Juli 7, 2021

Setzt die ILO die Agenda für menschenwürdige Arbeit in den globalen Lieferketten um?

Silvana Cappuccio

Die Internationale Arbeitsorganisation (IAO, englisch und gebräuchlich ILO) sollte der Umsetzung der Agenda für menschenwürdige Arbeit[i] innerhalb der globalen Wertschöpfungsketten dringende Priorität einräumen. Mit ihrem globalen Mandat zur Förderung sozialer Gerechtigkeit, ihrer Erfahrung und Expertise, ihrer normativen Rolle und ihrer dreigliedrigen[ii] Struktur ist die ILO ein einzigartiges multilaterales Gremium innerhalb der Vereinten Nationen. Dank ihrer Position in der internationalen Arena kann sie sich mit Widersprüchen und Lücken befassen, durch die Ungleichheiten verschlimmert oder sogar erst geschaffen werden; basierend auf den in den letzten hundert Jahren auf dreigliedriger Ebene geschmiedeten Kriterien kann sie den Weg für einen radikalen Wandel und Entwicklungen ebnen.


Die Arbeit in globalen Liefer- oder Wertschöpfungsketten[iii], sowohl auf globaler als auch auf nationaler Ebene, kennzeichnet die Veränderungen, die die Arbeitsorganisation in den vergangenen Jahrzehnten durchlaufen hat. Ihr Umfang und die Auswirkungen insgesamt sind gewaltig. Achtzig Prozent des weltweiten Handels findet in „Wertschöpfungsketten” statt, die mit multinationalen Konzernen (MNU, Multinationale Unternehmen) verbunden sind[iv]. Schätzungsweise einer von fünf Arbeiter*innen weltweit arbeitet in einem dieser Unternehmen[v]. Da der Großteil der Arbeit in den globalen Lieferketten sich im informellen Sektor abspielt, wo Gelegenheitsarbeiter*innen, Heimarbeiter*innen ohne Vertrag, Leiharbeitskräfte und sogenannte atypisch Arbeiter*innen beschäftigt sind – und deshalb von offiziellen Daten nicht erfasst werden – ist dies eine eher konservative Schätzung. Außerdem könnten im aktuellen Kontext der COVID-19-Pandemie einige Faktoren, die mit der hohen Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung zusammenhängen, die Prekarität entlang der globalen Lieferketten noch erhöhen.

Diese Änderungen finden statt vor dem Hintergrund zunehmender Geschwindigkeiten bei Kommunikation und Austausch sowie rasanter technologischer Innovationen, wobei soziale Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit und ihre grundlegenden Elemente sich in einer schweren Krise befinden. Die meisten Arbeiter*innen der globalen Lieferketten sind in der informellen Wirtschaft konzentriert, wo sie jeder Form von Kontrolle über die Einhaltung grundlegender Menschen- und Arbeitsrechte entgehen. Sie erhalten magere Löhne, können sich nicht gewerkschaftlich organisieren und keine Tarifverhandlungen führen und sind deshalb ernsthaften Gesundheits- und Sicherheitsrisiken ausgesetzt, von sozialem Schutz ausgeschlossen und leben unter schlechten oder sehr schlechten Bedingungen. Die Realität der Arbeit in den globalen Lieferketten steht in krassem Gegensatz zu dem in den letzten Jahrzehnten verbreiteten Narrativ, dass die internationale Dezentralisierung der Arbeit Wohlstand schaffen würde. Vielmehr stellt diese Art der Arbeit eine Sackgasse der Ausbeutung dar, in der die Menschenwürde mit Füßen getreten wird, Arbeitsrechte verweigert werden, die Armut fortbesteht und Hoffnungen auf eine bessere, glücklichere Zukunft für die Arbeiter*innen, ihre Familien und ihr gesellschaftliches Umfeld lediglich ein Trugbild sind.


