Januar 18, 2021

Statistik: Politik mit und ohne Zahlen

Samira Trad

Der Staat weiß vielleicht, dass es bei ihm staatenlose Menschen gibt, aber er weiß nicht, wie viele es sind, wo sie sind oder was sie brauchen. Sie sind unsichtbar, werden daher übersehen oder absichtlich ignoriert. Ein Paradebeispiel bietet der Libanon.


Dafür, den Umfang der Staatenlosigkeit in einem Land festzustellen, tragen mehrere Stellen Verantwortung. Die vorrangige Pflicht des Staates ist es, Staatenlose zu identifizieren, damit er seinen internationalen Verpflichtungen nachkommen kann. Das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) hat zusammen mit anderen UN-Organisationen, Nichtregierungsorganisationen und wissenschaftlichen Einrichtungen die Aufgabe, Staatenlosigkeit zu erforschen und Belege für das Ausmaß des Problems zu liefern. Umfassende Daten zur Staatenlosigkeit – ihre Merkmale, die Anzahl der betroffenen Menschen und deren Bedürfnisse – sind entscheidend, damit die Staaten das Problem beheben können. Forschung zu diesem Thema ist auch für die Zivilgesellschaft und natürlich die Staatenlosen selbst von Bedeutung, um für ihre Interessen eintreten zu können.

Genaue und vollständige Daten sind schwer zu bekommen. Dies gilt insbesondere für den Libanon. Laut UNHCR ist es aus zwei Gründen schwierig, die Zahl der Staatenlosen im Land zu ermitteln. Zum einen fand die letzte Volkszählung 1932 statt. Zum anderen liegen offizielle Urkunden über Zivilstand und Geburten sowie die Archive von Krankenhäusern, Hebammen und Gerichten nicht in digitaler Form vor.

Das Problem wurzelt in der Vergangenheit des Libanon, in der Zeit der Staatsgründung nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches in den 1920er-Jahren. Damalige Entscheidungen der Menschen für die libanesische oder eine andere Nationalität sind oft die Wurzeln der heutigen Staatenlosigkeit. Offizielle Aufzeichnungen sind jedoch praktisch nicht zugänglich, ebenso wenig wie die Volkszählungsdaten von 1932.

Ohne diese Informationen aber ist die Datenerhebung und Analyse der Staatenlosigkeit im Land kompliziert, und der libanesische Staat liefert auch keine Zahlen für die jährliche globale Datenerhebung des UNHCR zur Staatenlosigkeit. Die verfügbaren Informationen sind begrenzt, verstreut, unvollständig und basieren auch auf verschiedenen Methoden bei der Erhebung. Es fehlen Verfahren zur Identifizierung, Registrierung und Dokumentierung von Staatenlosen – mit Ausnahme der als „qayd ad-dars“ („in Untersuchung“) bezeichneten Personen, für die es ein spezielles Register als Ausländerinnen unbekannter Nationalität gibt. Viele Menschen im Libanon sind nicht bereit, sich als Staatenlose registrieren zu lassen. Oder sie sind sich nicht darüber im Klaren, wie notwendig dies ist, um wenigstens bestimmte Rechte einfordern zu können. Sie sehen sich auch nicht unbedingt als staatenlos, da sie aus dem Libanon stammen oder libanesische Vorfahren haben. Sie halten sich irrtümlicherweise für Libanesinnen, die Anspruch auf denselben Schutz wie anerkannte Bürger*innen haben. Die wenigen von Nichtregierungsorganisationen oder der Wissenschaft erhobenen Daten, die sich darauf verlassen, dass Personen sich selbst als staatenlos identifizieren, dürften daher unvollständig sein. Hinzu kommt, dass die Verantwortlichen für bestimmte Gruppen wie zum Beispiel Betreuungspersonen für Heimkinder nicht immer die administrativen und juristischen Verfahren einhalten, die für die Registrierung von Staatenlosen erforderlich sind.


Noch immer meinen viele Regierungen, dass
ohne Berichte an den UNHCR auch das
Problem der Staatenlosigkeit verschwindet

Das libanesische Recht ist komplex und beinhaltet zudem keine Definition des Begriffs „Staatenlose“. Es fehlt daher ein Rechtsrahmen für den Umgang mit ihnen. Ob Menschen, die unter dem Mandat des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) stehen oder Migrant*innen und Asylsuchende als staatenlos zu betrachten sind, ist noch nicht entschieden.


Die Einbürgerung der Palästinenserinnen würde über zehn Prozent mehr wahlberechtige Sunnitinnen
bedeuten – im politischen Konfessionalismus unmöglich

Erschwerend kommt eine politische Strategie dazu, die wahren demografischen Zahlen zu verschweigen. Der Libanon besteht aus vielen religiösen Gemeinschaften. Sein politisches System beruht auf der Aufteilung der Macht unter ihnen auf der Grundlage eines heiklen und durchaus fiktiven religiösen Gleichgewichts. Die meisten Staatenlosen gehören dem Islam an, konkrete Zahlen und entsprechende Verpflichtungen könnten also die Machtfrage neu stellen und die Konflikte um das demografische Ungleichgewicht zwischen den beiden Hauptreligionen Islam und Christentum noch verschärfen.

1994 gewährte beispielsweise ein Einbürgerungsdekret Zehntausenden von Menschen, die nach ihrer Rechtsstellung quasi bereits Staatsbürgerinnen waren, die libanesische Staatsangehörigkeit. Doch Gruppen wie die (christliche) Maronitische Liga sahen hier einen gefährlichen Prozess des demografischen und sozialen Wandels und drängten darauf, das Dekret zu annullieren. Im bis 2003 andauernden Untersuchungszeitraum verwehrte der Staatsrat den neuen Bürgerinnen grundlegende Rechte. Eine weitere Befürchtung war, dass der Staat bei einer detaillierten Identifizierung und Anerkennung aller Staatenlosen gezwungen wäre, palästinensische Geflüchtete wie andere Staatenlose zu behandeln. Das würde einer Aufkündigung des Abkommens zwischen den arabischen Staaten gleichkommen, das palästinensische Geflüchtete grundsätzlich von einer Einbürgerung ausschließt, um ihre Forderung nach Rückkehr nicht zu schwächen.


Selbst wenn die amtliche Statistik konstruktiv sein
will, muss sie sich an einem Gefüge sozialer, politischer,
juristischer und technischer Faktoren abarbeiten

Der Mangel an Daten, die Schwierigkeit, auf vorhandene Daten zuzugreifen, Probleme bei der Registrierung von Staatenlosen sowie bei der Ausstellung von Papieren: Eine Fülle von Faktoren tragen dazu bei, dass Menschen staatenlos, unsichtbar und marginalisiert bleiben. Der libanesische Staat räumt der Identifizierung und Messung der Staatenlosigkeit keine hohe Priorität ein. Indem er die verbreitete Staatenlosigkeit einfach leugnet, kann er seine völkerrechtlichen Verpflichtungen zur Eindämmung dieses Phänomens und zum Schutz von Staatenlosen umgehen.

Dieser Beitrag steht unter folgender Urheberrechtslizenz: CC-BY 4.0

Der Artikel wurde im Atlas der Staatenlosen auf Französisch, Englisch und Deutsch veröffentlicht.