März 12, 2021

Rosa, Montserrat, Grazia, Maria oder Carmela

Jacqueline Ricciardi Werlen

Porträt einer Generation von Immigrantinnen in der Schweiz


Sie heißen Rosa, Montserrat, Grazia, Maria oder Carmela.

In den sechziger Jahren, meist in sehr jungen Jahren, ließen sie alles zurück, ihre Familien, ihre Freunde, um ihren Ehemännern zu folgen, die ein paar Monate oder ein paar Jahre zuvor in die Schweiz gegangen waren, in der Hoffnung auf bessere Tage, meist als Saisonarbeiter.

Die Schweiz befand sich damals noch mitten im wirtschaftlichen Aufschwung und rekrutierte deshalb eine große Zahl ausländischer Arbeitskräfte.

Als sie in der Schweiz ankamen, oft ohne ein Wort der Sprache ihres Gastlandes zu kennen, mussten sie feststellen, wie hart das Leben eines eingewanderten Arbeiters/einer eingewanderten Arbeiterin sein kann.


Italienische Gastarbeiterinnen sortieren in der Schokoladenfabrik von Lindt und Sprüngli Schoggistängeli nach deren Größe und legen diese auf ein Förderband, aufgenommen im April 1970. Foto: KEYSTONE/Photopress-Archiv/Dejaco

Ihre Ehemänner, die manchmal in Barackenlagern oder heruntergekommenen und überteuerten Zimmern untergebracht waren und vor ihrer Ankunft in der Schweiz noch nie einen Kochtopf angefasst oder Strümpfe gewaschen hatten, wurden von ihren Frauen laufend unterstützt, um einen Anschein von Würde zu wahren.

Unter diesen Frauen war auch meine Mutter Grazia. 1962, kaum einen Monat  nach ihrer Hochzeit in der Gegend von Neapel, folgte sie meinem Vater in die Schweiz.  Abgesehen von einer kurzen Hochzeitsreise nach Sizilien hatte sie diese Gegend bis dahin noch nie verlassen.

Unter diesen Frauen war auch meine Mutter Grazia, die 1962 in die Schweiz kam, um meinem Vater zu folgen, nur einen Monat nach ihrer Heirat in der Gegend von Neapel, einer Gegend, die sie noch nie verlassen hatte, abgesehen von einer erst kurz zurückliegenden und kurzen Hochzeitsreise nach Sizilien.

Die Akklimatisierung ist schwierig. Die Sprache stellt eine Barriere dar, das Wetter ist lebensfeindlich, die Entfernung von der Familie und das Gefühl der Isolation schmerzhaft.

Wie andere Frauen ihrer Generation und ihres Standes übernimmt Grazia neben dem Großteil der Hausarbeit eine Reihe von Gelegenheitsjobs.

Als Näherin in der Textilindustrie, als Putzfrau in Firmen oder Privathaushalten, als Fließbandarbeiterin in einer Streichholzfabrik, als Tagesmutter, etc.

Dann kommen die Kinder. Und mit ihnen das Problem der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Die Kinder wurden in Kinderkrippen untergebracht, eine Einrichtung, die damals in der ganzen Schweiz sehr selten war und fast ausschließlich von Kindern von Einwanderern oder aus der Arbeiterklasse besucht wurde.

So stieg Mitte der 1960er Jahre die Zahl der Kinder mit Migrationshintergrund in den Kinderkrippen einiger Regionen um 60 Prozent, obwohl bei der Platzvergabe Schweizer Kinder bevorzugt wurden. In den Folgejahren wurde durch das Wachstum dieser Einrichtungen die außerhäusliche Kinderbetreuung auch für die Mittelschicht immer selbstverständlicher.

Doch bevor dies der Fall war, und um den Mangel an öffentlichen Einrichtungen zur Betreuung der Kinder von Schweizerinnen, die einer bezahlten Arbeit nachgehen mussten oder wollten, zu kompensieren, wurden viele dieser Migrantinnen selbst zu „Tagesmüttern“.

Auch heute noch können wir beobachten, dass diejenigen, die im so genannten „CARE“-Bereich (Haus-, Erziehungs- und Pflegearbeit) arbeiten, dazu beitragen, dass viele Frauen in der Erwerbsarbeit bleiben.

In gewisser Weise sorgen all diese Frauen trotz der sehr geringen Verdienstmöglichkeiten und oft auch gegen ihren Willen für die kostbare „finanzielle Autonomie“ von Frauen aus wohlhabenderen Schichten.

Weil sie oft im Schatten der großen Frauen arbeiteten, die für die sozialen und politischen Rechte der Frauen in der Schweiz kämpften, und weil sie diese unterstützten, deswegen möchte ich sie an dieser Stelle würdigen.

Jacqueline Ricciardi Werlen wurde 1967 als Tochter zweier italienischer Einwanderer in der Schweiz geboren.
Sie ist Mutter von zwei Kindern, Schauspielerin, Performerin und Autorin.
In den letzten zehn Jahren hat sie sich sehr für die Verteidigung der Rechte von Frauen und Künstlern engagiert.