Am 1. Mai 2018 demonstrieren Frauen für einen existenzsichernden Lohn, Mutterschutz, Vereinigungsfreiheit und ein Ende der geschlechtsspezifischen Gewalt am Arbeitsplatz an der Seite der Arbeitsrechtsorganisation und Solidarity Center-Partnerin Awaj Foundation in der Nähe des Dhaka Press Club. Die bangladeschische Konfektionsindustrie ist der größte Exportschlager des Landes. Die Löhne sind jedoch die niedrigsten unter den großen Bekleidungsherstellernationen. Ohne eine Gewerkschaft werden die mehrheitlich weiblichen Bekleidungsarbeiterinnen oft schikaniert oder entlassen, wenn sie ihren Arbeitgeber auffordern, Gefahren am Arbeitsplatz zu beseitigen oder existenzsichernde Löhne zu fordern. Foto: Musfiq Tajwar, Solidarity Center, CC BY-NC 2.0

Die meisten Beschäftigten in den am schlechtesten bezahlten Bereichen der Lieferketten sind Frauen. Sie sind dort häufig vielfältigen Formen von Diskriminierung, Belästigung und Gewalt ausgesetzt. Die Bekleidungsindustrie ist das bekannteste Beispiel, aber nicht das einzige. Dank der Ausweitung von Freihandelszonen weltweit ist es möglich geworden, die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft als Arbeitskräfte anzuheuern. Die unterste Stufe der verarbeitenden Industrie ist vorwiegend in diesen Zonen angesiedelt. Unternehmen, die in diesen Regionen investieren, profitieren von Steuerbefreiungen und einer fehlenden Kontrolle der Einhaltung von Arbeitnehmerrechten. Die Freiheit, sich gewerkschaftlich zu organisieren, wird unterdrückt und das Recht auf Tarifverhandlungen wird allgemein missachtet. In einigen Fällen werden Scheingewerkschaften gegründet, um die Anforderungen scheinbar zu erfüllen, wobei lediglich die Kästchen angekreuzt werden, mehr aber nicht. Diese Ausnahmeregelungen haben verheerende Auswirkungen auf das Leben der Arbeiter*innen und das Umfeld sowie auf öffentliche Dienstleistungen wie Wasserversorgung, Abwasserentsorgung, Gesundheitsdienste und Schulen. Noch einmal: Dies widerspricht dem Narrativ, dass die Dezentralisierung von Arbeit Wohlstand schafft. Die Wahrheit ist, dass diese Prozesse einen Teufelskreis schaffen, der Armut, Diskriminierung, Ungleichheit und Demokratisierungshindernisse gleichermaßen fördert.

Im Jahr 2016 verabschiedete die Internationale Arbeitskonferenz (ILC, International Labour Conference) nach intensiver und kontroverser Debatte zwischen Arbeiter*innen, Arbeitgebern und Regierungen[vi]eine Entschließung zu menschenwürdiger Arbeit in den globalen Lieferketten, in der es unter anderem heißt: „Es besteht die Sorge, dass die aktuellen ILO-Normen möglicherweise nicht geeignet sind, um menschenwürdige Arbeit in den globalen Lieferketten zu gewährleisten”[vii]. Es versteht sich von selbst, dass der Wortlaut der Entschließung das Ergebnis eines Kompromisses ist, des einzigen zu diesem Zeitpunkt möglichen einvernehmlichen Ergebnisses. Die Arbeiter*innen machten Druck, um die Debatte über eine neue Norm zu eröffnen. Die Gruppe der Arbeitgeber im ILO-Verwaltungsrat (Governing Body, GB) lehnte eine solche Debatte entschieden ab. Dies bringt die Divergenzen zwischen den Sozialpartnern ans Licht. Sie sind sich völlig uneinig und damit unvereinbar, zumal sie von unvereinbaren Werten und Zielen geleitet werden. Die Herausforderungen waren und sind also groß, denn die Arbeitgeber stehen neuen Normen im Weg. Sie haben viele Jahre lang daran gearbeitet, die normative Rolle und die Aufsichtsbefugnis der ILO zu untergraben, wenn nicht gar auszulöschen (sic!), und versucht, ihre Rolle auf die einer einfachen Nichtregierungsorganisation (NRO, englisch und üblich NGO) zu reduzieren. Alles fing damit an, dass die Arbeitgeber begannen, die Anerkennung des in Übereinkommen 87 verankerten Streikrechts und das ordnungsgemäße Funktionieren des 90 Jahre alten Normenkontrollmechanismus insgesamt zu behindern. Später wehrten sie sich gegen eine Debatte über ein mögliches Übereinkommen zu informeller Arbeit oder globalen Lieferketten. Somit könnte die ILC-Entschließung über menschenwürdige Arbeit in den globalen Lieferketten, obschon sie weit hinter von den Erwartungen der Arbeiter*innen zurückbleibt, zumindest die Debatte bis zu einem gewissen Grad offenhalten und den Weg für Verhandlungen zwischen den Sozialpartnern ebnen, bis das politische Klima sich verbessert hat.

