Januar 18, 2021

Irak: Am seltensten ist Frieden

Zahra Albarazi

Im Irak sind Menschen infolge vieler Konflikte staatenlos geworden. Vom Regime Saddam Husseins wurde Ausbürgerung als politische Waffe eingesetzt, und der „Islamische Staat“ existiert auf seinen Urkunden über den Personenstand immer noch.


Seit der Unabhängigkeit von Großbritannien im Jahre 1932 leben im Irak zahlreiche Staatenlose. Die Hauptgründe dafür sind juristische Ungerechtigkeiten, Vertreibung über mehrere Generationen hinweg und eine Reihe von Konflikten, die die Lösung dieser Probleme erschweren. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR verzeichnet 47.300 staatenlose Menschen im Land. Die tatsächliche Zahl könnte erheblich höher liegen und infolge der Ereignisse in der jüngeren Zeit sogar noch weiter steigen.

Einer der Gründe für die verbreitete Staatenlosigkeit im Irak ist das Staatsbürgerschaftsgesetz von 2006, insbesondere Artikel 4. Er erlaubt irakischen Müttern nicht, ihre Staatsangehörigkeit an außerhalb des Landes geborene Kinder weiterzugeben. Ausgewanderte und weibliche Geflüchtete müssen den Beweis erbringen, dass ihre Kinder von einem irakischen Mann abstammen, wenn diese die Staatsbürgerschaft erhalten sollen. Diesen Nachweis zu erbringen, ist oft sehr problematisch.

Darüber hinaus stellt das Melderegister rechtliche und praktische Hürden auf. Jedes der 19 irakischen Gouvernements hat sein eigenes Meldesystem, dessen Nutzung insbesondere Vertriebenen Probleme bereitet. Viele von ihnen können weder Heirat noch Geburt registrieren lassen, was es ihren Kindern später oft unmöglich macht, ihre Identität nachzuweisen. Schätzungen zufolge haben mehr als 45.000 Kinder, die in Lagern im Irak leben, keine von den irakischen Behörden ausgestellten Geburtsurkunden.


Weil die Eltern tot, in Haft oder stigmatisiert
sind – viele Kinder sind Jahre nach dem Ende des
„Islamischen Staates“ noch nicht in Sicherheit

Manche Personen mit irakischer Staatsangehörigkeit besitzen zudem Personalpapiere, die nicht mehr gültig sind oder die von den Behörden nicht anerkannt werden. Dies gilt insbesondere für Dokumente, die in vom sogenannten Islamischen Staat (IS) kontrollierten Gebieten ausgestellt wurden. Kinder irakischer Mütter, einschließlich jesidischer Frauen, die entweder mit IS-Kämpfern verheiratet worden waren oder von ihnen vergewaltigt wurden, sind deshalb von Staatenlosigkeit bedroht. Das Gleiche gilt für andere Kinder, die in vom IS kontrollierten Gebieten geboren wurden. Zwar wurden Versuche unternommen, ihren Status zu legalisieren, etwa indem die vom IS ausgestellten Geburtsurkunden in Urkunden des irakischen Staates umgetauscht werden, aber die Hürden dafür sind hoch. So benötigen Väter eine Sicherheitsüberprüfung, durch die versteckte IS-Kämpfer entdeckt werden sollen, bevor neue Geburtsurkunden ausgestellt werden können.

Vertreibung spielt seit Langem eine entscheidende Rolle bei der Staatenlosigkeit im Irak. So wurden die Faili-Kurd*innen – eine im Zāgros-Gebirge an der irakisch-iranischen Grenze beheimatete ethnische Gruppe – aufgrund der „Resolution 666“ staatenlos. Die vom panarabischen Nationalismus und einer antikurdischen und schiitenfeindlichen Ideologie geprägte Regierung von Saddam Hussein hatte 1980 beschlossen, dass allen Iraker*innen ausländischer Herkunft die irakische Staatsangehörigkeit aberkannt werden kann, die sich aus Sicht der Regierung der Illoyalität gegenüber dem irakischen Heimatland und Volk sowie den Zielen der Revolution schuldig gemacht hatten. Diese Resolution führte unmittelbar zur Ausbürgerung, Verhaftung und Deportation Hunderttausender Faili-Kurd*innen in den Iran, wo sie ebenfalls nicht die Staatsbürgerschaft erwerben konnten. Nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein im Jahr 2003 kehrten die meisten von ihnen in den Irak zurück. Das neue Staatsbürgerschaftsgesetz von 2006 erhielt eine Bestimmung, die es ihnen erlaubte, die irakische Staatsangehörigkeit wieder zu erwerben. Davon konnten jedoch nicht alle profitieren, da das Verfahren kompliziert und beschwerlich ist.


Niemand weiß, wie viele Staatenlose,
Aus- und Wiedereingebürgte vor allem
in den Grenzregionen des Irak leben

Neben den Faili-Kurd*innen wurde auch Angehörigen der nomadischen, mit den Roma verwandten Volksgruppe der Dom die Staatsbürgerschaft verweigert. Die Dom leben seit Jahrhunderten im Irak und haben dabei ihre Kultur und Sprache bewahrt, viele hielten sich vom irakischen Staat und seinen Strukturen fern. Stigmatisiert und an den Rand gedrängt, haben Generationen ohne jedes amtliche Dokument und damit auch ohne irakische Staatsangehörigkeit gelebt und so auch keinerlei staatlichen Schutz erhalten.

Eine weitere von Staatenlosigkeit bedrohte Gruppe im Irak sind die über 250.000 syrischen Geflüchteten, die vor allem in der Region Kurdistan leben, darunter eine unbekannte Zahl von Kurd*innen, die entweder keine Staatsangehörigkeit besitzen oder ihre Verbindung zu Syrien nicht nachweisen können. Da die irakischen Meldeverfahren kompliziert sind, sind viele Kinder syrischer Geflüchteter nicht in den Melderegistern erfasst. Zudem hat der UNHCR im Irak über 8.000 palästinensische Geflüchtete registriert.

Insgesamt stellt die Bewältigung der Staatenlosigkeit im Irak weiterhin eine große Herausforderung dar. Zwei der größten Probleme dabei sind, dass der Status der Staatenlosigkeit nicht anerkannt wird und die Staatenlosigkeit erblich ist. Im Irak gibt es keinen Schutz für Kinder, die ohne Staatsangehörigkeit auf die Welt kommen. Vertreibungen über Generationen hinweg machen es vielen Familien noch schwerer, Dokumente zu erhalten.

Dieser Beitrag steht unter folgender Urheberrechtslizenz: CC-BY 4.0

Der Artikel wurde im Atlas der Staatenlosen auf Französisch, Englisch und Deutsch veröffentlicht.