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Wanderarbeiter*innen am Golf bauen trotz staatlicher Repressionen ihre eigenen Organisationen auf
Die meisten der 2,3 Millionen Arbeitsmigrant*innen in Katar kommen aus Nepal und Indien. Die weit verbreitete Armut und die hohe Arbeitslosigkeit machen die Entscheidung, im Ausland Arbeit zu suchen, nicht ganz freiwillig. Heute sind rund 400 000 nepalesische Migrant*innen hauptsächlich im Baugewerbe, aber auch in Hotels, Restaurants und Privathaushalten beschäftigt. Die Geldüberweisungen der Wanderarbeiter*innen machen fast ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts in Nepal aus.
Die Lebens- und Arbeitsbedingungen von gering qualifizierten Bauarbeitern, die die Infrastruktur für die FIFA Fußball-Weltmeisterschaft 2022 aufbauen, sind besonders verheerend. Das Fehlen von Rechten, rechtlichem Schutz und Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften wird oft als moderne Sklaverei bezeichnet. Das Kernstück des Migrationsregimes ist ein „Kafala“ genanntes Sponsorensystem, das die Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis der Arbeiter an den jeweiligen Arbeitgeber bindet und sie in eine äußerst abhängige Situation bringt, in der sie der Gnade des Arbeitgebers ausgeliefert sind.
Ulrike Lauerhass von der Rosa-Luxemburg-Stiftung sprach mit Chandra (Name geändert), einem Aktivisten einer nepalesischen Wanderarbeiterorganisation, um mehr über die Situation der Arbeiter am Golf zu erfahren und darüber, was sie tun, um sich zu wehren. Aufgrund der zunehmend repressiven Bedingungen, unter denen Aktivisten in Katar leben und arbeiten, müssen sein Name und seine Organisation anonym bleiben.
Wie sind Sie nach Katar gekommen, um dort zu arbeiten, und was machen Sie dort?
Ich komme aus dem Nordosten Nepals. Ich habe einen Bachelor-Abschluss in Betriebswirtschaftslehre an der Tribhuvan-Universität gemacht. Um mein Studium zu finanzieren, habe ich in einem sehr kleinen Privatunternehmen gearbeitet, aber das Gehalt war zu gering, um den sehr teuren Masterstudiengang zu finanzieren, den ich machen wollte. Weder im privaten noch im NRO-Sektor war es möglich, einen geeigneten, sicheren Arbeitsplatz zu finden, so, dass ich im April 2013 beschloss, nach Katar zu gehen, um dort zu arbeiten.
Zu dieser Zeit gab es einen massiven Trend der Migration aus Nepal in die Staaten des Golf-Kooperationsrates (GCC) und Malaysia, insbesondere unter den Jugendlichen. Derzeit arbeiten mehr als 3500 Wanderarbeiter*innen aus Nepal in Katar. Als ich in Katar durch die Straßen ging, traf ich viele Wanderarbeiter*innen, die im Elend lebten, und ich begann, mit ihnen zu sprechen, fragte sie nach ihren aktuellen Lebens- und Arbeitsbedingungen und hörte mir ihre Geschichten an, die mich dazu brachten, etwas zu unternehmen.
Im Gespräch mit meinen nepalesischen Freunden in anderen Ländern wie Saudi-Arabien, Kuwait und den Vereinigten Arabischen Emiraten wurde uns klar, dass es sich um ein weit verbreitetes Phänomen handelte und dass wir etwas dagegen unternehmen wollten. Also organisierten wir ein Treffen und sprachen über das Problem aus der Perspektive der Menschenrechte und der Gerechtigkeit und starteten eine Initiative, die sich für die Rechte von Wanderarbeiter*innen einsetzt. Es ist schwierig zu organisieren, aber glücklicherweise reisen alle nepalesischen Wanderarbeiter*innen zur Festsaison zurück nach Nepal. Der Arbeitgeber übernimmt diese Reise jedes oder jedes zweite Jahr, so dass wir uns in dieser Zeit in Nepal treffen und Strategien besprechen können.
