Oktober 28, 2020

Spiegelbild der globalen Ungleichheit

Eva Wuchold

Warum es wichtig ist, die WHO zu stärken und zugleich konstruktiv zu kritisieren


Eva Wuchold leitet das Programm Globale Soziale Rechte der Rosa-Luxemburg-Stiftung im RLS-Büro in Genf. Dieser Artikel erschien ursprünglich in maldekstra #8.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO wurde am 7. April 1948 in Genf gegründet, Laut Verfassung der WHO ist ihr Ziel die Verwirklichung des bestmöglichen Gesundheitsniveaus bei allen Menschen. Einer der Schwerpunkte des Programms Soziale Rechte der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Genf ist das Thema Globale Gesundheit.


Mitten in der größten globalen Gesundheitskrise seit Jahrzehnten stoppten die Vereinigten Staaten Mitte April 2020 zunächst alle US-Zahlungen an die in Genf ansässige Weltgesundheitsorganisation (WHO), um Ende Mai 2020 den Austritt aus der Organisation zu verkünden. Auf einer Pressekonferenz im Rosengarten des Weißen Hauses am 29. Mai 2020 begründete US-Präsident Donald Trump dies mit der totalen Kontrolle, die China über die WHO habe, und der Weigerung der WHO, dringend benötigte Reformen durchzuführen.

Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, kritisierte die Entscheidung der USA, die 2019 mehr als 400 Millionen US-Dollar oder etwa 15 Prozent des Gesamthaushalts zum Budget der WHO beisteuerten und damit deren größter Geldgeber waren, bereits im April scharf. Jetzt, mitten in der Krise, sei „nicht die Zeit“, die Ressourcen für das Gremium zu reduzieren. Guterres sagte weiter, die WHO sei „absolut kritisch“ für die Ausrottung von Covid-19.

Dennoch steht Trump mit seiner Kritik an der WHO und dem chinesischen Einfluss auf sie nicht allein da.

Recherchen des kanadischn Citizen Lab zeigten, dass die chinesische Regierung versuchte, die Berichterstattung über das Coronavirus zu verhindern. Auch gegenüber der WHO handelte die chinesische Staatsführung, anders als von der WHO selbst zunächst behauptet, nicht transparent. Der Zeitpunkt der Kritik und der Austritt der USA aus der WHO jedoch zeugen erstens von einer Fehleinschätzung der derzeitigen Krise, zweitens aber auch von Unkenntnis über den Handlungsauftrag und die Arbeitsweise der Organisation. Die WHO ist eine zwischenstaatliche Organisation, die nur so weit handeln kann, wie es ihre Mitgliedsstaaten und weiteren Finanzgeber zulassen. Die in ihr stattfindenden politischen Auseinandersetzungen, so Anna Holzscheiter, Leiterin der Forschungsgruppe „Governance for Global Health“ des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, führen dazu, „dass die WHO mit ihren 194 Mitgliedsstaaten nicht genauso zielgerichtet, schnell und an den Verfahrensregeln vorbei reagieren kann, wie wir das in beispiellosem Ausmaß gerade in Ländern selbst mit demokratischer Verfassung beobachten können“.

So wichtig eine Kritik an den in vielen Fällen dysfunktionalen Strukturen der UN und ihrer Unterorganisationen generell ist, es ist gerade in der großen Krise wichtig, sich hinter die Organisationen zu stellen, die diese Krise zu bewältigen versuchen, so geschehen in einem Aufruf der Zivilgesellschaft vom 15. April 2020. Darin heißt es, es sei höchste Zeit, „dass alle Mitgliedsstaaten der WHO den enormen Wert der Organisation bei der umfassenden Bewältigung der gesundheitlichen Herausforderungen, die aufgrund des Klimawandels und anderer Bedrohungen vor uns liegen, anerkennen und unterstützen, anstatt ihre eigenen Fehler als Vorwand zu benutzen, um die führende Rolle der Organisation beim Schutz der globalen Gesundheit weiter zu schwächen“.

