Aktie Twitter Facebook Email Copy URL
«Rote Rosa Nr. 1» – die revolutionäre Frau
Sie war das Feindbild des helvetischen Bürgertums, wurde aber auch in den Reihen der Sozialdemokratie angefeindet. Die «rote Rosa Nr. 1» (die zweite war Rosa Bloch) verkörperte in den Augen vieler Zeitgenossen die «revolutionäre Frau» und somit das Gegenteil einer «Schweizerin». Rosa Grimm-Schlain kam am 27. Januar 1875 in Odessa in einer gut situierten jüdischen Kaufmannsfamilie zur Welt, sie war zwei Mal geschieden und sie war Linksozialistin, dann eine der Gründerinnen der Kommunistischen Partei der Schweiz (KPS). Die bürgerliche Presse bis hin zu den Grütlianern beschimpfte in abschätziger, frauenverachtender Art ihre Herkunft, ihre Lebensführung, ihr Aussehen. Sie bezeichnete «unser Adoptivrösli» als «exaltierte Russin», «Giftkröte» und «Hyäne» sowie als hässlich, alt und mager. Selbst ihr zweiter Ehemann, der Schweizer Sozialdemokrat Robert Grimm, mit dem sie zwei Kinder hatte, nannte sie nach ihrer Scheidung 1916 eine schlechte Mutter und Hausfrau.
Weshalb zog diese Frau derart viel Hass auf sich? Rosa Grimm zählte zu den zahlreichen Russinnen, die zum Studium in die Schweiz gekommen waren. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war sie eine der seltenen Frauen, die in der Schweiz an vorderster Stelle politisch engagiert waren und Führungsfunktionen in der Arbeiterbewegung innehatten. Nach ihrer zweiten Scheidung lebte sie nur noch für ihr politisches Engagement. Sie zog zuerst nach Zürich, wo sie während der Novemberkrawalle 1917 verhaftet wurde. Da sie durch ihre Heirat Schweizer Staatsbürgerin geworden war, konnte sie nicht ausgewiesen werden. Sie trat entschieden für die Unterstützung der russischen Revolution und nach Gründung der Kommunistischen Internationale für den Beitritt der Schweizer Sozialdemokratischen Partei (SPS) ein. Ihre nächste Station 1919 war die Stadt Basel, als interimistische, dann permanente Redakteurin des Basler Vorwärts und als Mitglied des kantonalen Parteivorstands. 1921, nach der Gründung der KPS, gehörten sie und Rosa Bloch als einzige Frauen zur neuen Parteizentrale. Die belesene Grimm, die früher in Wien eine Schauspielschule besucht und in Bern studiert hatte, allerdings ohne ihr Studium je abzuschliessen, leitete zwischen 1921 und 1926 die literarische Beilage des Basler Vorwärts. Ihr Spezialgebiet waren Theater- und Literaturkritiken. Im Streit über «bürgerliche» contra «proletarische» Kultur verteidigte sie die Notwendigkeit, sich Allgemeinwissen für den Klassenkampf anzueignen – eine Position, die mit der «Bolschewisierung» und Stalinisierung der Kommunistischen Parteien ab der zweiten Hälfte der 1920er Jahre marginalisiert wurde. Das zweite parteipolitische Engagement Rosa Grimms neben kulturellen Fragen betraf Frauenfragen. Sie war Mitglied der Frauenagitationskommission der KPS und setzte sich für das Frauenstimmrecht und den straffreien Schwangerschaftsabbruch ein, zwei Themen, die im Kanton Basel-Stadt in den 1920er Jahren zu heftigen Auseinandersetzungen führten. Vehement und scharfzüngig bekämpfte Rosa Grimm die «Heuchlermoral der bürgerlichen Gesellschaft», aber genauso die «kleinbürgerliche Mentalität» ihrer Genossen … und Genossinnen.
Dank ihrer Russischkenntnisse und ihrer Bekanntschaft mit Lenin und anderen führenden Bolschewiki hatte sie engen Kontakt zur Sowjetunion. Sie war mehrmals an internationale Kongresse und Konferenzen delegiert. Mit Clara Zetkin und Nadežda Krupskaja war sie gut befreundet. In den 1920er Jahre lebte sie zeitweise in Berlin, 1930/1931 in Moskau, wo sie als Übersetzerin der Kommunistischen Internationale arbeitete. Sie kam mit Kritik über die Entwicklung der Sowjetunion zurück, blieb aber Parteimitglied, obschon sie in den 1930er Jahren in der KPS in den Hintergrund gedrängt wurde. Im Zweiten Weltkrieg trat sie wieder der SPS bei. Rosa Grimm starb am 12. November 1955 verarmt in der Nähe von Zürich.
Brigitte Studer, Historikerin, emerierte Professorin der Universität Bern, ist Spezialistin für die Geschichte der Frauen und des Geschlechts sowie für die Geschichte des internationalen Kommunismus und des Stalinismus. Kürzlich veröffentlichte sie La conquête d’un droit. Le suffrage féminin en Suisse und Reisende der Weltrevolution. Eine Globalgeschichte der Kommunistischen Internationale.