Oktober 17, 2024

Ein Friedensnobelpreis für Nihon Hidankyo: Ein kraftvolles Plädoyer für den Frieden

Eva Wuchold

In einer Welt, die zunehmend von geopolitischen Spannungen und nuklearen Bedrohungen geprägt ist, erinnert uns die Verleihung des Friedensnobelpreises 2024 an Nihon Hidankyo an eine drängende und fundamentale Wahrheit: Atomwaffen sind die zerstörerischsten Waffen, die die Menschheit je entwickelt hat, und ihre Anwendung muss für immer verhindert werden. Die Stimmen der Hibakusha – der Überlebenden der Atombombenangriffe auf Hiroshima und Nagasaki – sind nicht nur Zeugen vergangener Katastrophen, sondern auch Mahner für die Zukunft.


Seit dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945 hat sich ein globales Bewusstsein für die unermesslichen Gefahren dieser Waffen entwickelt. Doch die Welt scheint heute gefährlich nahe daran, diese Lehren zu vergessen. In einer Zeit, in der Atommächte ihre Arsenale modernisieren und neue Staaten nach Nuklearwaffen streben, stehen wir erneut am Rande eines möglichen nuklearen Desasters.

Nihon Hidankyo, die Konföderation der japanischen A- und H-Bombenopfer, hat es sich zur Aufgabe gemacht, der Welt die unvorstellbaren humanitären Folgen von Atomwaffen bewusst zu machen. Diese Organisation, die vor fast 70 Jahren gegründet wurde, vereint die Stimmen der Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki sowie der Opfer von Nukleartests im Pazifik. „Wir versuchen, der Welt die humanitären Konsequenzen zu erklären, wenn die Atombombe ein drittes Mal eingesetzt wird. Wir müssen dieses Risiko stoppen“, sagt Masako Wada, Vizegeneralsekretärin von Nihon Hidankyo. „Wir müssen weitermachen, um unseren Wunsch und unsere Hoffnung auf eine Welt ohne Atomwaffen zu vermitteln – das ist unsere Mission. Das ist unsere Mission als Hibakusha.“[1]

Diese Warnung ist heute aktueller denn je. Die modernisierten Atomwaffen von heute haben ein vielfach größeres Zerstörungspotenzial als die Bomben von 1945. Sie könnten Millionen Menschenleben auslöschen, die Umwelt für Generationen unbewohnbar machen und globale Klimaauswirkungen haben, die unsere Zivilisation gefährden.

Die Bedeutung internationaler Verträge zum Schutz der Menschheit

Ein entscheidender Schritt in Richtung nuklearer Abrüstung war die Schaffung internationaler Verträge, die den Einsatz und die Verbreitung von Atomwaffen einschränken oder verbieten. Der Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (NVV), der 1968 in Kraft trat, stellt eine der wichtigsten Vereinbarungen dar. Der NVV hat das Ziel, die Verbreitung von Atomwaffen zu verhindern, die friedliche Nutzung von Kernenergie zu fördern und die vollständige nukleare Abrüstung anzustreben. Bis heute haben 191 Staaten den NVV unterzeichnet, was ihn zu einem der am weitesten akzeptierten Abrüstungsverträge macht.

Ein weiteres Beispiel ist der Vertrag über das Verbot von Atomwaffen (TPNW), der 2021 in Kraft trat und den Besitz und die Anwendung von Atomwaffen vollständig verbietet. Auch wenn die Atommächte diesen Vertrag bislang nicht anerkennen, bleibt er ein wichtiges Signal für das globale Engagement zur vollständigen Abschaffung dieser Waffen.

Es ist jedoch ebenso alarmierend, dass bestehende Verträge verletzt oder gebrochen werden. Ein markantes Beispiel ist der Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme (INF-Vertrag) zwischen den USA und Russland, der 1987 den Abbau einer ganzen Kategorie von Atomwaffen vorsah. Dieser Vertrag wurde 2019 von den USA gekündigt, nachdem sie Russland wiederholt beschuldigt hatten, gegen die Bestimmungen des Vertrags verstoßen zu haben. Diese Entwicklung hat das Risiko eines neuen nuklearen Wettrüstens in Europa erheblich verstärkt.

Der Friedensnobelpreis für Nihon Hidankyo ist daher nicht nur eine Anerkennung ihrer Arbeit, sondern auch eine Erinnerung an die Bedeutung dieser internationalen Regelwerke. Doch der Respekt für solche Verträge muss auch bedeuten, die Institutionen, die sie überwachen und durchsetzen, zu stärken. Insbesondere die Vereinten Nationen spielen eine Schlüsselrolle bei der Überwachung und Förderung der nuklearen Abrüstung. Ohne starke internationale Institutionen droht die Auflösung wichtiger Regelwerke und damit eine unkontrollierte Eskalation der nuklearen Bedrohung.

Die Bedeutung des „nuklearen Tabus“ und die Gefahr seiner Erosion

In den letzten Jahrzehnten hat sich eine starke internationale Norm gegen den Einsatz von Atomwaffen entwickelt, die als „nukleares Tabu“ bezeichnet wird. Dieses Tabu ist das Ergebnis jahrelanger Bemühungen von Überlebenden, Aktivistinnen, Diplomatinnen und Friedensorganisationen, die Welt an die unermesslichen humanitären Kosten eines Atomwaffeneinsatzes zu erinnern. Die Tatsache, dass seit fast 80 Jahren keine Atomwaffen in Konflikten eingesetzt wurden, ist ein Beweis für den Erfolg dieser Bemühungen.

