Januar 18, 2021

Syrien: Ein Kommen und ein Fliehen

Thomas McGee

Staatenlose Menschen sind in bewaffneten Konflikten oft besonders verletzlich, weil ihnen von allen Seiten Verdächtigungen und Verfolgungen drohen. Paradoxerweise kann ein Konflikt aber auch die Zahl der Staatenlosen verringern, wenn Regierungen versuchen, bestimmte Bevölkerungsgruppen zu befrieden.


Auch schon vor den Konflikten infolge des Arabischen Frühlings 2011 hatten Menschen in Syrien Erfahrungen mit Staatenlosigkeit. So verloren 300.000 im Nordosten des Landes lebende Kurd*innen ihre Staatsbürgerschaft. Zudem können mehr als 500.000 in Syrien lebende palästinensische Geflüchtete ebenfalls als staatenlos betrachtet werden, auch wenn das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) palästinensische Geflüchtete nicht in seiner Statistik der Staatenlosen führt. Und aufgrund diskriminierender Gesetze konnten Frauen ihre syrische Staatsangehörigkeit nicht wie Männer an ihre Kinder weitergeben.

Dass die Palästinenser*innen in Syrien keine Staatsbürgerschaft haben, ist eine Folge der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948. Das von den arabischen Staaten beschlossene „Casablanca-Protokoll“ über den Umgang mit Menschen palästinensischer Herkunft schloss sie von der syrischen Staatsbürgerschaft aus. Es sollte ihr Recht auf Rückkehr nach Palästina gewährleisten. Doch in der Praxis bleibt ihre Lage dadurch seit Generationen in der Schwebe, weil sie weder einen eigenen Staat noch die Staatsbürgerschaft eines anderen besitzen.

Auf die Diskriminierung durch den syrischen Staat und seine Ideologie des arabischen Nationalismus lässt sich hingegen die Staatenlosigkeit der Kurd*innen zurückführen. 1962 wurden viele von ihnen durch eine Volkszählung in Verbindung mit einer ethnisch motivierten Verfolgungskampagne fast über Nacht staatenlos. Während des seit 2011 andauernden Krieges in Syrien versuchte die syrische Regierung, die traditionell widerständische kurdische Bevölkerung zu besänftigen, indem sie einigen staatenlosen Kurd*innen die Staatsbürgerschaft gewährte. So sollten sie davon abgehalten werden, sich dem Aufstand anzuschließen. Viele von ihnen begrüßten zwar die Chance, endlich die Staatsbürgerschaft zu erlangen, lehnten jedoch den Einbürgerungsprozess als solchen ab. Sie sahen darin eher eine politische Taktik als eine Anerkennung ihrer legitimen Rechte. Schätzungen des UNHCR zufolge halten sich noch immer 160.000 staatenlose Kurd*innen in Syrien auf. Es ist jedoch nicht klar, wie aussagekräftig diese Zahl ist, da sie sich auf Statistiken der syrischen Regierung stützt und staatenlose syrische Kurdinnen nicht einschließt, die sich außerhalb des Landes befinden, unter ihnen viele Geflüchtete.


Dom leben in mehreren Ländern des
Nahen Ostens. Sie sind vor allem als ansässige
handwerkliche Zahnärzte bekannt

Die Vertreibung innerhalb Syriens und in andere Länder aufgrund des Krieges erschwert das Leben staatenloser Kurd*innen und Palästinenser*innen zusätzlich. Bereits an den Kontrollpunkten im Inland können viele von ihnen keine Dokumente vorlegen. Die Schwierigkeiten werden noch größer, wenn sie internationale Grenzen überqueren, Aufnahme in anderen Ländern suchen und ihre Familien außerhalb Syriens wieder zusammenführen wollen. Reisedokumente oder befristete Aufenthaltsgenehmigungen können nur diejenigen erhalten, die bei der Allgemeinen Behörde für palästinensische und arabische Flüchtlinge (GAPAR) registriert sind – also die, die 1948 nach Syrien kamen. Wenn sie Asyl außerhalb Syriens beantragen, ist es vielen nicht einmal möglich, ihre Staatenlosigkeit zu beweisen.

Der Krieg birgt auch für andere Menschen Risiken und Gefahren, insbesondere für Kinder vertriebener Eltern. Nach dem syrischen Staatsangehörigkeitsgesetz können Mütter ihre Staatsbürgerschaft nur dann weitergeben, wenn das Kind auf syrischem Territorium geboren wurde. Angesichts der großen Zahl von Kindern, die in den vergangenen zehn Jahren in syrischen Gefl üchtetenfamilien außerhalb des Landes zur Welt kamen, könnten viele dieser Kinder staatenlos bleiben.

Der „Islamische Staat“ und andere bewaffnete Gruppen errichteten in den von ihnen kontrollierten Gebieten eigene Regierungssysteme. Das wirft neue Fragen über die Nationalität der Kinder auf, die dort geboren wurden. Dazu gehören auch die Kinder von jesidischen Müttern aus dem Irak, die von IS-Kämpfern gefangen genommen und vergewaltigt wurden. Ihre eigene Gemeinschaft stigmatisiert sie oft als „Terroristenkinder“, die daher – wie auch ihre Mütter – zusätzlichen Schutz benötigen. Da sie jedoch staatenlos sind, können sie weder umgesiedelt werden noch von anderen humanitären Maßnahmen profitieren, sofern sie sich an syrische Staatsangehörige richten.


Syrien: Nicht erfasst sind die staatenlosen
Kinder aus Vergewaltigungen und aus Ehen mit
jetzt toten Anhängern des Islamischen Staates

Während Millionen von Menschen aus Syrien geflohen sind, ist eine kleinere Anzahl in die entgegengesetzte Richtung gereist – nicht zuletzt, um sich bewaffneten Gruppen anzuschließen. Auf der ganzen Welt versuchen Länder, diesen Personen wegen „Illoyalität“ oder aus Gründen der „nationalen Sicherheit“ die eigene Staatsbürgerschaft
zu entziehen. Syrien ist somit auch zu einem juristischen Experimentierfeld für die Aberkennung der Staatsbürgerschaft geworden. Dabei könnte in Syrien mit dem Krieg und den damit verbundenen Vertreibungen und der Einbürgerung der Kurd*innen die absolute Zahl der Staatenlosen seit 2011 sogar zurückgegangen sein. Staatenlos zu sein macht die Menschen verletzlicher und erhöht damit die Wahrscheinlichkeit einer Flucht. Umgekehrt könnte die Vertreibung der Menschen dazu geführt haben, dass manche von ihnen andernorts staatenlos wurden. Insbesondere für die syrischen Kinder, die im Ausland geboren wurden, könnte die Staatenlosigkeit in den kommenden Jahrzehnten ein
enormes Problem werden.

Dieser Beitrag steht unter folgender Urheberrechtslizenz: CC-BY 4.0

Der Artikel wurde im Atlas der Staatenlosen auf Französisch, Englisch und Deutsch veröffentlicht.