Juli 11, 2022

Keine TRIPS-Waiver in der WTO

Nicoletta Dentico

Die Ablehnung des internationalen Rechts


Der krampfhaft erzwungene und zutiefst enttäuschende Abschluss der MC12 bei der WTO stellt einen Präzedenzfall für die Dynamik des Multilateralismus dar. Die Eile, unbedingt etwas abliefern zu müssen, hat in Genf eine Menge diplomatischer Trümmer hinterlassen, und zwar in Bezug auf die gesamte zur Diskussion stehende Agenda, insbesondere aber in Bezug auf den Antrag Indiens und Südafrikas vom 2. Oktober 2020 an die Welthandelsorganisation (WTO) auf Aussetzung der Rechte des geistigen Eigentums, die so genannte TRIPS-Waiver, um besser auf die Covid-19-Pandemie eingehen zu können.

Das Thema TRIPS-Waiver ist nach monatelangem ohrenbetäubendem Schweigen wieder in den Vordergrund gerückt, und zwar während der langwierigen Tage der Einschüchterung bei den Verhandlungen, die in verschiedenen Formen in den WTO-Räumlichkeiten stattfanden, in einem für die Ankunft der Handelsminister und die Mobilisierung der Zivilgesellschaft gepanzerten Genf, die zu diesem Anlass zusammengekommen waren.  Seit der letzten interministeriellen Konferenz, die in Argentinien stattfand, waren vier Jahre vergangen. Eine Einigung zugunsten des indischen und südafrikanischen Vorschlags – auch in abgewandelter Form – wäre in einer Zeit zwischen der Covid-Pandemie und dem Auftreten neuer wahrscheinlicher Notfälle internationaler Art (die Affenpocken werden in diesen Stunden im WHO-Notfallausschuss diskutiert) wichtiger denn je gewesen. Die lange internationale Debatte über den Vorschlag für eine Ausnahmeregelung, die sich über fast zwei Jahre erstreckte, brachte die WTO wieder in Schwung und verhalf ihr zu einer Bedeutung, die durch die jahrelange Blockade der Verhandlungen über den internationalen Handel verloren gegangen war. Doch dies trifft nicht zu. Der Text der Abschlusserklärung – der öffentlich verkündet wurde, ohne dass die Delegationen die Möglichkeit hatten, ihn einzusehen und zu bestätigen, wie mehrere der anwesenden Delegierten sagten – verschafft einem Abkommen, das die Privilegien der Welteliten zum Nachteil der Länder des globalen Südens sichert, einen Panzer. Und das nicht nur auf dem Gebiet des geistigen Eigentums. Generaldirektorin Dr. Ngozi Okonjo-Iweala, die zum ersten Mal anwesend war, führte in dieser Sache die tragende Rolle. Bereits in ihrer Eröffnungsrede hatte sie unverblümt den Stillstand der letzten zwanzig Jahre der WTO angeprangert und die Dringlichkeit eines Tempowechsels auch im Namen einer Reform des Multilateralismus zugunsten eines von ihr so bezeichneten plurilateralen Modells gefordert. Im Namen eines Ergebnisses, das für Presseorgane wie Bloomberg, die der Welt ein historisches Abkommen verkündeten, entbehrlich war, brachte die GD die unruhigen Delegationen ihres eigenen Kontinents (laut direkten Berichten) zum Schweigen und erlaubte schliesslich der Hegemonie einiger weniger Mitgliedstaaten und ihrer Industrien, die Oberhand über den gesunden Menschenverstand und das gemeinsame Interesse zu gewinnen und einen Konsens zu erzwingen, der nicht gegeben war.

