Mai 15, 2023

Kampf gegen Ungleichheit: Das ungenutzte Potenzial der Menschenrechte

Olivier De Schutter

Dieser Artikel ist Teil unserer Serie anlässlich des 75. Jahrestages der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.


Das „Zeitalter der Menschenrechte“, sagt der Rechtshistoriker Samuel Moyn, sei „am freundlichsten zu den Reichen“ gewesen. Man kann kaum das Gegenteil behaupten, denn die wirtschaftliche Ungleichheit zwischen den Reichen und den Besitzlosen hat in den letzten 50 Jahren zeitgleich mit der Ausweitung des Diskurses über die Menschenrechte stark zugenommen. Dieser Trend scheint nicht nachzulassen. Seit 2020 haben die reichsten 1 % fast doppelt so viel Vermögen angehäuft wie der Rest der Welt zusammengenommen.

Moyn erklärt weiter, dass die Menschenrechte einfach „nicht ausreichen“, um diese schockierende Ungleichheit zu bekämpfen.

Die Menschenrechte sorgen zwar für die grundlegenden Dinge des Lebens, wie Nahrungsmittel, Wasser, sanitäre Einrichtungen, Wohnraum, Gesundheitsfürsorge, aber darüber hinaus haben sie nur sehr wenig konkreten Einfluss und sind nicht wirklich in der Lage, auf die Explosion des weltweiten Reichtums und der Einkommensungleichheit einzuwirken. Kári Hólmar Ragnarsson, Assistenzprofessor für Rechtswissenschaften an der Universität von Island, fasst dies treffend zusammen: Die Menschenrechte haben „einen ,Boden‘ für ein menschenwürdiges Leben geschaffen, ohne sich um die ,Decke‘ der wirtschaftlichen Ungleichheit zu kümmern“.

Ragnarsson räumt ein, dass der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (CESCR) zumindest Bedenken hinsichtlich der wirtschaftlichen Ungleichheit geäußert hat, aber auch das erst 2016. Andererseits beklagt er, dass der Ausschuss lediglich eine progressive Besteuerung zur Finanzierung von Sozialausgaben fordert und nicht die vollständige Umgestaltung der freien Marktwirtschaft, die uns überhaupt erst in diese Lage gebracht hat.

Verbot von Diskriminierung aufgrund von sozioökonomischer Benachteiligung

Zum 75.-jährigen Bestehen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, muss sich die Menschenrechtsbewegung entschieden mit Moyns Argumentation auseinandersetzen und die vielen wirksamen Möglichkeiten erforschen, mit denen die Menschenrechte tatsächlich wirtschaftliche Ungleichheit bekämpfen können.

Ein vielversprechender Weg, den ich in meinem jüngsten Bericht an die UN-Generalversammlung untersucht habe, ist die Nutzung von Menschenrechtsinstrumenten, um der ungeheuerliche Diskriminierung ein Ende zu machen, der Menschen in Armut täglich ausgesetzt sind.

Armutsdiskriminierung – negative Einstellungen und Verhaltensweisen gegenüber Menschen in Armut – ist in der heutigen Welt weit verbreitet. Sie ist in öffentlichen und privaten Institutionen fest verankert und schränkt den Zugang der Menschen zu den Dienstleistungen und Systemen stark ein, die nachweislich die Ungleichheit deutlich verringern: Bildung, Wohnen, Beschäftigung, Sozialleistungen.

In meinem Bericht werden Fälle geschildert, in denen Kindern aus einkommensschwachen Familien der Zugang zu bestimmten Schulen verweigert wurde; Vermieter weigerten sich, Wohnungen an Mieter zu vermieten, die Sozialleistungen beziehen; Arbeitgeber beurteilten Lebensläufe strenger, wenn die Adresse darauf schließen ließ, dass die Person in einem ärmeren Viertel lebte. Armutsdiskriminierung hält Menschen, die von ihr betroffen sind, auch davon ab, bestimmte Sozialleistungen zu beantragen, weil sie befürchten, beschämt oder schlecht behandelt zu werden, und ist damit eine wichtige Ursache für die Nichtinanspruchnahme von Rechten

Die Menschenrechte werden traditionell dafür gepriesen, Menschen zu schützen, die aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Rasse oder einer Behinderung durch Diskriminierung gefährdet sind (horizontale Ungleichheit). Somit ist die Bekämpfung von gravierenden Ungleichheiten im wirtschaftlichen Status (vertikale Ungleichheit) relativ unbekanntes Terrain. Glücklicherweise haben die internationalen Menschenrechtsinstrumente – entgegen der Aussage von Moyn – eine Menge zu diesem Thema zu bieten.