Wann haben Sie beschlossen, Ihre eigene Organisation zu gründen?
Wir organisierten ein dreitägiges strategisches Treffen mit Teilnehmer*innen aus Malaysia, Katar, Bahrain, Saudi-Arabien, Oman und Kuwait mit Journalist*innen und nepalesischen Aktivist*innen für Menschenrechte und Migration. Wir gründeten die Organisation und legten drei wichtige Themen fest, mit denen wir uns befassen wollten: Erstens, die Ermächtigung der hauptsächlich gering qualifizierten, schlecht ausgebildeten und schlecht bezahlten Wanderarbeiter*innen, ihre Stimme für Gerechtigkeit und Rechte zu erheben; zweitens, Druck auf die Regierung auszuüben, damit sie die viel zu hohen Anwerbegebühren, die die Anwerbeagentur in Nepal verlangt, reguliert und abschafft; und drittens, sich dafür einzusetzen, dass nepalesische Wanderarbeiter*innen ihr Wahlrecht bei nepalesischen Wahlen im Ausland ausüben können, wie der Oberste Gerichtshof bestätigt hat.
Nach diesem Treffen vernetzten wir uns in den Zielländern und erhielten Unterstützung von internationalen NROs. Außerdem haben wir die Lebensbedingungen und -situationen der Migrant*innen genauer untersucht und detaillierte Informationen gesammelt.
Ihr Netzwerk hat Knotenpunkte an so vielen Orten und Ihre Website deckt viele Themen ab. Wie sind Sie von Ihrem ersten Treffen im Jahr 2017 zum jetzigen Aufbau gekommen?
Wir begannen mit regelmäßigen Videokonferenzen auf Nepali jeden letzten Freitag im Monat über Social-Media-Kanäle und boten einen Raum für Diskussionen, Informationsaustausch, Beratung und Organisation. Wir luden Migrantenrechtsaktivist*innen, Menschenrechtsaktivist*innen und Journalist*innen ein, sich uns anzuschließen und Beiträge zu bestimmten Fragen zu liefern.
Wir hatten in jedem Staat einen Vertreter*innen und mussten vorsichtig sein, um weitere Teammitglieder zu finden. In den meisten unserer Zielländer ist es verboten, sich gewerkschaftlich zu organisieren, daher ist viel Vertrauen erforderlich. Wir wuchsen durch Mund-zu-Mund-Vernetzung, und das brauchte Zeit. Jetzt haben wir 35-40 Mitglieder in Katar. Wir treffen uns in kleinen Gruppen auf einen Kaffee oder Tee in einem kleinen Restaurant und unterhalten uns. Einige von uns sind bereits nach Nepal zurückgekehrt, weil ihre Verträge ausgelaufen sind oder wegen der COVID-19-Pandemie, also haben wir uns Anfang dieses Jahres getroffen und einen einfachen Strategieplan für die nächsten zwei bis drei Jahre entwickelt. Unser ehrgeiziges Ziel ist es, 500-600 Mitglieder zu rekrutieren, die sich für die Verbesserung der Situation von Wanderarbeiter*innen einsetzen.
Als die Pandemie ausbrach, wurde die Situation wirklich schwierig, manchmal sogar chaotisch, vor allem für Wanderarbeiter*innen, die kein Englisch sprechen oder schreiben können, da sie keine Informationen erhielten. Wir begannen mit einem regelmäßigen Live-Videoanruf, um grundlegende Informationen über COVID-19 zu geben – wie man sich und andere schützen kann. Die Resonanz war sehr groß, wir hatten mehr als 20 000 Follower aus allen Teilen der Welt, und wir wissen, dass wir einen Bedarf gedeckt haben. Wir haben auch begonnen, mit einer NRO zusammenzuarbeiten, um Soforthilfe (Lebensmittel und Desinfektionsmittel) für diejenigen bereitzustellen, die von ihren Arbeitgebern keine angemessene Unterstützung erhalten haben. Zurzeit sind wir dreimal pro Woche online und diskutieren über eine Vielzahl von Themen, einschließlich des kulturellen Austauschs.