Im Juni 2019 verabschiedete die Internationale Arbeitskonferenz die ILO-Jahrhunderterklärung zur Zukunft der Arbeit (die Jahrhunderterklärung), in der die Mitgliedsstaaten und Sozialpartner aufgerufen werden, sicherzustellen, „dass vielfältige Formen von Arbeitsvereinbarungen, Produktions- und Geschäftsmodellen, auch in inländischen und globalen Lieferketten, die Chancen für sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt vergrößern, für menschenwürdige Arbeit sorgen und einer vollen, produktiven und frei gewählten Beschäftigung zuträglich sind” [viii].

Hierauf mussten weitere Anstrengungen folgen. Daher berief der ILO-Verwaltungsrat im Nachgang eine fachliche dreigliedrige Tagung ein, um bestehende Versäumnisse, die zu Defiziten bei den Normen für menschenwürdige Arbeit führen, anzugehen, die wichtigsten Herausforderungen der Governance für die Verwirklichung menschenwürdiger Arbeit zu identifizieren und mögliche Leitlinien, Programme, Maßnahmen, Initiativen oder Normen zu prüfen, die dazu erforderlich sind. Das Treffen, das im Februar 2020 in Genf stattfand, brachte keinen Fortschritt hinsichtlich der Vorgehensweise der Arbeitgebergruppe. Im Gegenteil: ihre Sprache und ihr Verhalten gegenüber der Arbeitswelt waren wieder einmal aggressiv. Die Unterschiede zwischen Ansätzen, Politik, Inhalt und Sprache der verschiedenen Teilnehmer*innen waren groß und beeinträchtigte letztlich den Text, der in den Abschlusserklärungen angenommen wurde. Um nur Beispiel von vielen zu nennen, das auf der Tagung ausführlich diskutiert wurde und jeglichen Fortschritt in Bezug auf die Abschlusserklärung behinderte: Als die drei Gruppen die bestehenden Lücken im Korpus der internationalen Arbeitsnormen in Bezug auf die globalen Lieferketten prüften, lehnte die Gruppe der Arbeitgeber mit Unterstützung einiger Regierungen einseitig die auf „Normen“ verweisende Sprache der ILO ab und drängte darauf, diese stattdessen als „normative und nicht normative Maßnahmen” zu bezeichnen. Dieser Unterschied in der Terminologie ist mehr als nur eine Nuance: er offenbart das Bestreben der Arbeitgeberseite, die Instrumente, die das historisch und verfassungsrechtlich verankerte internationale Arbeitsrecht bietet, zu schwächen, um sie durch vage und unbestimmte „Maßnahmen“ ohne klare Zuweisung von Verantwortlichkeiten in Bezug auf die Einhaltung und Umsetzung zu ersetzen.

