Mai 20, 2021

Nichtstun tötet – Das Europäische Parlament fordert Waiver

Helmut Scholz

Jeden Tag sterben 10.000 Menschen an COVID-19. Wir müssen den Impfstoff weltweit verfügbar machen, um dies zu stoppen. Es ist an der Zeit, den Druck auf die Entscheidungsträger*innen in Europa zu erhöhen, damit sie liefern.  „Nichtstun tötet  –  rettet Leben, nicht Pharmamultis“ argumentiert die Fraktion THE LEFT im Europäischen Parlament. Und am 19. Mai unterstützte die Mehrheit des Hauses den Änderungsantrag der Fraktion THE LEFT, die EU Kommission aufzufordern, die Aufhebung des Patentschutzes von COVID-19-Medizinprodukten in den laufenden WTO-Verhandlungen zu unterstützen.


Am 19. Mai war die Stunde der Wahrheit im Europäischen Parlament in Brüssel gekommen. Dank der immer stärker werdenden internationalen Kampagne für eine Aufhebung der Patente auf Impfstoffe und COVID-19-Medizinprodukte durch die WTO war es der Fraktion THE LEFT im Europäischen Parlament gelungen, das Thema auf die Tagesordnung der Plenarsitzung zu setzen. Ganz ohne Zweifel haben die wachsende Zahl an Stimmen von politischen Vertreter*innen rund um den Globus und in Europa sowie die zahlreichen Forderungen von NGOs und der Zivilgesellschaft dies möglich gemacht. Eine Aufzeichnung der Debatte finden Sie hier: Plenartagung – Multimedia-Zentrum (europa.eu)


Mitglieder der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) demonstrieren vor der Welthandelsorganisation (WTO) für den Verzicht auf geistige Eigentumsrechte an Medikamenten gegen die Coronavirus-Krankheit (COVID-19) im Vorfeld der in Genf stattfindenden Sitzung zum TRIPS-Abkommen (Trade-Related Aspects of Intellectual Property), Schweiz, 4. März 2021. Foto: REUTERS/Denis Balibouse

Diese Debatte ist ein Meilenstein, was das Gewinnen politischer Mehrheiten in der Europäischen Union angeht. Es wurde deutlich: Es gilt noch, die Regierungsparteien jener Staaten zu überzeugen, die sich gegen die Einführung eines Waivers sträuben, darunter viele EU-Mitgliedstaaten. Und da in der WTO die EU-Mitgliedstaaten durch die EU-Kommission vertreten werden, müssen wir eine doppelte politische Mehrheit gewinnen, sowohl im Rat wie auch im Europäischen Parlament, um die Kommission mit dem Mandat nach Genf zu schicken, zugunsten des Waivers zu verhandeln, anstatt ihn weiterhin zu blockieren.

Und dann ist es passiert. Am Ende des Tages, nach vielen Stunden der Debatte, wurde der Änderungsantrag der Fraktion THE LEFT mehrheitlich angenommen, der lautet:

„fordert die EU daher auf, die Welthandelsorganisations-Initiative Indiens und Südafrikas für eine vorübergehende Ausnahmeregelung in Bezug auf geistige Eigentumsrechte für COVID-19-Impfstoffe, -Geräte und -Behandlungen zu unterstützen, und fordert die pharmazeutischen Unternehmen auf, ihr Wissen und ihre Daten über den COVID-19 Technology Access Pool (C-TAP) der Weltgesundheitsorganisation zu teilen“.

Diese Worte wurden Teil der Entschließung des Parlaments zur „Beschleunigung von Fortschritt und Bekämpfung von Ungleichheiten im Hinblick auf die Beendigung von AIDS als Bedrohung der öffentlichen Gesundheit bis 2030“. Es war das erste Mal, dass die Argumente in einer Abstimmung getestet und Mehrheiten zu diesem Thema sichtbar wurden. Unser Änderungsantrag wurde mit einer Mehrheit von 9 Stimmen angenommen. Später wurde die gesamte Resolution mit 468 Ja-Stimmen, 63 Nein-Stimmen und 162 Enthaltungen angenommen. In der Schlussabstimmung stimmten nur die deutschen Liberalen (FDP), die deutschen Christdemokraten (CDU) und einige homophobe Abgeordnete gegen diese Resolution.