In Artikel 2(2) des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte werden „soziale Herkunft“ und „Vermögen“ unter den verbotenen Diskriminierungsgründen genannt, neben u.a. Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache oder Religion. Diese beiden Gründe tauchen auch in der Afrikanischen Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker auf, die eine Diskriminierung beim Genuss der Rechte und Freiheiten der Charta unter anderem aufgrund der „sozialen Herkunft“ und des „Vermögens“ verbietet. Artikel 1.1 der Amerikanischen Menschenrechtskonvention sieht das Recht auf Gleichheit und Nichtdiskriminierung u. a. aufgrund der „sozialen Herkunft“, des „wirtschaftlichen Status“ und „jeder anderen sozialen Gegebenheit“ vor. In Europa verweisen sowohl die EU-Grundrechtecharta als auch die Europäische Menschenrechtskonvention in ihren jeweiligen Antidiskriminierungsbestimmungen auf „Eigentum“ und „soziale Herkunft“. Die Arabische Charta der Menschenrechte nennt ebenfalls „soziale Herkunft“ und „Vermögen“.

In seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 20 zur Nichtdiskriminierung, erklärt der CESCR:

„Personen und Personengruppen dürfen nicht aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten wirtschaftlichen oder sozialen Gruppe oder Gesellschaftsschicht willkürlich behandelt werden. Die soziale und wirtschaftliche Situation in Armut lebender oder obdachloser Menschen kann umfassende Diskriminierung, Stigmatisierung und negative Stereotypisierung zur Folge haben und dazu führen, dass ihnen der Zugang zu einer Bildung und Gesundheitsversorgung gleicher Qualität wie für andere Menschen sowie der Zugang zu öffentlichen Orten verwehrt wird oder sie nicht gleichen Zugang haben.“

Diese Texte sind eindeutig: Sozioökonomische Benachteiligung ist ein Grund für Diskriminierung – genauso wie Rasse, Geschlecht und andere Ursachen für Diskriminierung. Und der CESCR ging den weiteren logischen Schritt, indem er darauf bestand, dass diese Gründe in die Antidiskriminierungsgesetze der Vertragsstaaten des Paktes aufgenommen werden.

Es gibt bereits erfreuliche Beispiele dafür, dass Regierungen die Diskriminierung aus Gründen der sozioökonomischen Benachteiligung verboten haben. In Kanada enthält die Charta der Menschenrechte und Freiheiten von Québec die „soziale Lage“ als einen der verbotenen Gründe für Diskriminierung. In Frankreich ist die Diskriminierung aus Gründen der Armut als Straftatbestand definiert und im Arbeitsgesetz verboten. Diese Beispiele – und einige wenige andere – sind jedoch Ausnahmen von der Regel, und die Diskriminierung von Menschen, die in Armut leben, wird nach wie vor ebenso wenig beachtet wie sie weit verbreitet ist.

Wirtschaftliche Ungleichheit wird niemals beseitigt werden, solange Diskriminierung den Zugang der Menschen zu genau den Diensten und Leistungen einschränkt, die für gleiche Ausgangsbedingungen sorgen sollen. Aktivisten, die sich für die Bekämpfung der Ungleichheit einsetzen, sollten nicht vergessen, dass die Staaten nach dem internationalen Menschenrecht rechtlich verpflichtet sind, diese Diskriminierung zu verbieten.

Ein neuer Ansatz: die nächsten 75 Jahre

Das „Zeitalter der Menschenrechte“ ist ein Grund zum Feiern und kann enorme Fortschritte in allen Bereichen unseres Lebens vorweisen. Doch das Potenzial der Menschenrechte, den verheerenden Anstieg der wirtschaftlichen Ungleichheit herauszufordern, ist noch nicht voll ausgeschöpft – noch nicht.

Wenn die Menschenrechte die nächsten 75 Jahre relevant bleiben sollen, sollten Aktivisten es zu ihrer Priorität machen, dieses Potenzial besser zu verstehen und auszuschöpfen.

Gleichzeitig möchte ich die internationale Menschenrechtsgemeinschaft auffordern, sich eine weiterreichende Frage zu stellen: Wenn das Wirtschaftswachstum ein so hohes Maß an Ungleichheit verursacht hat, ist es dann nicht an der Zeit, dass wir den Wert dieses Wachstums grundsätzlich in Frage stellen? Unsere Fixierung auf das Wirtschaftswachstum als einzige Antwort auf die Beseitigung der Armut erscheint kontraintuitiv, wenn dieses Wachstum so viel Elend für so viele Menschen verursacht.

Das ist eine wichtige Frage, der ich als UN-Sonderberichterstatter für extreme Armut und Menschenrechte jedoch mehr und mehr Zeit widmen werde. Da wir das 75. Bestehen der AEMR feiern, ist es vielleicht wirklich an der Zeit, wie Ragnarsson es ausdrückt, dass die Welt der Menschenrechte die „anhaltende Spirale der wirtschaftlichen Ungleichheit durch den Neoliberalismus“ grundlegend herausfordert.

Olivier De Schutter ist der UN -Sonderberichterstatter für extreme Armut und Menschenrechte

Dieser Artikel ist Teil unserer Serie anlässlich des 75. Jahrestages der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.