Januar 18, 2021

Libanon: Die Regierung will lieber keine Lösung

Samira Trad

Zur politischen und sozialen Diskriminierung von Frauen gehört, ihre Staatsbürgerschaft nicht an die eigenen Kinder weitergeben zu dürfen. So bleiben die Kinder staatenloser Männer staatenlos. Das ist auch im Libanon so – etwa, wenn sich die Vorfahren bei einer Volkszählung vor fast 90 Jahren nicht hatten registrieren lassen.


Es gibt keine offiziellen Daten über die genaue Zahl und Art der Staatenlosen im Libanon. Einer Umfrage zufolge, 2011 von der Nichtregierungsorganisation Frontiers Ruwad Association durchgeführt, sind 30 Prozent der staatenlosen Männer mit libanesischen Frauen verheiratet, und mehr als 45 Prozent der staatenlosen Kinder wurden von libanesischen Müttern geboren.

Artikel 1 Absatz 1 des libanesischen Staatsbürgerschaftsgesetzes von 1925 erkennt nämlich nur diejenigen als Libanes*innen an, die von einem libanesischen Vater abstammen (also durch das Jus sanguinis in der väterlichen Linie). Eine Frau, die die libanesische Staatsangehörigkeit besitzt, kann diese weder an ihren Ehemann noch an ihre Kinder weitergeben. Es gibt nur zwei Ausnahmen: für alleinerziehende Mütter, wenn der Vater das Kind offiziell anerkannt und registriert hat, oder wenn der Vater eines minderjährigen Kindes gestorben ist.

Die Untersuchung der Frontiers Ruwad Association, die sich auf Menschen mit dauerhaftem Wohnsitz im Libanon oder mit libanesischen Vorfahren konzentriert, schätzt die Zahl der Staatenlosen im Libanon auf etwa 60.000. Sie lassen sich der Studie zufolge in zwei Hauptkategorien einteilen: Zum einen sind es Menschen, deren Eltern oder Großeltern sich in der Volkszählung von 1932 – der letzten offiziellen des Landes – nicht hatten registrieren lassen und deswegen auch die Staatsangehörigkeit nicht erhielten. Zum anderen sind all diejenigen betroffen, deren Vorfahren die libanesische Staatsangehörigkeit zwar erhalten, die aber ihre Eheschließung oder die Geburt ihrer Kinder nicht offiziell gemeldet hatten. In beiden Fällen wird die Staatenlosigkeit von Generation zu Generation weitergegeben.


Die Probleme werden größer: Rund
60.000 Libanes*innen sollen staatenlos
sein, davon die Hälfte unter 18 Jahren

Der Libanon hat zwar die wichtigsten Menschenrechtskonventionen unterzeichnet, die das Prinzip der Nichtdiskriminierung festschreiben. Doch bei der Ratifizierung des Übereinkommens, das die Diskriminierung der Frau in jeder Form ausschließt, erhob die Regierung Einwände gegen Artikel 9 Absatz 2. Dieser Artikel gesteht Frauen das Recht zu, ihre Staatsangehörigkeit an die Kinder weiterzugeben. Ebenso gab es Widerstand gegen Artikel 16 Absatz 1, der die Gleichstellung von Mann und Frau in der Ehe vorsieht.

Die Frontiers Ruwad Association hat kürzlich 3.218 staatenlose Personen erfasst, deren Mütter zum Zeitpunkt ihrer Geburt Libanesinnen waren. Aber auch die Staatsbürgerschaft des Vaters hilft nicht immer weiter. Obwohl in einem Fall die Mutter Libanesin war und der Vater später als Libanese eingebürgert wurde, blieben die sieben Kinder staatenlos. Der Vater war zunächst als „kaid el dars“ registriert worden, also als „Ausländer mit unbekannter, noch zu prüfender Staatsangehörigkeit“. Als schließlich anerkannter Staatsbürger hatte er aber die Eheschließung und die Geburt der Kinder nicht mehr nachträglich registrieren lassen. Bei seinem Tod galt er offiziell noch als ledig, und auch die libanesische Mutter ist aus Sicht der Behörden immer noch unverheiratet. Die Kinder des Paares konnten in diesem Fall also auch nicht von der Einbürgerung ihres Vaters profitieren. Sie sind staatenlos.

Im Libanon gibt es 15 separate Personenstandsgesetze, eines für jede der anerkannten Religionen im Land. Nach all diesen Gesetzen ist der Vater Vormund der Kinder. Er allein kann im Namen seiner minderjährigen Kinder eine Klage einreichen. Ist der Vater gestorben oder unauffindbar, bestellt ein konfessionelles Gericht den Vormund, üblicherweise einen männlichen Familienangehörigen wie den Onkel oder den Großvater. Dies war auch bei jenen staatenlosen Kindern der Fall. Die Mutter musste zuerst den Tod ihres Schwiegervaters nachweisen, bevor sie im Namen ihrer Kinder gegen die Sicht der Behörden klagen konnte. Drei Jahre später hatte sie Erfolg, das Urteil ist aber noch nicht vollstreckt. Die Kinder sind formal also immer noch staatenlos.

Dieser Fall zeigt, wie die im libanesischen Rechtssystem verankerte Geschlechterdiskriminierung nicht nur zu Staatenlosigkeit führt, sondern auch die Suche nach einer Lösung erschwert. Änderungen des Staatsbürgerschaftsgesetzes und der Personenstandsgesetze, die dieser Diskriminierung ein Ende setzen würden, könnten dazu beitragen, Staatenlosigkeit zu verringern oder gar zu verhindern. Parlamentarier*innen, Minister*innen und die Nationale Kommission für libanesische Frauen haben entsprechende Gesetzentwürfe vorgelegt, aber das Parlament hat keines davon aufgegriffen. Obwohl eine beträchtliche Anzahl von Politiker*innen das Recht einer Frau auf die Weitergabe ihrer Staatsangehörigkeit befürwortet, wurde das Thema auf legislativer Ebene nicht behandelt. 2013 beauftragte das Kabinett einen Ministerausschuss, sich mit der Aufhebung der Geschlechterdiskriminierung in den Staatsbürgerschaftsgesetzen zu befassen und einen Vorschlag auszuarbeiten. Dieser Ausschuss empfahl – ironischerweise am Muttertag –, überhaupt nichts zu unternehmen. Er berief sich dabei auf das „Verfassungsprinzip der Gleichheit“, womit das Gleichgewicht zwischen Anhänger*innen des Christentums und des Islams, den beiden Hauptreligionen des Landes, gemeint ist. Da die meisten Staatenlosen dem Islam angehören, befürchtete der Ausschuss wohl, die Verfassungsänderung würde die Zahl der muslimischen Bürger*innen erhöhen und so die religiöse Balance kippen lassen. Doch eine formelle Erklärung wurde dazu nicht abgegeben.

Dieser Beitrag steht unter folgender Urheberrechtslizenz: CC-BY 4.0

Der Artikel wurde im Atlas der Staatenlosen auf Französisch, Englisch und Deutsch veröffentlicht.