In seiner nächsten Plenarsitzung im Juni wird das Europäische Parlament erneut über dieses Thema abstimmen, und zwar im Rahmen eines Berichts über die Handelspolitik nach COVID-19 und in einer eigenen Entschließung über den Waiver. Die Aufgabe, die vor uns liegt, ist es, in der Öffentlichkeit eine Atmosphäre zu schaffen, die Abgeordnete dazu bringt, es zu wagen, vom Mainstream der Mitte-Rechts-Fraktionen abzuweichen, um wirklich auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen.

Die Europäische Volkspartei, zu der auch Angela Merkels Christlich-Demokratische Union (CDU) gehört und die von dem deutschen CSU-Politiker Manfred Weber angeführt wird, hatte monatelang eine Debatte im Europäischen Parlament blockiert. Unterstützt wurden sie von den rechts-außen (ECR) und den rechtsextremen (ID) Fraktionen im Europäischen Parlament und bis vor kurzem auch von der marktliberalen Gruppe Renew Europe, die von Macron dominiert wird.

Bidens Ankündigung, sich dem Lager von mehr als 100 Regierungen anzuschließen, die sich für einen Waiver aussprechen, war sicherlich ein Game Changer. Auch wenn es bis heute bei der Ankündigung geblieben ist. Jetzt behaupten vor allem französische Stimmen, dass sie schon immer für den Waiver gewesen seien. Außerdem beeilte sich die Fraktion der Sozialist*innen und Demokrat*innen, nach der EVP die zweitgrößte Fraktion im Europäischen Parlament, zu verkünden, sie hätten beschlossen, den Waiver zu fordern. Die Grünen hatten sich der Forderung der Fraktion THE LEFT bereits lange vorher angeschlossen. Die Debatte am 19. Mai im Parlament war Anlass, politisch Farbe zu bekennen und Abgeordnete zu identifizieren, die möglicherweise zu überzeugen sind.

Wohlwissend, dass Bidens Ankündigung auch einen Propagandaaspekt hat, sollte die Welt diese Gelegenheit nutzen. Zivilgesellschaftliche Organisationen müssen innerhalb und außerhalb des Parlaments daran arbeiten, das Klima für eine positive Abstimmung im Juni zu schaffen. Das Pendel kann noch in beide Richtungen ausschlagen. Wir sollten nicht vergessen, dass bis jetzt die Regierungen von Joe Biden und Großbritanniens Boris Johnson die größten Impfstoffnationalisten waren und den Export von Impfstoffen in andere Länder kategorisch ablehnten. Und auch heute noch blockieren die USA aktiv den Export bestimmter Rohstoffe und Komponenten, die zur Herstellung von Impfstoffen benötigt werden.

Zunächst ein Blick auf den Grund für die Änderung der Position der USA. Präsident Biden hat die Position der Handelsbeauftragten der Vereinigten Staaten mit der Juristin Katherine Tai besetzt. Seitdem ihre Nominierung mit einem äußerst seltenen 98:0-Ergebnis im Senat bestätigt wurde, hat sie sich bei mehreren Anlässen zugunsten einer Stärkung von Arbeiter*innenrechten und Umweltaspekten in der Handelspolitik ausgesprochen. Vermutlich hat sie positiv auf den internen Druck der Kampagnengruppen in den USA reagiert. Diese Kampagnengruppen in den USA leisten großartige Arbeit.

Es gibt aber auch einen geopolitisch-taktischen Grund für den Wechsel. Die Ankündigung kam einen Tag vor der Genehmigung eines chinesischen Impfstoffs durch die Weltgesundheitsorganisation. Während die Volksrepublik China Impfstoff an eine wachsende Zahl bedürftiger Länder liefert, hat das westliche Covax nur 20 Prozent der versprochenen Dosen geliefert. Die Biden-Administration sieht China als ihren wichtigsten globalen Konkurrenten. Das Signal zu senden, sich gegen so viele Regierungen in Afrika, Asien und Lateinamerika mit ihrem Ruf nach einem Waiver zu stellen, hätte der chinesischen Regierung in die diplomatischen Karten gespielt.

Für den Moment war Bidens Ankündigung, den Waiver zu unterstützen, ein diplomatischer Coup ohne großen Aufwand. Bis jetzt geschieht nichts, um die Ankündigung umzusetzen. Die Verhandlungen in Genf können sich in die Länge ziehen, vor allem wenn Europa die Gespräche weiter ausbremst.

Trotzdem war Bidens Aussage politisch sehr bedeutend für die Kampagne. Sie verleiht dem, was viele internationale Aktivist*innen und die Fraktion THE LEFT gesagt haben, Glaubwürdigkeit. Vorher hatten politische Gruppen wie die ECR die Kampagne verunglimpft, indem sie sagten, „dies ist nur Kommunismus mit einem COVID-19-Dressing“. So etwas kann man Präsident Joe Biden wahrhaftig nicht nachsagen.

