Januar 18, 2021

Nomad*innen: Begrenztes Leben

Bronwen Manby

Die verbreitete Vorstellung vom Staat und die Regelungen zur Staatsbürgerschaft basieren auf der Annahme, dass die Bürger*innen innerhalb fester Grenzen leben. Aber Millionen Menschen, insbesondere in den Trockengebieten Afrikas und Asiens, ziehen mit ihren Herden auf der Suche nach Wasser und Weideland von Ort zu Ort.


Besonders stark von Staatenlosigkeit betroffen sind Angehörige ethnischer Gruppen, die traditionell Vieh züchten und einer nomadischen Lebensweise folgen. In Afrika sind das viele Millionen Menschen. Ihre Lebensweise ist weit älter als die neuen künstlichen Grenzen, die ihre traditionellen Weidegründe durchschneiden. Auch wenn eine beträchtliche Anzahl dieser Hirten inzwischen sesshaft oder halbsesshaft ist oder sich nur innerhalb eines Landes bewegt, haben viele andere keinen festen Siedlungsort und ziehen mit ihrem Vieh und ihrem Hab und Gut über die Grenzen hinweg.

In praktisch allen Ländern sind die Staatsangehörigkeitsgesetze nicht auf Menschen ohne festen Wohnsitz zugeschnitten. Für die Anerkennung der Staatsbürgerschaft muss fast immer entweder ein Nachweis des Geburtsorts oder der Abstammung von einer Person erbracht werden, die seit einem bestimmten Datum – in Afrika in der Regel der Zeitpunkt der Unabhängigkeit – im Land ansässig war. Was fehlt, ist ein nationales oder internationales Recht zur Bestimmung der Staatsangehörigkeit von Menschen, die in einem bestimmten Staat nicht ihren „gewöhnlichen Aufenthalt“ haben oder hatten.

Speziell in Westafrika muss oft der Nachweis erbracht werden, dass schon Eltern und Großeltern im Land geboren wurden, um die Staatbürgerschaft zu erhalten. Allerdings wurden während der Kolonialzeit nur wenige Geburten überhaupt registriert, und in vielen Ländern werden auch heute nur 50 Prozent oder weniger der Kinder erfasst. Diese mangelhafte Praxis der Registrierung kann Mitgliedern jeder Gruppe Probleme bereiten. Weniger Probleme werden Kinder haben, deren Eltern einer bekanntermaßen im Land ansässigen ethnischen Gruppe angehören. Der Status der Angehörigen nomadischer Bevölkerungsgruppen wird jedoch immer infrage stehen.

Angehörige der 25 Millionen Menschen zählenden Ethnie der Fulbe (auch Fulani oder Peul genannt) etwa, traditionell ein nomadisch lebendes Hirtenvolk, ist in ganz Westafrika bis zum Sudan zu fi nden. In den Staaten, in denen sie präsent sind, werden sie gemeinhin als „fremd“ angesehen, insbesondere wenn es zwischen den Sesshaften und ihnen zu Konfl ikten über die Landnutzung kommt. Im Extremfall werden Fulbe massenhaft ausgewiesen – mit der Begründung, sie besäßen nicht die jeweilige Staatsbürgerschaft. So vertrieb Sierra Leone 1982 viele Fulbe, die angeblich aus Guinea stammten, Ghana folgte 1988/89 und noch einmal 1999/2000. Auch, als die mauretanische Regierung 1989/90 rund 70.000 Menschen mit derselben Begründung auswies, waren die Betroff enen zum allergrößten Teil Viehhirt*innen der Fulbe und ihre Familien aus dem Senegal-Flusstal.

Selbst denjenigen Fulbe, die seit mehreren Generationen an demselben Ort ansässig sind oder nur innerhalb eines Landes umherziehen, begegnet oft genug Misstrauen, das ihren Status als Bürger*innen des betreffenden Staates infrage stellt – häufig nur, weil sie einen Fulbe-Nachnamen tragen. Einige Diskriminierungsopfer können mithilfe von Bürgschaften oder auch durch Bestechung Ausweispapiere erhalten. Aber die Ärmsten und am stärksten Ausgegrenzten sind dazu finanziell meist nicht in der Lage und haben daher kaum eine Chance, als Staatsangehörige irgendeines Staates anerkannt zu werden. Infolgedessen haben sie keinen Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen, einschließlich Gesundheitsversorgung und Bildung für ihre Kinder, sie sind von der formellen Wirtschaft ausgeschlossen und können weder wählen noch für politische Ämter kandidieren.

Ebenfalls von Staatenlosigkeit bedroht sind die nomadisierenden Tuareg, die in der westlichen Sahara von Kamelzucht und Handel leben. Sie sprechen Tamaschek (oder Tamasheq), einen Dialekt der Berbersprache. Die Forderung nach Selbstbestimmung der Tuareg reicht bis in die 1950er-Jahre zurück, doch als die Kolonialmächte sich zurückzogen, wurde für sie kein eigener Staat geschaffen. Heute verteilen sie sich auf Algerien, Libyen, Mali, Burkina Faso und Niger.


Die vielen Grenzen im Sahel passen nur schwer zur
weiträumigen nomadischen Wirtschaft sweise und
erleichtern Regierungen, Wanderhirt*innen auszugrenzen

Der Unmut darüber, dass die Menschen in den Wüstenregionen unterdrückt und marginalisiert werden, führte unter anderem zu den Aufständen in Niger und Mali in den 1960er- und 1990er-Jahren sowie noch einmal in Mali im Jahr 2011. Der fehlende Zugang zu Beweisen, die ihre Staatsangehörigkeit dokumentieren, ist bis heute für viele Tuareg ein zentrales Problem. Andere Gruppen mit einer ursprünglich nomadischen Lebensweise stehen vor ähnlichen Hürden, etwa die Mahamid-Araber*innen in Niger, von denen vermutet wird, dass sie aus dem benachbarten Tschad stammen.

In der Vergangenheit war es westafrikanischen Nomad*innen möglich, ohne Ausweispapiere als Beleg für ihre Staatsangehörigkeit zu überleben oder sogar zu prosperieren. In abgelegenen ländlichen Regionen oder Wüstengebieten sind staatliche Institutionen auch heute noch kaum präsent. Es gibt somit auch kaum Anreize und Gelegenheiten, Geburten zu registrieren und Ausweispapiere zu beantragen, um Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen zu erhalten. Mittlerweile haben jedoch Sicherheitsfragen und die Bemühungen zur Verbesserung der öffentlichen Dienste dazu geführt, dass Ausweispapiere immer wichtiger werden – selbst für diejenigen, die ihre eigenen Gemeinschaften gar nicht verlassen wollen. Solange aber Eltern keine Dokumente haben, bleibt es schwierig, die Geburten ihrer Kinder zu registrieren. Mit jeder Generation ohne Ausweispapiere nimmt damit das Risiko der Staatenlosigkeit weiter zu.

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Der Artikel wurde im Atlas der Staatenlosen auf Französisch, Englisch und Deutsch veröffentlicht.