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Wer politisch handeln und an der Gesellschaft teilhaben will, muss ihr Mitglied sein. Doch Staatenlose sind davon ausgeschlossen – darum ist der Kampf gegen die Staatenlosigkeit einer für die Menschenrechte.
Im Jahr 1949 formulierte die jüdische Philosophin Hannah Arendt im New Yorker Exil das „Recht, Rechte zu haben“. Arendt meinte damit das Recht, zu einer politisch organisierten Gemeinschaft zu gehören und in einem Beziehungssystem nach seinen Handlungen und Meinungen beurteilt zu werden. Es war das Fazit aus ihrer eigenen Erfahrung der Staatenlosigkeit, die 1937 mit der Ausbürgerung durch das nationalsozialistische Regime begann und bis 1951 anhielt. Sie beschrieb nicht nur den Verlust der Menschenrechte von Millionen ermordeter Jüdinnen, sondern auch die leidvolle Erfahrung von Millionen von Menschen im Exil.
Die vielen staatenlosen Menschen infolge der Weltkriege führten die Idee der Menschenrechte ad absurdum. Die „Aporie der Menschenrechte“ bestand laut Arendt darin, dass allein Staatsbürgerinnen Menschenrechte einklagen können. Arendt nannte Staatenlose folglich „Weltlose“ und brachte damit zum Ausdruck, dass sie nicht nur ihr Zuhause verloren hatten, sondern auch nirgendwo wieder ein anderes finden konnten. Die Exklusion aus den sozialen Gefügen und gesellschaftlichen Funktionssystemen werfe den Menschen in den unmenschlichen Status des „Überflüssigseins“.
Die grauenhaften Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs führten dazu, dass die Vereinten Nationen gegründet und die Menschenrechte in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 neu definiert wurden. Auch die Erfahrung der Staatenlosen fand hier ihren Ausdruck. Artikel 13 hält das Recht fest, sich innerhalb eines Staates frei bewegen, jedes Land verlassen und in das eigene Land zurückkehren zu dürfen. Artikel 14 gewährt im Falle der Verfolgung das Recht auf Asyl. Artikel 15 beschreibt das Recht auf eine Staatsangehörigkeit. Allerdings garantieren die Artikel der Menschenrechtsdeklaration nach Ansicht der US-amerikanischen Politikwissenschaftlerin Seyla Benhabib kein Recht auf Einbürgerung oder auf Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft. Auch besteht das internationale Recht allein auf Abkommen souveräner Nationalstaaten und ist nur diesen gegenüber einklagbar.
Aus den Widersprüchen zwischen Souveränitätsrechten, transnationalen Rechtsansprüchen und Menschenrechtsnormen folgerte Arendt, dass zu wenige Geflüchtete von diesem Menschenrecht erfasst werden. Die Proklamierung der Menschenrechte veränderte daher aus ihrer Sicht kaum das Schicksal der aus politischen Gründen Flüchtenden. Als Konsequenz forderte Arendt das Recht jedes Menschen auf Mitgliedschaft in einem politischen Gemeinwesen.
Ohne das „Recht, Rechte zu haben“ und einer politischen und sozialen Gemeinschaft anzugehören, sind alle weiteren Menschenrechte nichtig. Dies gilt für Staatenlose ebenso wie für alle Entrechteten: Menschen ohne Papiere, Minderheiten ohne Zugang zu Rechtsschutz, Geflüchtete ohne Aufenthaltsstatus, Obdachlose, Arbeitslose, Ausgebeutete. Laut Arendt werden Menschen nicht als Gleiche geboren, sondern erst als Mitglieder einer Gruppe zu Gleichen, kraft der Entscheidung, sich gegenseitig gleiche Rechte zu garantieren.
Menschenrechte sind nicht an sich gerecht oder inklusiv. Menschenrechte sind Widerstandsrechte gegen alle Formen von Ungerechtigkeit und Unterdrückung. Sie wurden über die Jahrhunderte stetig neu verhandelt und erkämpft. Das galt vor allem für die Arbeiter*innenbewegung, die ihren politischen Kampf auch immer mit Forderungen nach Rechtsansprüchen verband. Angesichts der derzeitigen Gefahr, dass Menschenrechte von Regierungen und Parteien instrumentalisiert werden, um Exklusivität einzufordern oder sogar Kriege zu begründen, geht es bei dem „Recht auf Rechte“ darum, die Rechte neu zu verhandeln. Für die US-Forscherin Stephanie DeGooyer ist das Ziel des Kampfes vor allem jenes um das Recht, Mitglied einer Gemeinschaft zu sein, die Gerechtigkeit bietet. Menschenrechte müssen als politische Praxis verstanden und genutzt werden. Nationalistische Bewegungen und Parteien versuchen, Menschenrechte an den Nationalstaat zu knüpfen, selektiv an Ethnien zu binden und dabei ein künstliches Gemeinschaftsgefühl zu schaffen, das auf der Exklusion anderer beruht. Arendt zufolge kann es wirkliche Demokratie nur dort geben, wo die Zentralisierung der Macht eines Nationalstaates gebrochen ist. Demokratie ist aktive Teilhabe und Mitbestimmung an gesellschaftlichen und politischen Entscheidungen.
Diese Teilhabe setzt das „Recht, Rechte zu haben“ und damit den Anspruch auf einen Platz in der Gesellschaft voraus. Die gegenwärtige weltweite Situation von Staatenlosen und rechtlosen Menschen verleiht Arendts Forderung nach „dem einzigen Recht“ neue Aktualität. Es geht um soziale und politische Handlungsoptionen und Teilhabemöglichkeiten, damit die Weltlosen der „Weltlosigkeit“ entkommen und ihre Handlungsfähigkeit und Identität und damit ihre Menschenwürde zurückgewinnen können. Regierungen und Bewegungen sind mit dafür verantwortlich, das Konzept der Menschenrechte zur Eigenermächtigung der Entrechteten mit emanzipatorischer und politischer Kraft neu zu füllen. Dazu gehört nicht nur, sich mit den „Weltlosen“ und Entrechteten zu solidarisieren, sondern eigene Privilegien und Machtpositionen aufzugeben. Der Einsatz für eine gerechte Gesellschaft, die solidarische Verantwortung der Gemeinschaft für die Einzelnen erfordert eine Neudefinition der Menschenrechte als Widerstandsrechte.
Dieser Beitrag steht unter folgender Urheberrechtslizenz: CC-BY 4.0
Der Artikel wurde im Atlas der Staatenlosen auf Französisch, Englisch und Deutsch veröffentlicht.