Bei der globalen Bewältigung der Gesundheitskrise kommt der UN und der WHO eine zentrale Rolle zu. Die WHO, gegründet 1948, kann auf jahrzehntelange Erfahrung mit der Bewältigung von Pandemien zurückgreifen. Sie kann mit ihren 194 Mitgliedsstaaten im Kampf gegen Pandemien internationale und nationale Aktivitäten wie Soforthilfen koordinieren, die Zusammenarbeit bezüglich der Entwicklung von Tests, Medikamenten und Impfstoffen steuern oder länderübergreifend konkrete Handlungsempfehlungen wie Quarantänemaßnahmen oder Reisebeschränkungen aussprechen. Außerdem hat die WHO mit dem UN-Generalsekretär einen Fürsprecher, der ihren Anliegen weltweit Gehör verschaffen und darüber hinaus Empfehlungen zur Bewältigung der Gesundheitskrise ausspre-chen kann, siehe Guterres’ Appelle für einen weltweiten Waffenstillstand am 23. März 2020.

Davon ausgehend sollten Reformen der WHO gedacht und angegangen werden. Bereits 2015 beklagte der damalige Geschäftsführer von medico international, Thomas Gebauer, dass Managementprobleme innerhalb der WHO bestünden und dass ihre Struktur verbessert werden müsse. Ein Grund dafür sei die Kürzung der WHO-Mittel für die Seuchenbekämpfung, da Gesundheit nicht mehr nur als Menschenrecht angesehen, sondern Wirtschaftsinteressen untergeordnet werde. Der WHO-Programmhaushalt 2020/21 beträgt lediglich 4,8 Milliarden US-Dollar. Die für die Arbeit der WHO besonders wichtigen Pflichtbeiträge der Mitgliedsstaaten machen dabei nur noch ein Fünftel aus. Bereits seit 1993 sind die Pflichtbeiträge eingefroren, und die WHO erhält zunehmend zweckgebundene freiwillige Zahlungen. Seit der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan die UN 1997 für private Finanzquellen öffnete, steigt der Anteil politisch heikler Beiträge privater Stiftungen und Unternehmen. In den Jahren 2012/13 war die „Bill & Melinda Gates Foundation“ der größte Geldgeber der WHO, noch vor den USA, mit den entsprechenden Folgen für die Pro-grammatik der WHO: weg von der Stärkung öffentlicher Gesundheitssysteme, hin zu einzelnen wenigen Krankheiten wie Tuberkulose oder Malaria, bei deren Bekämpfung sich mit Impfungen oder Moskitonetzen schnell und kostengünstig Erfolge vorweisen lassen.

Die gegenwärtige Krise aber wird nur durch eine massive Stärkung des öffentlichen Gesundheitssektors weltweit, vor allem aber im globalen Süden, wo der Verlauf dieser Pandemie noch gar nicht absehbar ist, eingedämmt werden können. Da die Länder des globalen Südens nicht annähernd über die finanziellen Mittel dafür verfügen, wird die internationale Gemeinschaft auch hier gefragt sein. Der Aufruf von Weltbank und Internationalem Währungsfonds im März 2020, von den ärmsten Ländern vorerst keine Schuldenrückzahlung zu verlangen, und die Verständigung der G20-Mitglieder Mitte April darauf, alle Zins- und Tilgungszahlungen der 77 ärmsten Länder von Mai bis Dezember 2020 zu stunden, ist nur ein Anfang. Um anderen Epidemien vorzubeugen und Gesundheitskrisen wie die derzeitige auch zukünftig bewältigen zu können, wird es mittel- und langfristig darum gehen, die Unabhängigkeit der WHO wiederherzustellen, wofür die massive Aufstockung der niedrigen Pflichtbeiträge zentral ist.