Doch dieses Tabu steht heute unter erheblichem Druck. Mehrere Atommächte, darunter die Vereinigten Staaten, Russland und China, haben ihre Atomwaffenarsenale modernisiert und neue nukleare Strategien entwickelt, die den Einsatz von Atomwaffen wieder als mögliche Option im Rahmen militärischer Konflikte betrachten. Insbesondere der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die globale nukleare Bedrohung erneut ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Russlands Präsident Putin hat wiederholt angedeutet, dass der Einsatz von Atomwaffen eine mögliche Option sein könnte, und diese Rhetorik schürt weltweit große Besorgnis.

„Die Welt bewegt sich rückwärts in Sachen nukleare Abrüstung. Der russische Angriff auf die Ukraine hat unsagbares menschliches Leid verursacht und das Risiko eines Atomkriegs erhöht. Anstelle von Wut empfinde ich Trauer und Angst darüber, wie tief Menschen in die Dunkelheit fallen können“[2], erklärt Masako Wada. Ihre Worte spiegeln die tiefe Sorge wider, dass die Welt von den Lehren der Vergangenheit abrückt und sich erneut in Richtung eines nuklearen Konflikts bewegt. Die Modernisierung der Atomwaffenarsenale, die Ausweitung der nuklearen Doktrinen und die steigenden geopolitischen Spannungen tragen zu dieser wachsenden Gefahr bei.

Das „nukleare Tabu“ darf nicht erodieren. Es ist eine der wichtigsten Errungenschaften der internationalen Friedensbewegung und ein Schutzmechanismus gegen die schlimmsten Auswüchse menschlicher Zerstörungskraft. Die Arbeit von Nihon Hidankyo und anderen Organisationen, die sich für nukleare Abrüstung einsetzen, erinnert uns daran, wie wichtig es ist, diese Norm aufrechtzuerhalten und zu stärken.

Frieden als aktive Verpflichtung

Frieden ist nicht einfach die Abwesenheit von Krieg – er erfordert aktive Bemühungen, um die Bedingungen zu schaffen, unter denen Gewalt und Konflikte vermieden werden können. Die Arbeit von Nihon Hidankyo zeigt uns, dass der Kampf für den Frieden weit mehr umfasst als nur die Abschaffung von Atomwaffen. Es geht darum, die Menschheit zu mobilisieren, Ungerechtigkeit und Ungleichheit abzubauen, den Dialog zu fördern und Konflikte auf diplomatischem Wege zu lösen.

Die Verleihung des Friedensnobelpreises an Nihon Hidankyo unterstreicht, dass es engagierte Einzelpersonen und Bewegungen sind, die den Unterschied machen können. Alfred Nobels Vision war es, Menschen zu ehren, die durch ihr Handeln einen bedeutenden Beitrag zum Frieden leisten. Die Hibakusha, die unvorstellbares Leid erfahren haben, haben sich entschieden, ihre schmerzhaften Erinnerungen in einen Appell für den Frieden zu verwandeln – ein Appell, der heute wichtiger ist als je zuvor.

Ein Weckruf für die globale Gemeinschaft

Die nukleare Abrüstung ist eine der drängendsten Herausforderungen unserer Zeit. Die Arbeit von Nihon Hidankyo zeigt uns, dass der Weg zu einer friedlicheren Welt nicht einfach ist, aber notwendig. Jede Eskalation nuklearer Bedrohungen bringt uns einen Schritt näher an die Katastrophe. Doch die Bemühungen der Hibakusha und anderer Friedensaktivist*innen erinnern uns daran, dass es Alternativen gibt: Dialog, Diplomatie und eine gemeinsame Vision für den Frieden.

Es ist an der Zeit, dass die internationale Gemeinschaft nicht nur reagiert, sondern proaktiv handelt. Die Modernisierung von Atomwaffenarsenalen muss gestoppt und die internationalen Abrüstungsabkommen müssen wiederbelebt werden. Der Friedensnobelpreis für Nihon Hidankyo ist nicht nur eine Anerkennung ihrer jahrzehntelangen Bemühungen, sondern auch ein Weckruf an uns alle, die Verantwortung für eine friedlichere Zukunft zu übernehmen. Ebenso wichtig ist es, die Institutionen wie die Vereinten Nationen, die diese Verträge überwachen und umsetzen, zu stärken, damit sie ihrer Aufgabe gerecht werden können.

Fazit: Ein Aufruf zum Handeln

Der Friedensnobelpreis für Nihon Hidankyo ist ein starkes Signal für die Weltgemeinschaft: Frieden ist möglich, aber er muss aktiv verteidigt werden. Die Lehren aus Hiroshima und Nagasaki sind heute so relevant wie vor 80 Jahren. In einer Zeit, in der die nukleare Bedrohung wieder zunimmt, müssen wir uns gemeinsam für eine Welt ohne Atomwaffen einsetzen. Die Arbeit von Nihon Hidankyo zeigt uns, dass der Weg zum Frieden durch Engagement, Erinnerung und gemeinsame Anstrengungen geebnet werden kann. Es liegt an uns allen, diesen Weg weiterzugehen, bevor es zu spät ist.

Eva Wuchold ist Programmdirektorin für soziale Rechte im Genfer Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Seit sie 2012 zur Stiftung kam, spielt sie eine Schlüsselrolle bei der Förderung ihrer globalen Initiativen zu sozialen und Menschenrechten.

[1] Interview Robin Hardy auf der Website The Nobel Peace Prize: https://www.nobelprize.org/prizes/peace/2024/nihon-hidankyo/interview/

[2] ebenda