Bei diesem entscheidenden Thema wird ganz offensichtlich eines der traurig banalen Rituale der internationalen Gemeinschaft ausgespielt. Offensichtlich stimmen alle darin überein, dass weitere Anstrengungen sowie eine Strategie erforderlich sind, um die Herausforderungen, die menschenwürdigen Arbeitsbedingungen in Lieferketten im Weg stehen, anzugehen. Doch es kam, wie es meistens kommt, wenn allgemeine Aussagen von Politikern in konkrete Maßnahmen umgesetzt werden müssen: Es herrschte Uneinigkeit zu zentralen Aspekten und nicht nur zu Details. So konnte beispielsweise keine Einigung über die Frage erzielt werden, ob die Bemühungen auch inländische Lieferketten umfassen und ob die spezifische Rolle von Regierungen, Arbeitgeberverbänden und Arbeiter*innenorganisationen bei der Beseitigung von Defiziten bei der Gewährleistung menschenwürdiger Arbeitsbedingungen berücksichtigt werden sollte. Mit anderen Worten: Die Arbeitgeber weigerten sich, auch nur im Prinzip irgendeine Form von Verantwortung zu übernehmen. Die Widersprüche, die dem Thema inhärent sind, wurden nicht angesprochen, zum Beispiel die Tatsache, dass Unternehmen, ob MNU oder einheimische Unternehmen, die Möglichkeit der Vergabe von Unteraufträgen bewusst ausnutzen, um sich jeder Verantwortung zu entziehen. Stattdessen zogen es die Regierungen und Sozialpartner vor, die Diskussion zu verschieben und auf einen möglichen Konsens in ferner Zukunft zu verweisen.

Der bisher letzte Schritt bestand darin, dass der ILO-Verwaltungsrat eine Art Zwei-Prozesse-Beschluss verabschiedete, um einvernehmlich einen Ausweg aus dieser festgefahrenen Situation zu finden. Auf der einen Seite wurde das ILO-Büro gebeten, bis November 2021 eine eingehende Überprüfung durchzuführen, „um eindeutig festzustellen, ob es Lücken im aktuellen Regelwerk der normativen und nicht-normativen Maßnahmen gibt, einschließlich der Mittel zur Umsetzung und anderer Maßnahmen, um eine Diskussion über Optionen zur Gewährleistung menschenwürdiger Arbeit in globalen Lieferketten, gegebenenfalls auch auf sektoraler Ebene”[ix]. Die Bewertung, die den Konstituenten vorgelegt und weitergegeben werden sollte, war als Grundlage für eine weitergehende Bewertung durch eine weitere dreigliedrige Arbeitsgruppe gedacht. Das ist ein eher umständliches Verfahren ohne konkrete Verpflichtungen, aber immerhin könnte es dazu beitragen, den Dialog am Leben zu erhalten. Andererseits sollte diese Arbeitsgruppe gleichzeitig die „Bausteine“ für eine umfassende Strategie zur Erreichung menschenwürdiger Arbeitsbedingungen in Lieferketten entwickeln, unter Berücksichtigung der ILO-Jahrhunderterklärung für die Zukunft der Arbeit 2019, des „One-ILO“-Rahmens[x] und möglicher relevanter Ergebnisse der 109. Internationalen Arbeitskonferenz (2021). Diese Bausteine sollten während der Sitzung des Lenkungsorgans im März 2022 diskutiert werden, mit dem Ziel, über geeignete Folgemaßnahmen zu entscheiden. Bis zu diesem Termin im März 2022 sollte der Fokus darauf liegen, einige Faktoren zu betrachten, die einen wichtigen Einfluss auf die Diskussion von Lieferketten haben.

