Januar 19, 2021

Roma: Ganz am Rand

Vladan Jeremić

Keine Volksgruppe Europas ist so marginalisiert wie die der Roma. Der Zerfall der sozialistischen Länder ergab ein weiteres Problem: fehlende Ausweispapiere.


Rom bedeutet „Mann“ in der Sprache der Roma, dem Romanes oder Romani. Roma wird in Europa als Oberbegriff verwendet. Es gibt Roma, Sinti, Manouche, Kale, Romanichels, Gypsies, Aschkali, Balkan-Ägypter*innen und viele andere Gruppen und Untergruppen. Untersuchungen der Sprache haben ergeben, dass die Roma aus Indien stammen und sich im Mittelalter in Europa ansiedelten. Mit geschätzten zehn bis zwölf Millionen Menschen sind die Roma die bei Weitem größte ethnische Minderheit des Kontinents.

Bis heute haben sie mit Schwierigkeiten zu kämpfen, wenn sie einen Aufenthaltstitel oder eine Staatsbürgerschaft beantragen. Das Verhältnis der Mehrheitsgesellschaften gegenüber den Roma ist seit jeher von Ablehnung geprägt. Die Roma wurden in ihren Rechten beschränkt, zur Assimilation gezwungen oder verfolgt. Diese repressiven Maßnahmen gipfelten im Völkermord des „Porajmos“ im Zweiten Weltkrieg, durch den etwa 500.000 Roma ihr Leben verloren.

Bis heute werden diesen – oft als „Zigeuner“ bezeichneten – Gruppen Eigenschaften zugeschrieben, die sie als von der Norm abweichend stigmatisieren. Der als Antiziganismus bezeichnete Rassismus gegenüber den Roma findet seinen Ausdruck in Gewalt, Hassreden, Ausbeutung und struktureller Diskriminierung. Er fußt, ähnlich wie der Antisemitismus, auf einer Ideologie der rassistischen Überlegenheit. Dies gilt auch für die Balkanregion, wo ein Großteil der europäischen Roma lebt.

Mit dem Niedergang der sozialistischen Staaten Ost- und Südosteuropas verschlechterte sich die bereits schwierige Situation der Roma dramatisch. Schon in den sozialistischen Staaten wurden die informellen Siedlungen der Roma oft zerstört, sie wurden umgesiedelt oder vertrieben. Seit 1990 führen auch offene nationalistische und rassistische Ideologien dazu, dass sie bei der Arbeitssuche, im Bildungs- und Gesundheitssystem diskriminiert und benachteiligt werden. Armut und fehlende Dokumente führen dazu, dass mehr als die Hälfte der Roma in abgetrennten Siedlungen oft unter menschenunwürdigen Bedingungen leben müssen.


Längst unterscheidet sich die Mobilität der
Roma kaum noch von der ihrer Umgebungskulturen.
Doch Mythen davon halten sich bis heute

Innerhalb Jugoslawiens hatten die Roma häufig den Wohnort gewechselt und tauchten nicht in den Melde- und Geburtsregistern auf. Nach dem Zerfall des Staates in mehrere neue Republiken waren viele plötzlich mit dem Problem ihrer Staatenlosigkeit konfrontiert. Dies betraf auch die Roma, die im westeuropäischen Ausland lebten und nun de facto zu Staatenlosen wurden. Bis heute haben sie Probleme wegen ihres Aufenthaltsstatus – auch, wenn sie ihre Staatsbürgerschaft neu beantragen wollen und die Behörden ihnen beispielsweise nicht helfen, die nötigen Dokumente zu beschaffen.

Roma aus Jugoslawien waren als diskriminierte Minderheit den gesellschaftlichen Umwälzungen und Kriegen in der Region besonders schutzlos ausgesetzt. Die Roma, die im Bosnienkrieg von 1992 bis 1995 fliehen konnten, verloren sowohl ihren Wohnort als auch ihre Staatsbürgerschaft. Auch den kriegerischen Auseinandersetzungen im Kosovo von 1998 bis 1999 fielen sie zum Opfer. Mehr als 100.000 Roma mussten fliehen, etwa 50.000 von ihnen beantragten Asyl in Deutschland, erhielten aber nur den Status der Duldung.


Die Geburt von Kindern in Armut und ohne
offizielle Erfassung ist ein Scharnier, über das sich
die Staatenlosigkeit von Roma vererben kann

Nach Kriegsende handelten Deutschland und andere europäische Länder Rücknahmeabkommen mit den Balkanländern aus, um Menschen ohne ständige Aufenthaltsgenehmigung in der EU in ihre Herkunftsländer zurückschicken zu können. In der Folge wurden einige Zehntausend Roma nach Serbien, Kosovo und Nordmazedonien abgeschoben. Die Mehrheit versuchte, nach Deutschland zurückzukehren und wieder Asyl zu beantragen. Dies war möglich, bis Deutschland die Balkanländer 2014 und 2015 auf die „Liste der sicheren Herkunftsstaaten“ setzte. Damit wurde unterstellt, dass dort keine generelle politische Verfolgung stattfindet. Dadurch wurde den Roma faktisch das Recht auf Asyl in den Ländern der EU genommen. Zudem können die in der EU lebenden Roma jetzt leichter abgeschoben werden. Allein aus Deutschland wurden von 2015 bis 2019 mehr als 50.000 Menschen, Roma und Nichtroma, in die Länder des Westbalkans abgeschoben.

Roma, die in die Balkanländer abgeschoben werden, haben oft nur den Geflüchtetenstatus und besitzen keine gültigen oder nur unvollständige persönliche Dokumente. In der Folge finden sie meist nur in den informellen Armutssiedlungen Unterkunft, was wiederum dazu führt, dass sie sich nicht mit einer Meldeadresse registrieren lassen können. Auch wenn es verschiedene Programme zur Integration und Inklusion von Roma gibt – wie etwa der EU-Rahmen für nationale Strategien zur Integration der Roma bis 2020 aus dem Jahr 2011 –, hat sich die Situation der Roma in den Balkanländern nicht entscheidend verbessert. Stattdessen führen der Aufstieg der neuen Rechten in den europäischen Ländern und die damit einhergehende Verbreitung von Hass auf Geflüchtete und Muslim*innen dazu, dass Roma in ganz Europa wieder in Angst leben müssen.

Dieser Beitrag steht unter folgender Urheberrechtslizenz: CC-BY 4.0

Der Artikel wurde im Atlas der Staatenlosen auf Französisch, Englisch und Deutsch veröffentlicht.