Januar 19, 2021

Inseln: Staaten im Untergang

Graham Pote

Durch den Anstieg des Meeresspiegels und die Ausbreitung der Wüsten werden immer mehr Menschen von ihrem Land vertrieben. Klimageflüchtete laufen große Gefahr, staatenlos zu werden. Der rechtliche Rahmen für Staaten, in denen es künftig kein bewohnbares Land mehr geben wird, muss rechtzeitig geschaffen werden.


Der Anstieg des Meeresspiegels wird das Leben in einigen Küstengebieten unmöglich machen. Das Land wird entweder überflutet oder es dringt so viel Wasser ein, dass Gebäude unbewohnbar werden und Nutzpflanzen durch Staunässe oder Versalzung sterben. Tief gelegene Inselstaaten wie Kiribati, Tuvalu und die Marshallinseln könnten überflutet werden und ganz im Meer verschwinden. Durch die Ausbreitung der Wüsten werden Teile Äthiopiens, Eritreas, Somalias und des Sudan wohl zu trocken, um noch bewohnbar zu sein. Wenn der Klimawandel die Menschen verdrängt, löscht er auch ihre Kulturen, ihre Geschichte und ihr Wissen aus. Er bedroht die gesamte Existenz ihrer Heimatstaaten.

Ein Staat hat, um als solcher anerkannt zu werden, vier völkerrechtliche Voraussetzungen zu erfüllen: Er muss über Land verfügen, eine dauerhaft ansässige Bevölkerung aufweisen, eine eigene Regierung haben und unabhängig sein. Die gegenwärtigen völkerrechtlichen und politischen Regeln sehen die Auflösung eines Staates nur durch Eroberung, Rechtsnachfolge oder Zusammenlegung vor. Es gibt jedoch keine Bestimmungen für einen Staat, der infolge des Klimawandels vom Verschwinden bedroht ist. Deshalb ist es so wichtig, eine Antwort auf die Frage zu finden, was mit Staaten geschieht, die eine oder mehrere der vier oben genannten Anforderungen nicht erfüllen.

Am wichtigsten ist dabei die Landfrage. Die Konvention von Montevideo, die ein eigenes Territorium als Voraussetzung für die Staatlichkeit festlegt, besagt in Artikel 1 lediglich, dass das Territorium definiert, nicht aber, dass es dauerhaft bewohnbar sein muss. Es heißt darin auch nicht, dass die Bevölkerung in diesem spezifischen Territorium ansässig sein muss. Daher sollte die Frage des Territoriums zugunsten eines sachdienlicheren Kriteriums ignoriert werden, nämlich der Fähigkeit des Staates, die Bedürfnisse und Interessen seiner Einwohner*innen – von denen viele vertrieben worden sein werden – zu managen.


Der Meeresanstieg bis 2100 kann durch
bessere Methoden immer genauer kalkuliert
werden – und wird immer bedrohlicher

Die Frage wird sein, ob eine Regierung ihre Aufgaben überhaupt für eine über die Welt verstreute Bevölkerung erfüllen kann. Der Klimawandel wird viele Menschen zur Migration zwingen, lange bevor ein Staat verschwindet. Manche werden gewiss in ihrer Heimat zu bleiben versuchen, aber viele andere werden zum Abwandern gezwungen sein, wenn ihr Land unbewohnbar wird.

Dabei haben die Staaten, deren Souveränität und damit ihr Überleben akut bedroht ist, nur einen winzigen Teil zu den Emissionen beigetragen, die die weltweite Klimakrise verursachen. Sie trifft also keine Schuld daran. Die internationale Gemeinschaft muss dies anerkennen und entsprechend reagieren.


Gletscherschmelze und ozeanische Erwärmung,
aber auch geänderte Meeresströmungen
und stärkere Stürme bedrohen die Staaten

Der genaue Beitrag der einzelnen Staaten zu den globalen Gesamtemissionen lässt sich nur schwer messen. Selbst wenn das möglich wäre, ist es äußerst unwahrscheinlich, dass Staaten eine juristisch brauchbare Verantwortung für ihren Anteil übernehmen. Aus rechtlicher Sicht verstießen die Verursacher der weltweiten Emissionen vor 1990 nicht einmal gegen das Gesetz. Es gab schlicht noch keine rechtlichen Standards für den Treibhausgasausstoß. Von 1990 an aber, als die Auswirkungen und Gefahren des Klimawandels mit einiger Genauigkeit absehbar wurden, stellt jegliches Versäumnis von Emittenten, Schaden von anderen Staaten und den globalen Gemeinschaftsgütern abzuwenden, einen klaren Verstoß gegen das Völkerrecht dar. Die Regel, keinen Schaden anzurichten (no harm rule), ist ein weithin anerkannter Grundsatz des Völkergewohnheitsrechts: Jeder Staat ist demnach verpflichtet, das Risiko von Umweltschäden für andere Staaten nach Möglichkeit zu verhindern oder zu verringern und zu kontrollieren. Mit Blick auf die Zukunft ist die internationale Gemeinschaft unbestreitbar zum Handeln verpflichtet.

Was passiert schließlich, wenn ein Staat unbewohnbar wird und seine Bevölkerung geflohen ist? Die Regierung ist möglicherweise nicht in der Lage, ein von Überschwemmungen oder Wüstenbildung betroffenes Gebiet zu verwalten und die vertriebene Bevölkerung mit den notwendigen Leistungen zu versorgen. Es ist unwahrscheinlich, dass die Vertriebenen nach streng rechtlicher Definition als Geflüchtete anerkannt werden, denn sie sind nicht auf der Flucht vor Gewalt oder Verfolgung. Sie gelten auch nicht als staatenlos, solange ihr Heimatstaat rechtlich noch existiert, selbst wenn er über keine effektive Regierung oder kein bewohnbares Land mehr verfügt. Aus diesem Grund ist es entscheidend, dass Regierungen auch in dieser Situation der vertriebenen Bevölkerung zur Verfügung stehen, um die Schaffung einer neuen Kategorie zu verhindern: Menschen, die „faktisch staatenlos“ sind.


Seit 1990 sind die Folgen von CO2-Emissionen für die
Ozeane öffentlich bekannt. Der Anteil an der
Verantwortung dafür lässt sich weltweit klar aufzeigen

Eine Geflüchtetenkrise lässt sich nur verhindern, wenn schon im Vorfeld die entsprechenden Rahmenbedingungen geschaffen werden. So müssen die durch die Klimakrise vertriebenen Menschen in den Gastländern einen dauerhaften Aufenthaltsstatus erhalten. Die Regierungen des Heimat- und des Gaststaates sollten sich auf die Rechte einigen, die die Vertriebenen in Anspruch nehmen können. Es muss alles getan werden, um die völlige Auslöschung von Staaten zu vermeiden, damit durch die Klimakrise keine neuen staatenlosen Bevölkerungsgruppen entstehen.

Dieser Beitrag steht unter folgender Urheberrechtslizenz: CC-BY 4.0

Der Artikel wurde im Atlas der Staatenlosen auf Französisch, Englisch und Deutsch veröffentlicht.