COVID-19 hatte von Beginn der Pandemie an gravierende Auswirkungen auf die Arbeitsplätze in den Lieferketten. Zu den Risiken für Arbeiter*innen, die von COVID‑19 ausgingen, gehörten der Verlust von Beschäftigung und Einkommen sowie Gesundheitsrisiken infolge der Arbeitsbedingungen. Diese Risiken waren in bestimmten Lieferketten für essentielle Güter und Dienstleistungen sowie für bestimmte Arbeiter*innen, wie Wanderarbeiter*innen, Arbeiter*innen in der informellen Wirtschaft und Arbeiter*innen ohne sozialen Schutz, erhöht[xi]. Im Dezember 2020 waren mehr als 190 Millionen Arbeitsplätze – das entspricht fast ein Drittel aller Arbeitsplätze in den Lieferketten des verarbeitenden Gewerbes und etwa 8 Prozent aller Arbeitsplätze weltweit – stark oder mittelmäßig von dem Rückgang der Verbrauchernachfrage betroffen. Der globale Beschäftigungsverlust erreichte einen noch nie dagewesenen Höchststand. Ab Oktober 2020 stieg die Zahl der stark betroffenen Arbeitsplätze sogar noch weiter an, da viele Länder von einer zweiten Welle betroffen waren[xii]. Trotz der Hoffnung, die groß angelegte Impfkampagnen mit sich brachten, bleibt die Weltwirtschaft aufgrund der Wirtschaftsprognosen des Internationalen Währungsfonds (IWF) vom Oktober 2020 mit einem hohen Maß an Unsicherheit behaftet. Darüber hinaus könnte die Erholung ungleichmäßig verlaufen und bestehende Ungleichheiten aufrechterhalten, reproduzieren oder verschlimmern, insbesondere in den stark betroffenen Sektoren [xiii]. COVID-19 hat sich stark auf den internationalen Handel ausgewirkt und einen weit verbreiteten starken Rückgang verursacht, der in Ländern des globalen Südens weniger ausgeprägt war[xiv].


Einsturz des Savar-Gebäudes in Dhaka am 24. April 2013. Foto: Jaber Al Nahian, CC BY-SA 2.0

Die meisten Kundenunternehmen sitzen nach wie vor in den USA, der EU und anderen OECD-Mitgliedstaaten, in denen die Regierungen verpflichtet sind, die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen zu fördern und durchzusetzen. Sie schreiben vor, dass die Menschenrechte und grundlegenden Arbeitsnormen in allen Ländern, in denen diese Unternehmen tätig sind, eingehalten werden müssen[xv]. Die OECD-Leitsätze, die auf den ILO-Normen basieren, sind Instrumente, die gerade in Hinblick auf Entwicklung durch den Abbau von Ungleichheiten und das Streben nach sozialer Gerechtigkeit gestärkt und eingesetzt werden sollten. Tatsächlich kommt es gerade in Filialen und Niederlassungen, vor allem aber bei der Vergabe von Unteraufträgen, besonders häufig zu schweren Verletzungen von Arbeiter*innenrechten (z. B. die Katastrophe von Rana Plaza[xvi]; aber es gibt noch viele andere, weniger bekannte, aber ebenso gravierende Fälle). Es kommt nicht von ungefähr, dass der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen zum Recht auf Versammlungs- und Organisationsfreiheit in seiner Stellungnahme zu COVID-19 angemahnt hat, dass „Berichte über Fälle, in denen Arbeiter*innenvertreter*innen Vergeltungsmaßnahmen ausgesetzt waren, weil sie sich zu gefährlichen Situationen am Arbeitsplatz geäußert haben, besonders beunruhigend sind”[xvii].

Um das Bewusstsein für die Rechte von Arbeiter*innen und deren Schutz zu schärfen, ist es von äußerster Wichtigkeit, Gewerkschaften zu unterstützen und zu stärken. Letztere spielen auch eine grundlegende Rolle bei der Überwindung von Hindernissen, die Arbeit*innen, insbesondere Frauen, den Zugang zu wirksamen Rechtsmitteln zur Behebung von Missständen erschweren. Um diese Aufgabe zu erfüllen, arbeitet die ILO mit der OECD zusammen, eine Zusammenarbeit, die bereits zu konkreten Ergebnissen geführt hat, u. a. durch den Beitrag der Internationalen Gewerkschaft der Lebensmittel- und Handelsarbeiter (United Food and Commercial Workers International Union, UFCW) (siehe Arbeit an Rana Plaza). Sie ist bedeutsam und sollte verstärkt werden. Globale Vereinbarungen zwischen globalen sektoralen Gewerkschaftsverbänden und MNU sollten ebenfalls unterstützt werden.

