“. Danach ist Dominikanerin beziehungsweise Dominikaner, wer Tochter oder Sohn einer dominikanischen Mutter oder eines dominikanischen Vaters ist. Die Neuregelung galt sogar für Personen, die bereits die dominikanische Staatsbürgerschaft besaßen. Außerdem schloss ein neu formulierter Absatz von der Staatsbürgerschaft all jene aus, die sich vor dem Stichtag illegal auf dem Staatsgebiet aufhielten, insbesondere die „Haitianos“ aus dem Nachbarland.


Koloniales Erbe Spaniens und Frankreichs:
Mehrmals wurde Hispaniola zentral regiert und
wieder geteilt. Die Spannungen bleiben bis heute

Die Dominikanische Republik und Haiti teilen sich die zweitgrößte Karibikinsel. Der Westen ist sprachlich und kulturell frankofon und afrikanisch dominiert, der Osten hispanisch. Das Verhältnis beider Staaten ist angespannt, seit sich die Dominikanische Republik ihre staatliche Unabhängigkeit 1844 vom Nachbarland Haiti erkämpfte. Zugleich ist Haiti eines der ärmsten Länder Lateinamerikas. Das Pro-Kopf-Einkommen liegt bei nur einem Zehntel desjenigen in der Dominikanischen Republik. Etwa vier Fünftel der haitianischen Bevölkerung lebt an oder unterhalb der Armutsgrenze.

Entsprechend wanderten und wandern viele Menschen aus Haiti in das Nachbarland aus, um dort zu arbeiten, vor allem in der Bauindustrie und in der Landwirtschaft. Nach Angaben des dominikanischen Büros für Statistik kommen 87 Prozent der in der Dominikanischen Republik lebenden 571.000 Ausländer*innen aus Haiti – dazu eine nicht erfasste Zahl von illegal und temporär eingewanderten Arbeitssuchenden.


Früher war die Dominikanische Republik für ihre
Agrarexporte bekannt. Heute ist es die
Urlaubsindustrie, die nach Arbeitskräften verlangt

Die Mehrheit der jetzt betroffenen Migrant*innen aus Haiti kam seit den 1930er-Jahren auf der Grundlage zwischenstaatlicher Vereinbarungen in die Dominikanische Republik. Dort wurden sie während der Erntezeit auf den Zuckerrohrplantagen als Braceros, als Tagelöhner, eingesetzt. Ihr zeitlich begrenzter Ernteeinsatz wurde – von der dominikanischen Verwaltung geduldet – wegen des ganzjährigen Bedarfs der Zuckerrohrindustrie aufgeweicht. Die Familien der Arbeitskräfte siedelten sich in unmittelbarer Nähe der Felder und Verarbeitungsbetriebe an, abgesondert in einfachen Siedlungen, Bateys genannt. Ihre Nachkommen wurden trotz mancher Diskriminierungen, etwa wegen dunklerer Hautfarbe oder französisch klingender Namen, nicht nur geduldet, sondern als dominikanische Staatsangehörige erfasst. Nach altem Verfassungsrecht erhielten sie Geburtsurkunden und Ausweispapiere, die für Schulbesuch und Krankenhausaufenthalt, Bank- und Geldgeschäfte erforderlich sind.

Nationalistische Politiker*innen stellten den Aufenthaltsstatus und die Staatsbürgerschaft der Haitianos zwar immer wieder infrage, juristisch wurde beides jedoch nicht angetastet. Dies änderte sich erst mit dem Eintritt nationalistischer Parteien in die Regierung Anfang der 2000er-Jahre. Die lokalen Büros der zuständigen zentralen Wahlbehörde begannen, die gültigen Ausweispapiere als „unberechtigt“ anzuzweifeln. Cédulas genannte Personalausweise wurden eingezogen oder nicht erneuert, die Ausstellung von Geburtsurkunden verweigert.


Im Osten der gemeinsamen Insel lebt es sich
besser. Hier sind 20 Prozent der Bevölkerung
bedrohlich arm, in Haiti allerdings 60 Prozent

Als Betroffene sich organisierten und vor den Gerichten des Landes ebenso wie vor dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte klagten, verschärfte das Oberste Verfassungsgericht in Santo Domingo 2013 die Bestimmungen nochmals. Es ordnete an, die neuen Bestimmungen über die Staatsbürgerschaft auf Grundlage der Geburtsurkunden bis ins Jahr 1929 anzuwenden – ein Verstoß gegen das weltweit anerkannte Rückwirkungsverbot.

Auf internationale Proteste hin reagierten Regierung und beide Parlamentskammern 2014 mit einem modifizierten Einbürgerungsgesetz. Diesem zufolge können alle nach der neuen Gesetzgebung „illegalen Personen“, die standesamtlich registriert waren, als Staatsbürger*innen anerkannt werden. Außerdem sollen Haitianos ohne Eintrag im Geburtenregister Haitis und ohne Bezug zum Herkunftsland ihrer Vorfahren das Recht haben, innerhalb von zwei Jahren eingebürgert zu werden. Dennoch hatten fünf Jahre später noch etwa 50 Prozent der rund 245.000 Betroffenen keine Geburtsurkunden und Ausweise, weil ihre Fälle nach der modifizierten Gesetzgebung noch nicht abschließend beschieden wurden. Sie sind nach wie vor der behördlichen Willkür unterworfen.

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Der Artikel wurde im Atlas der Staatenlosen auf Französisch, Englisch und Deutsch veröffentlicht.