Solange die europäische Unterstützung nicht zunimmt, wird die Arbeit in der WTO sehr schwierig bleiben. Die EU ist jetzt eine der letzten Gegnerinnen des Waivers und hat ein Imageproblem. EU-Kommissionspräsidentin Ursula Von der Leyen zeigt sich bereits offen für die Debatte. EU-Kommissar Breton erklärte neulich in einer Ausschusssitzung im Europaparlament, er habe immer die Position vertreten, dass wir uns mit Patenten auseinandersetzen müssen. Das Narrativ, dass mehr als hundert Länder im Unrecht sind und die Weisheit nur im Westen liegt, ist im Begriff zu verschwinden.

Die Regierungen mehrerer EU-Mitgliedsstaaten sind immer noch sehr kritisch, besonders die von den EVP-Mitgliedsparteien geführten. Momentan stellt der Widerstand von Kanzlerin Angela Merkel die größte Herausforderung dar. Ihre Position ist sehr stark von den Patentrechten der in Deutschland ansässigen Firma Biontech für deren mRNA-Impfstoff-Innovationen geprägt. Es ist bemerkenswert, dass sie öffentlich argumentiert hat, dass „wir diese Patente nicht an die Chinesen verschenken können“, weil mRNA ein vielversprechender Ansatz zur Heilung von Krebs sein könnte. Was für ein zynisches Beispiel dafür, dass der Schutz der Profite eines Pharmaunternehmens wichtiger ist als der Schutz von Menschen. Wenn es diese Chance auf einen medizinischen Durchbruch für die Menschheit gibt, sollte man die Entwicklung beschleunigen, indem man das gewonnene Wissen teilt. Noch dazu in der gegenwärtigen Situation: Je länger wir mit der Herstellung, Verteilung und Anwendung von Impfstoffen warten, desto häufiger werden neue Mutationen des Virus auftreten, die neue Varianten hervorbringen. Je länger wir warten, desto mehr setzen wir die Welt den Herausforderungen durch neue Mutationen aus, die resistent gegen Impfstoffe oder Therapien sein könnten. In der Folge wird die längere Dauer der Pandemie zur bitteren Wahrheit, mit all ihren Auswirkungen auf das menschliche Leben, auf den sozialen, wirtschaftlichen und demokratischen Zusammenhalt unserer Gesellschaften. 


Helmut Scholz

Eine Aufhebung des Patentschutzes im Zusammenhang mit COVID-19 ist sicherlich ein erster Schritt. Aber es braucht mehr, um die Produktion weltweit zu steigern. Es werden auch mehr Medikamente für Behandlungen usw. benötigt. Die relevanten Unternehmen müssen die entsprechende Technologie und das damit verbundene Know-how teilen. Auch sind weitere Maßnahmen erforderlich, im Hinblick auf die Erforschung konkreter und spezifischer Faktoren von Zwangslizenzierungen und von Aspekten freiwilliger Lizenzvereinbarungen, um die Diagnostik, therapeutische Produkte und Impfstoffe im Zusammenhang mit Covid-19 voranzubringen. Dies würde dazu beitragen, die bereits vorhandenen Produktionsanlagen im globalen Süden besser zu nutzen. Ist Biontech dazu bereit? Ist Moderna dazu bereit? Die USA besitzen tatsächlich einen Teil der von Moderna gehaltenen Patente und könnten mit gutem Beispiel vorangehen. Selbst ohne einstimmige Beschlüsse innerhalb der WTO könnte die deutsche Regierung innerhalb der EU diesen Weg auch gegenüber Biontech einschlagen. Das wäre hilfreicher als Versuche, den Wortlaut des von Südafrika in der WTO unterbreiteten Waivers zu verwässern. Wir müssen zusammenarbeiten und helfen, weltweit in zusätzliche Produktionskapazitäten zu investieren, um diese Pandemie gemeinsam zu bezwingen. Die nicht nur hinter den verschlossenen Türen des Europäischen Parlaments inzwischen sehr oft geäußerte Losung sollte zum entscheidenden Anstoß für ein Umdenken in der Politik werden: „Lasst uns auf der richtigen Seite der Geschichte stehen!”

Ein Positionspapier von Helmut Scholz, Mitglied des Europäischen Parlaments, Fraktion THE LEFT. Lesen Sie auch: https://www.guengl.eu/big-pharma-strikes-back-right-liberals-delay-mep-vote-on-trips-waiver/.