Die Abbildung der Aktivitäten von MNUs wird immer komplexer und wichtiger. MNUs müssen, genau wie andere Unternehmen, nationale, regionale und internationale Gesetze einhalten. Die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte fordern Unternehmen auf, ihrer menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht nachzukommen, und verpflichten Staaten, Sozialpartner und andere Akteure, Anstrengungen zu unternehmen, um diese Sorgfaltspflicht zu fördern. Die Leitprinzipien sind freiwillig und die Praktiken zu ihrer Umsetzung sind sehr unterschiedlich. Ihr freiwilliger Charakter führt auch zu einem deutlichen Mangel an Rechenschaftspflicht. Die menschenrechtliche Sorgfaltspflicht ist immer dann besonders relevant, wenn sie die Lieferketten oder Zuliefererketten transparenter macht. Bestehende internationale Instrumente zur Sorgfaltspflicht, einschließlich jener zur sozialen Verantwortung von Unternehmen haben dabei versagt, den Opfern von Menschenrechts- und Umweltverletzungen Zugang zu Gerichten und Rechtsmitteln zu verschaffen, weil sie nicht gerichtsfest und freiwillig sind. Die Unternehmen sollten verpflichtet werden, die Namen aller an der Lieferkette beteiligten Unternehmen sowie Zahlen zu den beschäftigten Arbeiter*innen, den Arbeitsbedingungen etc. offenzulegen.

Um die wirksame Umsetzung der OECD-Leitsätze und ILO-Normen zu gewährleisten, sind gemeinsame Regelungen und Formen der Zusammenarbeit erforderlich, wie die Erklärung der ILO über grundlegende Prinzipien und Rechte bei der Arbeit (1998), die Erklärung der ILO über soziale Gerechtigkeit für eine faire Globalisierung (2008) und die Dreigliedrige Grundsatzerklärung über multinationale Unternehmen und Sozialpolitik der ILO (MNU-Erklärung). Das Handelsmodell, das die Löhne und Arbeitsbedingungen in einigen Ländern extrem nach unten drückt, muss einer umfassenden und gründlichen Prüfung unterzogen werden. Die MNU-Erklärung der ILO ist zwar nicht bindend, stellt aber dennoch ein wichtiges Instrument dar, und zwar aufgrund ihres dreigliedrigen Charakters, des internationalen geografischen Geltungsbereich und der Tatsache, dass sie relevante Themen anspricht, von der Gewerkschaftsfreiheit und der Verpflichtung zu Tarifverhandlungen (Kollektivverhandlungen und organisierte Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen sind in globalen Lieferketten so gut wie nicht vorhanden) bis hin zu anderen Bereichen, die sich direkt auf das Leben von Arbeiter*innen und Gemeinschaften auswirken, wie z.B. die Förderung lokaler Beschäftigung, Chancengleichheit und Gleichbehandlung, Nichtdiskriminierung, Ausbildung, Arbeitsbedingungen, Einhaltung von Altersanforderungen, Konfliktlösungsmechanismen, das Recht auf Information und Konsultation etc. Dieser Text verknüpft gesetzgeberische Maßnahmen mit Arbeitsbeziehungen und berücksichtigt die sozialen und ökologischen Auswirkungen wirtschaftlicher Aktivitäten.

Der Kontext der Pandemie könnte bei den anstehenden Debatten auch Ergebnisse hinsichtlich Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz in den Lieferketten ermöglichen. Anlässlich der Jahrhunderterklärung forderten Arbeiter*innen die Aufnahme von Normen zu Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz in die Liste der vier grundlegenden Prinzipien und Rechte bei der Arbeit, die ohne Ratifizierung umgesetzt werden können. Die Gruppe der Arbeitgeber spricht sich gegen diesen Antrag aus. Dies wird eine große Herausforderung für weitere Gespräche sein, insbesondere vor dem Hintergrund der weltweit schwierigen Situation, die eine starke Reaktion zum besseren Schutz der Gesundheit und des Lebens der Arbeitnehmer verlangt.

