April 8, 2021

Jovita dos Santos Pinto

Noemi Michel

Die Spur als Werk


Pauline Buisson, Henriette Alexander, Tilo Frey, der Treffpunkt Schwarzer Frauen. Ich beginne das Porträt von Jovita dos Santos Pinto mit den Namen – Eigen- und Sammelnamen – von anderen Frauen. Was haben diese Frauen gemeinsam? Pauline Buisson führte im 18. Jahrhundert ein Leben als versklavte zwischen Santo Domingo und Yverdon. Henriette Alexander trat im Basel des 19. Jahrhunderts in Shows als „Afrikanerin“ verkleidet auf. Die Neuenburgerin Tilo Frey wurde 1971 als eine der ersten Frauen in den Nationalrat gewählt. Der Treffpunkt Schwarzer Frauen brachte Ende der 1980er Jahre Frauen in Zürich zusammen und lud u.a. Audre Lorde ein, afroamerikanische Dichterin, Mutter und Lesbe, die damals oft in der Schweiz zu Gast war. All diese Frauen sind Schwarz. In ihrem Leben schwingt die Geschichte von Rassismus und Kolonialismus in der Schweiz mit. Und es ist größtenteils Jovita dos Santos Pinto zu verdanken, dass wir diesen Leben nachspüren können. Jovita dos Santos Pinto, selbst Schwarz, wurde in den 1980er Jahren im Kanton Zürich geboren, forscht an der Schnittstelle von Geschichts- und Kulturwissenschaften und arbeitet am Institut für Gender Studies der Universität Bern.


Foto Urs Jaudas/Tages-Anzeiger

Jovita dos Santos Pinto erfasst das Unfassbare in der Geschichtsschreibung. Sie hinterfragt das Schweigen, die Abwesenheit, die flüchtigen Strategien, die im Widerstand gegen das unterdrückerische Konzert von Rasse, Klasse und Geschlecht entwickelt werden. Die Historikerin arbeitet daran, den dominanten Rahmen des Schreibens über die Vergangenheit aufzuheben, der auf der Zuweisung Schwarzer Menschen als Objekte und niemals als Subjekte von Darstellungen beruht. Durch eine akribische und erfinderische Lektüre der Archive bricht sie mit der klassischen und linearen Geschichtsschreibung, die sich auf große Männer und wichtige Ereignisse konzentriert. Sie erdenkt neu, was Geschichte machen kann. Körper, Gefühle und Orte wie der Friseursalon kommen in ihrem bahnbrechenden Essay „Spuren; Eine Geschichte Schwarzer Frauen in der Schweiz“ zu Wort. Jovita dos Santos Pinto denkt die Geschichtsschreibung neu, bis ins kleinste Detail: anders als bei den sensationslüsternen visuellen Darstellungen Schwarzer Menschen zeichnet sie Porträts von Frauen mit dem Bleistift und veröffentlicht sie auf der von ihr 2018 gegründeten Webseite histnoire.ch.

Die Geschichten von Jovita dos Santos Pinto vermitteln uns ein Wissen über uns selbst, über uns andere, deren Körper immer wieder vergewaltigt und exotisiert werden. Ihre Geschichten lassen uns ermessen, wie wir, in der Gegenwart, das Erbe dessen erleben, was die Historikerin das „(s)exotische Spektakel des Anderen“ nennt, für das die in der Schweiz sehr beliebten Menschenzoos ein Beispiel waren. Indem sie uns daran erinnert, dass die Ausgestellten mit der Fähigkeit zu handeln, insbesondere zu schreiben, ausgestattet waren, wie Henriette Alexanders Tagebuch bezeugt, durchdringt dos Santos Pintos Forschung unsere Lungen und erlaubt uns, leichter zu atmen, indem wir unseren Platz und unsere Zukunft in der Schweizer Gesellschaft einschätzen.

Durch ihren antirassistischen und feministischen Aktivismus, aber auch durch ihre Mehrsprachigkeit, zieht Jovita dos Santos Pinto Verbindungslinien. Sie ist Mitgründerin von Bla*sh, einem Netzwerk Schwarzer Frauen in der deutschsprachigen Schweiz. Seit fast zwei Jahrzehnten ist sie Mitorganisatorin von kulturellen und politischen Veranstaltungen, die sich den Stimmen von Minderheiten widmen. Unermüdlich ergreift sie öffentlich das Wort für die Artikulation von Rassismus und Sexismus und zwingt so die feministischen Bewegungen in der Schweiz, sich mit afro-feministischem Wissen und Forderungen auseinanderzusetzen.

Jovita hat mir kürzlich erzählt, dass sie das Tätowieren erlernt hat. Erst war ich überrascht, habe dann aber schnell erkannt, dass ihre neue Fertigkeit total Sinn macht: Jovita dos Santos Pinto arbeitet daran, die ausgelöschten Geschichten der Vergangenheit zurückzuverfolgen und die Geschichte der Schwarzen Frauen mit unauslöschlicher Tinte nachzuzeichnen.

Noémi Michel ist antirassistische und feministische Forscherin, Lehrerin, Aktivistin und Kulturarbeiterin. Sie ist Mitglied der European Race and Imagery Foundation (ERIF) des Collectif Faites des Vagues und zurzeit Oberassistentin für politische Theorie am Institut für Politikwissenschaft der Universität Genf. Bei ihrer Arbeit befasst sie sich vorrangig mit den kritischen Perspektiven der Rasse und des Postkolonialismus mit Fokus auf die diasporischen Gedanken Schwarzer Feministinnen. Derzeit erforscht sie einerseits die widersprüchlichen Grammatiken des Antirassismus in öffentlichen Debatten und Institutionen in Europa und die Schwarze feministische Theoretisierung der politischen Stimme.