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Einige Gewohnheitsrechte ihrer indigenen Völker, insbesondere die Eheschließungen, werden von der Regierung Malaysias nicht anerkannt. So führt die Missachtung von Bräuchen in die Staatenlosigkeit.
Malaysia ist ein multiethnisches und kulturell heterogenes Land mit 32,4 Millionen Einwohnerinnen (2018), von denen 3,2 Millionen oder 9,8 Prozent als Nicht-Staatsbürgerinnen gelten. Es handelt sich dabei um zwei Arten von Staatenlosen: staatenlose Ureinwohner*innen des Landes und Nicht-Staatsbürgerinnen, die nach dem Ende der britischen Kolonialherrschaft 1957 nach Malaysia gekommen sind. Letztere sind hauptsächlich von den Philippinen und aus Indonesien stammende Geflüchtete, denen zunächst dieser Status zuerkannt wurde und die erst später staatenlos wurden.
Systematische, nach Alter, Geschlecht, ethnischer Gruppe und Nationalitätsstatus aufgeschlüsselte Daten liegen kaum vor. In Sarawak, einer hauptsächlich von Indigenen bewohnten Region auf Borneo, konnte die nationale Meldebehörde die Zahl der Personen ohne Staatsangehörigkeit oder Papiere im Jahr 2010 deswegen nur schätzen und kam auf 66.000 Menschen; die Gesamtbevölkerung liegt bei 2,6 Millionen. In ganz Malaysia beantragten 2018 rund 200.000 Personen die Staatsbürgerschaft, aber es gibt keine Informationen darüber, wie viele dieser Anträge von Angehörigen indigener Gemeinschaften gestellt wurden.
Indigene Gruppen machen 11,8 Prozent der Gesamtbevölkerung in den beiden Teilen Malaysias aus, also auf dem Festland und auf Borneo. Heute leben alle im föderalen Malaysia, doch ihre koloniale und postkoloniale Geschichte unterscheidet sich erheblich. Die Sultanate auf dem Kontinent waren Teil einer britischen Kronkolonie, auf Borneo lagen das einer englischen Abenteurerfamilie gehörende Königreich Sarawak und das britische Protektorat Sabah. Die nach der Unabhängigkeit geschaffenen staatlichen Strukturen nehmen keine Rücksicht auf die Rolle der Bräuche und das Gewohnheitsrecht („Adat“) der indigenen Völker. Das betrifft nicht nur rechtliche Regeln und Vorschriften, sondern ihre gesamte Lebensweise: Geburten, Ernte, Feste, Beerdigungen, Hochzeitszeremonien und -rituale, Landnutzung und andere Dinge. Die Ehe ist in diesem Zusammenhang besonders wichtig.
Gemäß dem Adat der Indigenen ist die Eheschließung eine Angelegenheit der gesamten Gemeinschaft, die gewöhnlich im Langhaus in Anwesenheit von Familienmitgliedern, Verwandten und Freundinnen gefeiert wird. Traditionell wurden und werden keine Heiratsurkunden ausgestellt, weil die von der Gemeinschaft bezeugte Zeremonie als völlig ausreichend betrachtet wird. Dies gilt insbesondere für das Hochland, wo der Kontakt mit Ämtern Zeit, Geld und eine gewisse Vertrautheit mit bürokratischen Abläufen erfordert. Ein Sonderfall ist die Kinderheirat: Nach indigenem Gewohnheitsrecht ist die Eheschließung von Kindern ab zwölf Jahren akzeptabel. Nach dem Zivilrecht ist dies jedoch verboten, sodass der Brauch die betroffenen Paare in eine rechtswidrige Situation bringt.
Kinder von Ehepaaren, die nach Gewohnheitsrecht geheiratet und ihre Ehe nicht beim nationalen Standesamt angemeldet haben, geraten in Schwierigkeiten, sobald sie einen Personalausweis beantragen wollen – und nicht nur sie, sondern auch ihre Nachkommen. Ohne einen solchen Ausweis aber können diese Kinder und Kindeskinder viele Rechte nicht ausüben, darunter etwa das Recht auf Zugang zum Gesundheits- und Bildungssystem, zum Arbeitsmarkt oder zu einem Bankkonto. Es gibt aber auch noch andere Probleme. So kann ein indigener Mann seine Staatsangehörigkeit laut Gesetz nicht auf sein Kind übertragen, wenn die Mutter Staatsangehörige eines anderen Landes ist. Eine malaysische Frau wiederum, ob indigen oder nicht, kann ihre Staatsangehörigkeit nicht auf ein außerhalb Malaysias geborenes Kind übertragen.
In den 1990er-Jahren wurden die Versuche der Regierung, den Menschen in Sabah und Sarawak Ausweispapiere – wenn auch nicht unbedingt die Staatsbürgerschaft – zu beschaffen, für politische Zwecke missbraucht. Der damalige Premierminister Mahathir Mohamad soll damals das sogenannte „Project IC“ (IC für „identity card“, Personalausweis) aus rein wahltaktischen Gründen ins Leben gerufen haben: Philippinische Geflüchtete sollten die Staatsbürgerschaft erhalten, damit sie für seine Regierungskoalition Barisan Nasional stimmen, in der Hoffnung, so die Wahl im bis dahin von der gegnerischen Partei regierten Sabah zu gewinnen. Die lokale indigene Gemeinschaft lehnte diese Schachzüge ab. Ihr Widerstand hält bis heute an, obwohl das Gesetz den Indigenen zugutekäme, weil es ihren staaten- oder dokumentenlosen Status beenden würde. 2016 richtete das malaysische Innenministerium einen Staatsbürgerschaftsausschuss für Sarawak und Sabah ein, um die Anträge auf die malaysische Staatsbürgerschaft zügiger überprüfen zu können. Der Ausschuss wurde später durch ein Gremium auf Bundesebene ersetzt, das seine Arbeit allerdings noch nicht aufgenommen hat.
Die in den indigenen Gemeinschaften verbreitete Staatenlosigkeit ist die direkte Folge des Versäumnisses, die Rechte dieser Völker und ihre Bräuche zu respektieren und zu schützen. Sie beraubt sie ihrer Würde. Junge staatenlose Indigene, vor allem Jugendliche, die in die Städte Sarawaks abwandern, werden marginalisiert, da sie weder eine Schule besuchen noch eine Arbeit im formellen Sektor finden können. Ihre Probleme verschärfen sich noch, wenn sie Eltern werden. Denn das Gesetz erlaubt es ihnen nicht, offiziell zu heiraten, weil ihnen die notwendigen Dokumente fehlen. Solange dieser Zustand anhält, werden die indigenen Völker automatisch sozial ausgegrenzt und gesellschaftlich und politisch unsichtbar bleiben.
Dieser Beitrag steht unter folgender Urheberrechtslizenz: CC-BY 4.0
Der Artikel wurde im Atlas der Staatenlosen auf Französisch, Englisch und Deutsch veröffentlicht.