Technologie, einschließlich künstlicher Intelligenz, Robotik und Sensoren, steht im Mittelpunkt vieler Debatten über die Zukunft der Arbeit, innerhalb und außerhalb der ILO. Die einschlägigen Forschungsverfahren haben es den Beteiligten noch nicht ermöglicht, diese Themen vollständig zu erfassen. Der Fokus sollte sicherlich auf das Potential für technologische Innovationen gelegt werden, die die Arbeitsbedingungen der Arbeiter*innen verbessern könnten — nicht nur auf der Grundlage des Einsatzes von IT als solcher, sondern auch auf Basisihrer adäquaten Konzeption, Nutzung und Ziele. Was die globalen Lieferketten betrifft, so könnte der grundsätzliche Einsatz von Data Mining ein nützliches Instrument für Arbeitsverwaltungen sein, um Hochrisikosektoren zu identifizieren und ihre Arbeitsaufsichtssysteme zu verbessern. Digitale Technologien wie Apps und Sensoren könnten es Unternehmen und Sozialpartnern erleichtern, die Arbeitsbedingungen und die Einhaltung von Arbeitsgesetzen in Lieferketten zu überwachen[xviii]. Dank dieses vielschichtigen Ansatzes bietet sich der globalen Gewerkschaftsbewegung die einmalige Gelegenheit, die Führung in der Debatte zu übernehmen und eine positive Beziehung zur Agenda für menschenwürdige Arbeit und einem globalen Green New Deal herzustellen, da die unternehmensbasierten Modelle nicht nur für die Arbeiter*innen, sondern auch für den Planeten nicht mehr tragbar sind.

Globale Lieferketten sind kein Phänomen, das mit Entwicklungsproblemen, Nord-Süd-Beziehungen oder den Beziehungen zwischen Industrie- und Schwellenländern verbunden ist. Sie erfordern allgemein anerkannte politische Antworten, die auf verschiedenen Ebenen kohärent artikuliert werden, um das Primat der Politik gegenüber MNUs sowie gegenüber Wirtschafts- und Kapitalmächten zu bekräftigen. Aufgrund ihres globalen Charakters erfordern diese Phänomene eine globale Zusammenarbeit die Gruppen von Ländern vertreten, und zwischen Organisationen mit einem internationalen Mandat.

Die ILO und die gesamte internationale Gemeinschaft haben die Möglichkeit, ihre Stimme laut und deutlich zu erheben und gemäß dieser Forderung zu handeln, wobei die am stärksten gefährdeten Menschen in unserer Gesellschaft, die ausgeschlossen, zum Schweigen gebracht und ausgebeutet werden, Vorrang haben. Es handelt sich um eine unausweichliche und global zusammenhängende Angelegenheit, bei der soziale Gerechtigkeit, Frieden und Demokratie auf dem Spiel stehen.

 Silvana Cappuccio, Referentin in der Abteilung Internationale Politik des italienischen Gewerkschaftsbunds (CGIL), Italien 

[i] Im Jahr 2008 verabschiedete die ILO ihre „Erklärung über soziale Gerechtigkeit für eine faire Globalisierung“, in der sie ihre Schlüsselrolle bei der Förderung von Fortschritt und sozialer Gerechtigkeit im Kontext der Globalisierung durch die Agenda für menschenwürdige Arbeit hervorhob. Die Agenda für menschenwürdige Arbeit ist so definiert, dass sie auf einem integrierten und geschlechtsspezifischen Ansatz basiert, der aus vier Säulen besteht: produktive und frei gewählte Arbeit, Arbeitsrechte, sozialer Schutz und sozialer Dialog.

[ii] Die ILO arbeitet über die Internationale Arbeitskonferenz und den Verwaltungsrat. Diese bringen Vertreter*innen der Regierungen, der Arbeitgeber und der Arbeiter*innen zusammen. Internationale Arbeitsnormen und allgemeine politische Maßnahmen werden im Rahmen eines dreigliedrigen Konsensverfahrens angenommen.