Wie sind die Arbeits- und Lebensbedingungen jetzt während der Pandemie?
Die Situation der Wanderarbeiter*innen war schon vor der Pandemie sehr angespannt, aber sie hat sich zweifellos noch erheblich verschlechtert. Nehmen wir zum Beispiel die Bauarbeiter: Sie arbeiten in der Regel in Teams, weil sie handwerkliche Arbeiten verrichten, und sie teilen sich einen Raum, so dass das System keinen Abstand zulässt, und sie haben sich häufiger angesteckt als andere.
Mitte August letzten Jahres habe ich mich selbst mit dem Virus infiziert und konnte so die Situation in den Quarantäne- und Isoliereinrichtungen beobachten. Auch wenn die katarische Regierung den Betroffenen kostenlose Unterkunft und Verpflegung zur Verfügung stellt, was wirklich gut ist, konnte man die Ungleichheit des Zugangs deutlich erkennen: Die besser qualifizierten Arbeiter wurden in Fünf-Sterne-Hotels untergebracht, während die weniger qualifizierten Arbeiter in sehr einfachen, ärmlichen Unterkünften ohne angemessene Verpflegung untergebracht wurden – und das in einer Situation, in der beide die gleichen gesundheitlichen Probleme hatten!
Die schwächeren Arbeiter*innen erhalten nur unzureichende Unterstützung, d. h. diejenigen, die nicht über die Mittel verfügen, um das Fehlende zu kaufen. Es handelt sich also um eine diskriminierende Politik, vor allem, wenn man bedenkt, dass der Staat Katar über genügend Kapazitäten verfügt, um allen die gleichen qualifizierten Leistungen zu bieten. Unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit sollten alle gleichbehandelt werden.
Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) und die Gewerkschaft Building and Wood Workers‘ International (BWI) behaupten, dass sich die Bedingungen auf den Baustellen in Katar in den letzten Jahren verbessert haben. Stimmen Sie dem zu?
Das stimmt in gewisser Weise, und die Präsenz der ILO und der BHI in Katar sowie der internationale Druck auf die katarische Regierung haben sich positiv auf die Bedingungen für die Arbeiter ausgewirkt – allerdings nur bis zu einem gewissen Grad. Es ist auch positiv, dass Menschenrechtsaktivist*innen heute mehr Raum haben als früher. Aber das ist nur das, was man an der Oberfläche sieht.
Wir haben „FIFA-Projekte“ in Katar, wo diese Verbesserungen umgesetzt wurden und bestimmte Anforderungen erfüllt werden. Aber die Baustellen für die Weltmeisterschaft machen nur etwa zwei Prozent der Baustellen in Katar aus. Auf den anderen Baustellen, die nicht im Rampenlicht stehen, sind überwiegend weniger qualifizierte Wanderarbeiter beschäftigt. Sie können von diesen Verbesserungen nicht profitieren, und für sie hat sich auch nicht viel geändert.
Um dies näher zu erläutern: Die katarische Regierung hat leichte, dekorative Verbesserungen bei den Rechten und dem Schutz der Arbeiter eingeführt, z. B. in Bezug auf das Kafala-System, und im Jahr 2020 hat sie sogar einen so genannten „diskriminierungsfreien Mindestlohn“ eingeführt und die Anforderungen an die Unbedenklichkeitsbescheinigung für einen Arbeitgeberwechsel abgeschafft. Das hört sich liberal und fortschrittlich an, aber diese Maßnahmen existieren hauptsächlich nur auf dem Papier. Im großen Maßstab gibt es immer noch viele Fälle von harten Arbeits- und schlechten Lebensbedingungen. Die bisherigen Maßnahmen reichen nicht aus, und da Katar eines der reichsten Länder ist, verfügt es über die Mittel, seine Wanderarbeiter menschenwürdig zu behandeln und die Arbeiter- und Menschenrechte auf verantwortliche Weise zu achten.
Was halten Sie von der Idee eines Boykotts gegen die Fußballweltmeisterschaft, wie sie von einigen Gruppen hier in Deutschland und international vorgeschlagen wird?
