Januar 19, 2021

Europa: Schatten der Vielfalt

Chris Nash

Der politische Wille, die Staatenlosigkeit in Europa zu beenden, lässt nach. Doch es gibt auch Fortschritte. Auffällig ist, dass über Staatenlose diskutiert wird, sie selbst aber kaum Gehör finden.


Mindestens eine halbe Million Menschen in Europa ist staatenlos. Die wahre Zahl dürfte höher liegen, wenn man bedenkt, wie schwierig es ist, Menschen zu zählen, die „juristisch unsichtbar“ sind. Es gibt verschiedene Ursachen der Staatenlosigkeit in Europa, doch insgesamt ähneln sie denen in anderen Teilen der Welt. So hatte die Auflösung der Sowjetunion in den baltischen und osteuropäischen Staaten einen starken Anstieg der Staatenlosigkeit zur Folge. Im ehemaligen Jugoslawien fielen einige Menschen durch die von den neuen Staatsbürgerschaftsgesetzen gelassenen Lücken. Obwohl es vielen Betroffenen seither gelungen ist, eine Staatsbürgerschaft zu erlangen, ist dies beispielsweise bei vielen Roma nach wie vor nicht der Fall.

In ganz Europa führen Diskriminierung, Rechtslücken und die Ausgrenzung von Minderheiten auch weiterhin dazu, dass Menschen staatenlos werden. In den vergangenen Jahren haben zudem viele Menschen aus Syrien, dem Irak und anderen Ländern Sicherheit in Europa gesucht. Daten der Europäischen Union (EU) zeigen, dass Tausende von Menschen mit „unbekannter“ oder keiner Nationalität in den vergangenen Jahren Asyl beantragt haben.


Von Hunderttausenden bis zu einigen wenigen
Staatenlosen reicht das Spektrum in
Europa. Die Dunkelziffern kennt jedoch niemand

Staatenlosigkeit ist kein neues Phänomen. Seit mindestens einer Generation existiert ein international gültiges, rechtliches Rahmenwerk, das Staatenlosen Schutz garantiert und klare Regeln festlegt, wie Staatenlosigkeit zu verhindern ist. Alle Länder in Europa haben wenigstens einige dieser grundlegenden Standards unterzeichnet. Hätten sie diese Verpflichtungen tatsächlich vollständig in nationales Recht umgesetzt, wäre die Staatenlosigkeit auf diesem Kontinent inzwischen kein Thema mehr. So vielversprechend der Anfang war, so zögerlich sind jetzt die nächsten Schritte. Der politische Wille, dieses grundsätzlich lösbare Problem anzugehen, scheint geschwunden zu sein.

Im Jahr 2012 wurde das Europäische Netzwerk über Staatenlosigkeit (ENS) gegründet, um zivilgesellschaftliche Organisationen zu koordinieren und Reformen zu fordern. Das ENS arbeitet mit europäischen und internationalen Institutionen zusammen, um bei den Verantwortlichen das Bewusstsein zu stärken, dass es ein Recht auf Staatsbürgerschaft gibt. Der 2018 ins Leben gerufene „Staatenlosigkeits-Index“ verfolgt die Bemühungen europäischer Länder. Er ermöglicht den länderübergreifenden Vergleich von Gesetzen, Politik und konkreten Maßnahmen. Der Index kann überdies bei entsprechender Lobbyarbeit herangezogen werden und staatlichen Stellen Instrumente an die Hand geben, um bessere Gesetze auszuarbeiten.

Es fällt jedoch auf, dass die Staatenlosen selbst allzu oft nicht Teil der Debatte sind. Oft ist es auch gar nicht leicht für all diejenigen, die sich mit dem Thema befassen, mit den Staatenlosen in Kontakt zu treten. Denn diese lassen sich nicht in eindeutige Kategorien einordnen, sondern unterscheiden sich in Hinblick auf Geschlecht, Alter, sexuelle Orientierung, sozioökonomischen Hintergrund, Qualifikationen, Sprache, Religion und ethnische Zugehörigkeit. Die Ursachen wie die Folgen der Staatenlosigkeit können jedoch nur angegangen werden, wenn die unterschiedlichen Identitäten und Erfahrungen der Betroffenen berücksichtigt werden. Alles andere zeigt lediglich, dass die Zusammenhänge zwischen Staatenlosigkeit auf der einen Seite und Rassismus oder Patriarchat sowie weiteren Formen der Unterdrückung auf der anderen nur unzureichend verstanden wurden. Dadurch erscheint die Staatenlosigkeit allzu oft als ein bloßes Nischenthema.


Bisher sind Versuche einer einheitlichen
Staatenlosigkeitspolitik in Europa und sogar in
der Europäischen Union gescheitert

Noch immer werden auf dem ganzen Kontinent Kinder in die Staatenlosigkeit hineingeboren. Laut einer Untersuchung des ENS weist die Gesetzgebung in der Hälfte der europäischen Länder Lücken auf. Nur Norwegen und Albanien haben in jüngerer Zeit Reformen umgesetzt. Das aber bedeutet, dass immer noch Tausende von Kindern in Europa staatenlos geboren werden. Nur elf europäische Staaten haben Verfahren zur Identifizierung von Staatenlosen, um ihnen daraufhin Rechte zu gewähren. Viele Betroffene befinden sich daher in einem rechtlichen Schwebezustand: Sie haben keine Möglichkeit, ihren Aufenthalt zu legalisieren, und wenn sie in ein anderes Land ziehen, riskieren sie Verelendung oder gar ihre Festnahme. Außerdem sind viele Tausende von Geflüchteten in Europa staatenlos, aber Asylrecht und -politik werden dieser Herausforderung nicht gerecht.

Wenn die Staatenlosigkeit in Europa beendet werden soll, müssen neue Koalitionen geschaffen werden, die auch staatenlose Menschen einschließen. Auch müssen Gesetzgebung, Politik und Praxis überwacht werden, um die Regierungen zur Rechenschaft zu ziehen. Immerhin sind im vergangenen Jahrzehnt einige Fortschritte erzielt worden. Sieben europäische Staaten sind den Übereinkommen über Staatenlosigkeit beigetreten, neun haben Gesetze reformiert, um Staatenlosen Schutz zu gewähren oder Staatenlosigkeit zu verhindern. Die EU und der Europarat haben politische Zusagen gemacht. Aber es muss noch viel mehr geschehen – und zwar schnell –, wenn Europa die Geißel der Staatenlosigkeit abschütteln will.

Dieser Beitrag steht unter folgender Urheberrechtslizenz: CC-BY 4.0

Der Artikel wurde im Atlas der Staatenlosen auf Französisch, Englisch und Deutsch veröffentlicht.