[iii] Gemäß dem Richtlinienvorschlag der Europäischen Union bezieht sich der Begriff „Lieferant“ auf jedes Unternehmen, das einem anderen Unternehmen im Rahmen einer Geschäftsbeziehung entweder direkt oder indirekt ein Produkt, einen Teil eines Produkts oder eine Dienstleistung zur Verfügung stellt. Der Begriff „Wertschöpfungskette“ bezieht sich auf alle Tätigkeiten, Betriebsabläufe, Geschäftsbeziehrungen und Investitionsketten eines Unternehmens und schließt Einrichtungen ein, mit denen das Unternehmen direkt oder indirekt in einer vor- oder nachgelagerten Geschäftsbeziehung steht und die entweder Produkte, Teile von Produkten oder Dienstleistungen liefern, die zu den eigenen Produkten oder Dienstleistungen des Unternehmens beitragen, oder die Produkte oder Dienstleistungen von dem Unternehmen erhalten. Siehe https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2021-0073_EN.html

[iv] UNCTAD, Global Value Chains and Development, 2013 https://worldinvestmentreport.unctad.org/wir2013/chapter-4-global-value-chains-and-development/

[v] ILO Research Paper No.16, Linking jobs in global supply chains to demand, August 2016 https://www.ilo.org/global/research/publications/papers/WCMS_512514/lang–en/index.htm

[vi] Drei Teilnehmergruppen der ILO https://www.ilo.org/global/about-the-ilo/who-we-are/tripartite-constituents/lang–en/index.htm            

[vii] 105. Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz, Beschluss über menschenwürdige Arbeit in globalen Lieferketten, 2016 https://www.ilo.org/iak/ILCSessions/previous-sessions/105/texts-adopted/WCMS_497555/lang–en/index.htm

[viii] ILO-Jahrhunderterklärung, Juni 2019 https://www.ilo.org/global/about-the-ilo/mission-and-objectives/centenary-declaration/lang–tr/index.htm

[ix] ILO GB 341 Beschlussprotokoll, März 2021 GB.341/INS/13/2/Decision: Decision concerning the update on the report of the Technical Meeting on Achieving Decent Work in Global Supply Chains (Geneva, 25–28 February 2020) (ilo.org)

[x] ILO GB 337 Halbzeitbericht über die Umsetzung des ILO-Aktionsprogramms für menschenwürdige Arbeit in globalen Lieferketten, Oktober 2019 https://www.ilo.org/gb/GBSessions/GB337/ins/WCMS_722485/lang–en/index.htm

[xi] ILO Forschungsbericht, Die Auswirkungen von COVID-19 auf Handel und globale Lieferketten, Juni 2020 Research Brief: The effects of COVID‑19 on trade and global supply chains (ilo.org)

[xii] Bericht des Generaldirektors über den Bericht des Fachgesprächs zur Erreichung menschenwürdiger Arbeit in globalen Lieferketten (Genf, 25. bis 28. Februar, 2020) https://www.ilo.org/gb/GBSessions/GB341/ins/WCMS_771738/lang–en/index.htm

[xiii] ILO Monitor: COVID-19 und die Arbeitswelt. Siebte Ausgabe https://www.ilo.org/global/topics/coronavirus/impacts-and-responses/WCMS_767028/lang–en/index.htm

[xiv] UNCTAD, Key Statistics and Trends in International Trade 2020 https://unctad.org/webflyer/key-statistics-and-trends-trade-policy-2020

[xv] https://www.oecd.org/corporate/mne/

[xvi] https://cleanclothes.org/news/2021/commemorating-the-rana-plaza-anniversary-by-preventing-the-next-disaster

[xvii] https://www.ohchr.org/en/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=25788&LangID=E

[xviii] ILO Globale Kommission zur Zukunft der Arbeit, Arbeit für eine bessere Zukunft, 2019 https://www.ilo.org/global/publications/books/WCMS_662410/lang–en/index.htm