Ich verstehe die Frustration kritischer, progressiver Menschen und Fußballfans, und wir schätzen die Bemühungen und die Solidarität, die mit dieser Initiative einhergehen, aber ich glaube nicht, dass dies eine gute Idee ist, weil sie das Leben von Wanderarbeitern jetzt nicht verbessern wird. Zu einem früheren Zeitpunkt wäre es vielleicht positiv gewesen, aber jetzt ist es zu spät und könnte sich negativ auf die heutigen Wanderarbeiter auswirken. Ich befürchte, dass die kleinen Verbesserungen sogar wieder rückgängig gemacht werden könnten.
Glauben Sie, dass Gerichtsverfahren eine gute Strategie sind, um Änderungen durchzusetzen?
Wir haben einen Wanderarbeiter mit ausstehenden Löhnen unterstützt, weil sein Unternehmen in Konkurs ging. Insgesamt wurden 470 nepalesische Arbeiter nicht bezahlt, und die nepalesische Botschaft konnte nicht helfen. Selbst mit dem Mechanismus, der in Katar für solche Fälle zuständig ist, dem Ausschuss für die Beilegung von Arbeitsstreitigkeiten, konnte die Angelegenheit nicht gelöst werden, so dass wir ihn dabei unterstützten, den Fall vor den Obersten Gerichtshof zu bringen, der zugunsten der Arbeiter entschied, was bedeutet, dass der Staat die ausstehenden Löhne zahlen muss.
Das klingt wie eine Erfolgsgeschichte. Wenn man jedoch genauer hinsieht, stellt man fest, dass das System nicht funktioniert: Zunächst hat es mehr als ein Jahr gedauert, um diesen Fall zu gewinnen – ein Jahr ohne Einkommen und mit dem Risiko, abgeschoben zu werden. Dann darf der Staat in Raten zahlen, so dass der Arbeiter noch länger auf seine Zahlung warten muss, auf die er Anspruch hat, weil er den Vertrag erfüllt und die ihm zustehende Arbeit geleistet hat.
Es überrascht nicht, dass nicht jeder Wanderarbeiter willens oder in der Lage ist, sich dagegen zu wehren, und daher bieten die gesetzlichen Rechenschaftsmechanismen keinen angemessenen Schutz für Wanderarbeiter gegen diese Art von Ungerechtigkeit. Das System ist nicht effektiv, und dieser Arbeiter wäre nicht in der Lage gewesen, seinen Fall vor Gericht zu bringen, ohne die Unterstützung von uns und vielen anderen, die für den Anwalt, sein Essen, seine Unterkunft und den Transport während des Prozesses zahlen.
Was sind Ihre Forderungen an den katarischen Staat und andere Akteure?
Die katarische Regierung sollte dafür sorgen, dass alle Wanderarbeiter unter angemessenen Bedingungen, in Freiheit und Würde und unter Achtung ihrer menschlichen, sozialen und wirtschaftlichen Rechte leben und arbeiten können. Derzeit ist dies nur für eine kleine Anzahl von Wanderarbeitern der Fall.
Die ILO mag in Katar an gewisse Grenzen stoßen, aber sie hat auch den Auftrag, die Arbeitsbedingungen und das Arbeitssystem zu standardisieren. Sie hat sowohl das Recht als auch die Fähigkeit, dies zu tun. Deutschland als einer der mächtigsten Staaten der Welt sollte die ILO – und die FIFA – unterstützen und Druck ausüben, damit sie ihren Auftrag erfüllt. Die kleinen Verbesserungen durch die katarische Regierung lassen hoffen, dass weitere Schritte möglich sind und umgesetzt werden. Die ILO ist mächtiger als ein Wanderarbeiter, also sollte sie starke Forderungen stellen. Ich habe meine Freiheit als Wanderarbeiter in Katar nicht nutzen können, aber vielleicht wird die nächste Generation die Freiheit genießen können, für die wir kämpfen.
Ulrike Lauerhaß arbeitet als Programmmanagerin im Referat Westasien der Rosa-Luxemburg-Stiftung.