Als Anfang 2021 die ganze Welt von dem Virus befallen war und auf Impfstoffe wartete, hatte das Monopol des geistigen Eigentums, mit dem Big Pharma die wissenschaftlichen Erkenntnisse im medizinischen Bereich kontrolliert, in der öffentlichen Meinung und in der Presse grosse Empörung ausgelöst, wie schon zwei Jahrzehnte zuvor im Zusammenhang mit dem Skandal um antiretrovirale Medikamente gegen HIV/AIDS. Daher wurde die Idee der TRIPS-Waiver positiv aufgenommen. Der Vorschlag Indiens und Südafrikas mit seinen zahlreichen akkreditierten Befürwortern war mit einiger Überraschung sogar in den prominentesten Fernsehtalkshows gelandet, die sich oft sträuben, sich mit Fragen der Globalisierung zu befassen, die strukturell Ungleichheiten und Verletzungen der Grundrechte hervorbringen. Dieser Funke der Aufmerksamkeit für die nachteiligen Auswirkungen der Patentmonopole, die die wissensbasierte Wirtschaft beherrschen, schien ein Versprechen für einen Wandel zu sein, den Covid-19, wenn auch mit all seinen Opfern, hätte freisetzen können. Doch nachdem die westliche Welt ihre Bestände an SARS-CoV-2-Impfstoffen aufgestockt und die Impfung vorangetrieben hat – mit der Verabreichung der dritten Dosis für einen grossen Teil der Bevölkerung und dem Beginn der vierten Dosis für einige der am stärksten gefährdeten Gruppen -, ist das Thema der Aussetzung des geistigen Eigentums wieder zu einem Thema für Insider der Zivilgesellschaft geworden, ein Nischenthema, zu dem die Presse um jeden Preis schweigen muss, weil sie sich auf krankhafte Weise den industriellen und philanthropischen Lobbys unterwirft, die geschickt die Spielregeln gegen Covid-19 geschmiedet haben und sich dem Waiver hartnäckig widersetzen.

Wer also hat im vergangenen Jahr denn noch von dem Vorschlag gehört, wissenschaftliche Erkenntnisse freizugeben und zu einem Allgemeingut zu machen, auf das man zugreifen kann, indem man endlich auf Monopole verzichtet, um Technologien zu erfinden und Arzneimittel gegen Covid-19 herzustellen? Es war auch diesmal ein schwieriges Unterfangen, auf politischer Ebene und in den Medien darüber zu sprechen, da der diplomatische Würgegriff der wenigen feindlichen Delegationen jede Aussicht auf eine Vermittlung zugunsten des Rechts auf Gesundheit erschwerte. Die ideologische Bekräftigung des geistigen Eigentums als unverzichtbare Voraussetzung für die Schaffung von Innovationen wurde in Interviews und Stellungnahmen erneut mit Nachdruck bekräftigt, jedoch entgegen allen wissenschaftlichen Erkenntnissen und dem epidemiologischen gesunden Menschenverstand. Das Dogma durfte nicht berührt werden. Es konnten keine Präzedenzfälle geschaffen werden, auch wenn die Öffnung der Schleusen für wissenschaftliche Erkenntnisse für einige Jahre viel Gutes für die Qualität der Wissenschaft und die Bedürfnisse der Welt auch in den reichen Ländern bewirkt hätte. Und dass es sich um ein Dogma handelt, zeigt der akrobatische Aktivismus der westlich geprägten internationalen Gemeinschaft, die mit dem Segen der G20 nach alternativen Kunstgriffen sucht und einen Aufschub für das TRIPS-Abkommen verhindert.  


WTO / WTO

Wir werden jedoch unermüdlich immer wieder darauf hinweisen, dass es sich um eine völkerrechtliche Massnahme (Vertrag von Marrakesch) handelt, die von der grossen Mehrheit der WTO-Mitglieder und mehreren europäischen Parlamenten unterstützt wird. Über 700 nationale Parlamentarier haben sich wiederholt die Waiver zu eigen gemacht (z.B. in Italien), das Europäische Parlament hat zwei Entschliessungen mit Mehrheit für den Vorschlag verabschiedet. Es handelt sich um eine Lösung, die von zahlreichen internationalen Organisationen, der wissenschaftlichen und medizinischen Gemeinschaft, der Geschäftswelt und Nobelpreisträgern wie Joseph Stiglitz unterstützt wird. Selbst Papst Franziskus hat mehrfach auf die Dringlichkeit hingewiesen, die Wissenschaft als Gemeingut und nicht als Terrain für privaten Profit zu organisieren.

Kurzum, der bescheidene Vorschlag Indiens und Südafrikas sollte neue Freiräume schaffen. Er wurde von der Europäischen Kommission, der Schweiz und Grossbritannien bis zuletzt bekämpft. Nachdem sich die Vereinigten Staaten am 5. Mai 2021 auf die Idee einer auf Patente beschränkten Ausnahmeregelung für Impfstoffe eingelassen hatten, spielten sie entweder die Unschuldslämmer, indem sie den hartnäckigsten Kandidaten vorschickten, oder sie drangen in die Verhandlungen in Genf ein, um geografische Bedingungen und Zulassungskriterien hinzuzufügen, die speziell auf den Ausschluss Chinas abzielten, und um sicherzustellen, dass die Vermittlung keine anderen Produkte einschloss, die für die Bekämpfung von COVID19 von wesentlicher Bedeutung sind (diagnostische und therapeutische Produkte, medizinische Instrumente wie Atemgeräte, Beatmungsgeräte usw.). Vom 2. Oktober 2020 bis zum 17. Juni 2022 wurde eine zermürbende Reihe formeller und informeller Treffen in Genf und in den Hauptstädten abgehalten, um die Befürworter der TRIPS-Waiver in einem zynischen Unterfangen, bei dem es immer um Kompromisse mit anderen Dossiers auf der WTO-Agenda geht, hinzuhalten und zu erschöpfen.