Dazu bedarf es jedoch eines Umdenkens der Mehrheit der Mitgliedsstaaten. Stagnation und Kürzung der Pflichtbeiträge an die WHO trugen auch weitergehend zu deren Schwächung bei, da mehr und mehr gesundheitsbezogene Maßnahmen zu anderen Institutionen wanderten, zunächst zu anderen UN-Organisationen, später aber auch zu öffentlich-privaten Partnerschaften wie dem Global Fund oder der Globalen Allianz für Impfstoffe Gavi und zuletzt zu Multi-Stakeholder-Initiativen. Solche Arrangements, unterstützt vom Weltwirtschaftsforum und sogar von der UN, sorgten laut der kanadischen Wissenschaftlerin Anne-Emanuelle Birn dafür, „dass die WHO nur ein Partner unter vielen ist und nicht mehr – wie es ihrem Mandat entspricht – die koordinierende Autorität zur Förderung globaler Gesundheit und zum Schutz von Gesundheit als einem ‚fundamentalen Recht‘“.

Damit die WHO ihrem Gründungsauftrag, für alle Völker das höchstmögliche Gesundheitsniveau zu erreichen, wieder gerecht wird, muss sie sich auf die in ihrer Verfassung beschriebenen Organisationsziele zurückbesinnen: auf Basis von fundierten und unabhängigen wissenschaftlichen Erkenntnissen zu einer Verbesserung der Lebensverhältnisse insgesamt beizutragen. Außerdem müssen Wirksamkeit und Erfolg von Maßnahmen wieder daran gemessen werden, ob sie zu mehr gesundheitlicher Gerechtigkeit beitragen, und nicht daran, ob sie marktkonform sind.

Nur so kann die WHO zukünftig ihrer Rolle als zentraler, einzig demokratisch legitimierter Instanz in globalen Gesundheitsfragen gerecht werden und eine Führungsrolle im globalen Gesundheitsbereich einnehmen. Wie die WHO bereits in ihrem Weltgesundheitsbericht 2008 festhielt und wie es medico international 2018 zum 40. Jahrestag der Deklaration von Alma-Ata (Kasachstan), des Abschlussdokuments der WHO-Konferenz 1978, erneut forderte, sind die Prinzipien der sogenannten „Primary Health Care“ (Basisgesundheitspflege) dafür zentral. Um diese umzusetzen, muss Gesundheit als „grundlegendes Menschenrecht“ anerkannt und das System als solches demokratisiert werden: auf der Ebene der Beschäftigten, etwa durch eine Unterstützung von Bewegungen für mehr Personal in Krankenhäusern, und auf systemischer Ebene, beispielsweise durch die Demokratisierung der formal noch bestehenden Selbstverwaltung im Gesundheitswesen, durch die Beteiligung von Patient*innen beziehungsweise Versicherten an den Entscheidungen im Gesundheitswesen oder durch eine Krankenversicherung, die auf dem Solidar- und Sachleistungsprinzip beruht.

Der Druck zu Veränderungen muss dabei von unten kommen, von gut vernetzten und beharrlichen zivilgesellschaftlichen Kräften. Schon jetzt – noch mitten in der Pandemie – wird diskutiert, welche Lehren aus der Pandemie zu ziehen sind, sei es in Bezug auf systemrelevante Institutionen, Unternehmen oder Berufe, sei es aber auch in Bezug auf Produktions- und Arbeitsweisen, beispielsweise in der Fleischindustrie. Gleichzeitig muss die Corona-Pandemie in einen größeren Zusammenhang eingebettet werden. Sie ist – wie alle Pandemien – auch Spiegelbild der globalen Ungleichheit. Dies zeigt zum einen ihre Ausbreitung in Ländern wie Brasilien, Mexiko oder Indien, wo ihr Millionen von Menschen schutzlos ausgesetzt waren, zum anderen aber auch das Auftreten von sogenannten Hotspots in Deutschland, an Orten mit besonders beengten Wohnverhältnissen oder prekärer Beschäftigung. Außerdem muss eine Debatte über die Wirksamkeit des Multilateralismus, seiner Organisationen und Instrumente geführt werden, sowohl was die derzeitige Gesundheitskrise als auch was die Klimakrise oder das Thema Krieg und Frieden angeht.