Januar 18, 2021

Rohingya: Opfer einer Rassenhierarchie

Katherine Southwick

An Myanmars Spitze stehen Burmes*innen, die anderen Ethnien des Vielvölkerstaates sind ihnen untergeordnet. Doch die muslimischen Rohingya werden ausgeschlossen. Die Folge: ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.


Der Fall der Rohingya von Myanmar ist ein gutes Beispiel dafür, wie Diskriminierung von Ethnien und Staatenlosen zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord führen können. Zwar hat noch kein Gericht geurteilt, doch inzwischen herrscht breite Einigkeit darüber, dass hinreichend dokumentierte Beweise für diese Gewalttaten vorliegen. 2019 wurden beim Internationalen Strafgerichtshof und beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag sowie bei argentinischen Gerichten Verfahren eingeleitet. Ihr Ziel ist, die Anschuldigungen wegen Gräueltaten bis hin zum Völkermord, die der myanmarische Staat an den Rohingya begangen haben soll, zu prüfen.

Wenn sich die Institutionen des Völkerrechts mit dem Schicksal der Rohingya befassen, müssen sie die spezifischen Ursachen der Staatenlosigkeit und der humanitären Krise der Rohingya in ihrem historischen, sozialen und geografischen Kontext berücksichtigen. Wie in vielen Fällen von Staatenlosigkeit ist auch bei den Rohingya die Diskriminierung ihrer Ethnie zugleich Ursache und Folge der Tatsache, dass sie keinen Zugang zu Staatsbürgerschaft und anderen Rechten haben. Die Diskriminierung ihrer Ethnie ergibt sich zum Teil daraus, wie ihre Identität in Myanmar historisch konstruiert wurde, besonders in den vergangenen 50 Jahren.


Myanmars Militärs und die von ihnen beherrschten
Parteien betreiben seit Jahrzehnten Unterdrückung und
Entrechtung – bis hin zum Völkermord

Trotz einiger Unterschiede bei den Darstellungen im Detail ist davon auszugehen, dass die überwiegend muslimischen Rohingya ihre Wurzeln im vorkolonialen Myanmar haben. Zudem wanderte während der britischen Kolonialherrschaft im 19. Jahrhundert eine beträchtliche Zahl von Musliminnen von Norden in den heutigen myanmarischen Bundesstaat Rakhine (auch: Rakhaing) ein. Gegen Ende der Kolonialzeit lebten die dort ansässigen Arakanesinnen und andere buddhistische Ethnien ohne größere Konflikte mit den Rohingya und anderen Musliminnen zusammen. Erste Spannungen zwischen den Gruppen traten während des Zweiten Weltkriegs auf, als sich buddhistisch- nationalistische Bewegungen mit der japanischen Armee verbündeten, um die britische Kolonialherrschaft zu beenden. Die Musliminnen in Rakhaing, die einem zukünftigen buddhistisch dominierten Regime skeptisch gegenüberstanden und eine größere politische Autonomie anstrebten, stellten sich auf die Seite der britischen Regierung. Bei der Unabhängigkeit 1948 wurde auf Basis der Verfassung versucht, die Gleichstellung und ein gewisses Maß an Autonomie der wichtigsten ethnischen Gruppen aufrechtzuerhalten. Die meisten Rohingya galten als Bürger*innen des neuen Staates.

Nach dem Militärputsch von 1962 führte General NeWin das Konzept der Taing Yin Tha („nationale Rassen“) ein. Seine Vorstellung von Einheit und Zugehörigkeit beruhte dabei auf Indigenität, also darauf, welche Völker aus dem Land selbst stammen. Taing Yin Tha entwickelte sich im Lauf der Zeit zu einer Rassenhierarchie, an deren Spitze Burmesinnen stehen. Ihrer Herrschaft haben sich andere Gruppen unterzuordnen, während wieder andere, insbesondere die Rohingya, schließlich von der Staatsbürgerschaft ausgeschlossen wurden.


Über 740.000 Menschen flohen 2017/18
nach Bangladesch und trafen dort auf 200.000
weitere Opfer früherer Vertreibungen

Hintergrund dieser Ausgrenzung war die Politik des Militärregimes in den 1960er- und 1970er-Jahren, „ausländische“ Ethnien zu Sündenböcken für die wirtschaftlichen Probleme des Landes zu machen. Sie erweckten dazu bewusst den falschen Eindruck, die Menschen aus China und Bangladesch (aus dem damaligen Ostpakistan) hielten sich illegal im Land auf. 1978 flohen etwa 200.000 Rohingya nach Bangladesch, als eine mit militärischer Gewalt durchgeführte Überprüfung des Einwanderungs- und Aufenthaltsstatus begann. Berichten zufolge beschlagnahmten manche Beamte während der Überprüfung Aufenthaltspapiere. Dadurch wurde der Nachweis der Staatsbürgerschaft deutlich erschwert, als die meisten Gefl üchteten noch im selben Jahr zurückkehren konnten. In den Jahren 1991 und 1992 sowie 2012, 2013 und 2017 kam es in einem rassistischen und militaristischen Klima zu weiteren Massenvertreibungen.

Viele Organisationen verweisen darauf, dass auch das Staatsbürgerschaftsgesetz von 1982 die Grundlage dafür schuf, dass den Rohingya die Staatsbürgerschaft aberkannt wurde. So sind diese nicht unter den 135 ethnischen Gruppen aufgeführt, die sich für die Staatsbürgerschaft qualifi zieren, weil sie schon vor 1823 dauerhaft in Myanmar ansässig waren, als die britische Kolonialisierung einsetzte. Zweifellos enthält das Gesetz diskriminierende Bestimmungen, die internationale Menschenrechtsstandards verletzen. Manchen Fachleuten zufolge ist die Staatenlosigkeit der Rohingya jedoch auf den Verzicht des Staates, die im Gesetz durchaus vorhandenen Möglichkeiten zur Anerkennung der Rohingya zu nutzen, zurückzuführen.

Egal ob die Rohingya nun de jure oder de facto staatenlos sind – dass sie keinen Status als Bürgerinnen haben, führte zu einer Politik, die sie im Namen der Staatssicherheit diskriminiert und zu kontrollieren versucht. So werden beispielsweise ihre Bewegungsfreiheit und ihre Erwerbstätigkeit eingeschränkt sowie das Recht, zu heiraten und Kinder zu bekommen. Seit dem Exodus von rund 700.000 Rohingya nach Bangladesch in den Jahren 2017 und 2018 haben es Medien und humanitäre Organisationen schwer, in den Bundesstaat Rakhine zu kommen und sich dort über die Lage zu informieren. Es besteht Anlass zur Sorge über die Lebensbedingungen von Bevölkerungsgruppen, die bei den Kämpfen der myanmarischen Armee und militanter Arakanes*innen mit Rohingya-Gruppierungen zwischen die Fronten zu geraten drohen.

Dieser Beitrag steht unter folgender Urheberrechtslizenz: CC-BY 4.0

Der Artikel wurde im Atlas der Staatenlosen auf Französisch, Englisch und Deutsch veröffentlicht.