Indien und Südafrika wurden überrollt. Am Vorabend der Ministerkonferenz wurde ein Vierer-Kompromiss mit den USA und der EU (QUAD-Kompromiss) ausgehandelt, der die Einführung neuer Verpflichtungen und noch strengerer TRIPS+-Verfahren vorsah. Kurz gesagt, ein Scherz. Seitdem wurde die Idee der Waiver und die Praktiken des Multilateralismus in einer Reihe von Texten – einer davon sogar von der Generaldirektorin Okonjo-Iweala – nach und nach zerstört, und zwar in Diskussionen hinter verschlossenen Türen im „Green Room“, die den WTO-Veteranen bekannt sind, unter wenigen eingeladenen Ländern und unter Ausschluss der Mehrheit der Delegierten, selbst Indonesiens als Präsident der G20 (zur TRIPS-Waiver).

Die Wirtschaft wissenschaftlicher Erkenntnisse und die legalisierten Mechanismen der „Aneignung der Wissenschaft“ (wie anerkannte Ökonomen behaupten) durch Big Pharma, selbst wenn die Innovation mit öffentlichen Mitteln finanziert wird (wie, aber nicht nur, im Fall von Covid-19), definieren eine Kluft des offenen Krieges zwischen dem globalen Norden und Süden. Sie fordert Opfer wie Kriege – nach einer aktuellen Schätzung der WHO verloren mehr als 15 Millionen Menschen ihr Leben durch COVID19; nach Angaben des derzeitigen Direktors von CDC Africa, Dr. Ahmed Ouma Ogwell, starben in Afrika zwischen den 1990er und 2000er Jahren 12 Millionen Menschen an HIV/AIDS, obwohl es eine antiretrovirale Therapie gab.

In dieser Hinsicht droht der Multilateralismus aus den Fugen zu geraten, und zwar in einem Dialog der Gehörlosen, der nicht mehr in der Lage ist, die Forderungen nach Veränderungen aufzufangen und kreative Vermittlungen zu entwickeln, die den Herausforderungen künftiger Gesundheitskrisen gewachsen sind. Der erzwungene Konsens dieser Tage gefährdet ernsthaft die Gesundheit der zwischenstaatlichen Demokratie und die Gesundheit der Menschheit selbst. Die Einschüchterungstaktik der afrikanischen WTO-Führung gegenüber den Ländern des globalen Südens, die von den Delegierten der Zivilgesellschaft wiederholt angeprangert wurde, verheisst für künftige Pandemieszenarien wenig Gutes.  In anderen Zeiten hätten Delegationen aus dem globalen Süden wie in Seattle die Verhandlungssäle verlassen, um sich der Nachfrage der Zivilgesellschaft nach Rechten anzuschliessen. Diesmal war es aus verschiedenen Gründen nicht der Fall. Letztlich, weil heutzutage die Atmosphäre der Globalisierung viel stickiger ist als 1999 und die Diplomatie weitaus rhetorischer und rezitativischer ist. Was nach 19 Monaten gemeinsamen Kampfes für eine vorübergehende Aussetzung der Rechte an geistigem Eigentum bleibt, sind zweieinhalb Jahre Pandemie im Zeichen einer skandalösen Unterwerfung unter die Monopollogik der Pharmaindustrie. Sogar noch stärker, nach COVID19.

Nicoletta Dentico ist Journalistin und leitende politische Analystin im Bereich globale Gesundheit und Entwicklung. Nach der Leitung von Ärzte ohne Grenzen (MSF) in Italien spielte sie eine aktive Rolle in der MSF-Kampagne für den Zugang zu unentbehrlichen Arzneimitteln. Sie arbeitete als Beraterin für die Weltgesundheitsorganisation und leitet derzeit das globale Gesundheitsprogramm der Society for International Development (SID).