März 15, 2021

Theresia Rohner – Die Heldin von Appenzell

Isabel Rohner

Allen Widrigkeiten zum Trotz


2021 feiert die Schweiz 50 Jahre Demokratie: Seit 1971 haben neben den Schweizern auch endlich die Schweizerinnen das Stimm- und Wahlrecht auf Bundesebene. In den Kantonen jedoch war der Weg zur Demokratie sehr unterschiedlich: Während Waadt/Vaudois Frauen und Männer bereits 1959 auf kantonaler Ebene als politisch gleichberechtigt ansah, verweigerte Appenzell Innerrhoden den Frauen dieses demokratische Grundrecht bis 1990. Dass die Appenzellerinnen seit 1991 gleichberechtigt über politische Belange mitentscheiden dürfen, haben sie dabei einer Frau zu verdanken: Theresia Rohner. Sie klagte sich durch die Instanzen und setzte sich gegen Hass und Widerstände durch. Eine Heldinnengeschichte.


Portrait in black and white of Teresia Rohner
Theresa Rohner aus dem Kanton Appenzell Innerrhoden nimmt am 27. November 1990 in Lausanne vor dem Bundesgericht Stellung zum Urteil des Gerichts über die Beschwerde zum Frauenstimmrecht im Kanton Appenzell Innerrhoden. Das Bundesgericht hieß die Beschwerde, die sie mit Gleichgesinnten aus dem Kanton eingereicht hatte, gut und entschied, dass Appenzell Innerrhoden aufgrund des Gleichheitsartikels der Bundesverfassung den Frauen das Stimm- und Wahlrecht ab sofort zugestehen muss.
Foto: KEYSTONE/Jean Guy Python

Theresia Rohner war Mitte dreißig, hatte einen Töpferladen und lebte mit Mann und zwei kleinen Töchtern in Appenzell, als sie 1989 beschloss, für ihr Recht einzutreten. Warum sollte sie sich in dem Kanton, in dem sie lebte und arbeitete, politisch nicht beteiligen dürfen? Sie hatte die Ausflüchte satt.

Bislang waren alle Versuche, den Frauen das kantonale Stimmrecht zu geben, in Appenzell gescheitert, weil ausschließlich die Männer darüber entscheiden konnten. Bereits zweimal – 1973 und 1982 – hatten die Appenzeller „NEIN“ gesagt zum Frauenstimmrecht auf kantonaler und kommunaler Ebene und damit verhindert, dass ihre Ehefrauen, Schwestern, Mütter und Töchter eine eigene politische Stimme bekamen.

Am 5. April 1989 wendete sich Theresia Rohner an die Kantonsregierung: An der kommenden Landsgemeinde* wollte sie genauso teilnehmen dürfen wie die Männer. Der Antrag wurde mit Verweis auf die Kantonsverfassung abgelehnt. Dort sei nur von stimmberechtigten „Landleuten und Schweizern“ die Rede – explizit nicht von Frauen.

In Appenzell galt Rohner nun als Nestbeschmutzerin, niemand wollte sie unterstützen. Dennoch zog sie vors Bundesgericht. Sie argumentierte, dass die Verweigerung des Frauenstimmrechts in kantonalen Angelegenheiten eine verfassungswidrige Diskriminierung sei. Doch das Bundesgericht gab die Beschwerde an die nächste Landsgemeinde zurück. Diese solle über das Frauenstimmrecht entscheiden. Damit wollte der Bund den Appenzeller Männern die Möglichkeit geben, selber zur Vernunft zu kommen und dem Frauenstimmrecht zuzustimmen – ein Versuch, der gründlich schief ging, wie man noch heute auf Youtube sehen kann : Lediglich 28 Sekunden (!) dauerte die Abstimmung, bei der die Männer das Frauenstimmrecht erneut mit großer Mehrheit und unter hämischem Jubel ablehnten.

Erst jetzt schlossen sich auch andere Theresia Rohner an. Insgesamt 100 Männer und Frauen wendeten sich ans Bundesgericht und forderten die Durchsetzung der Gleichberechtigung. Als Initiatorin wurde Rohner mit anonymen Anrufen belästigt und bedroht.

Der Tag der Entscheidung kam. Am 27. November 1990 verkündete das Bundesgericht in Lausanne einstimmig und unmissverständlich: „Wer den Frauen das Stimmrecht verweigert, verstößt gegen die Bundesverfassung.“ Die Appenzellerinnen waren ab sofort stimm- und wahlberechtigt. Theresia Rohner hatte es geschafft.

Doch der Kampf zu Hause war noch nicht vorbei. Die Verlierer reagierten mit unverhohlenem Frauenhass. Steine flogen durch das Fenster des Töpferladens. Theresia Rohner und ihre Familie erhielten Polizeischutz.

Die Polizei schützte sie auch, als die Frauen in Appenzell einige Monate später, am 28. April 1991, das erste Mal als stimmberechtigte Bürgerinnen an der Landsgemeinde teilnehmen durften. Wider Erwarten verlief die Wahl friedlich.

Noch heute hört man in Appenzell von Männern und Frauen, dass sie sich damals nicht fürs Frauenstimmrecht eingesetzt hätten. Sie waren der Überzeugung, dass es „nur eine Frage der Zeit“ sei, bis auch Appenzell zur Vernunft kommen würde. Wie gut für die Frauen von Appenzell, dass in diesem Fall die Zeit einen Namen hatte: Theresia Rohner.

* Die Landsgemeinde ist eine Institution der direkten Demokratie in zwei Schweizer Kantonen (Appenzell Innerrhoden und Glarus). Sie ist eine jährlich stattfindende Versammlung auf dem Hauptplatz des Hauptortes, an der die Bürger der Gemeinde oder des Kantons teilnehmen. Ihr Zweck ist es, kollektive Probleme zu lösen oder Wahlen per Handzeichen durchzuführen.

Die Kulturwissenschaftlerin Dr. Isabel Rohner ist Expertin für die  Frauenbewegungen in der Schweiz und in Deutschland. Sie ist  Mitherausgeberin und Autorin des Bestsellers „50 Jahre Frauenstimmrecht.  25 Frauen über Demokratie, Macht und Gleichberechtigung“, der 2020 im  Limmat Verlag erschienen ist. Zudem ist sie Co-Host des feministischen  Podcasts „Die Podcastin“. Mit Theresia Rohner ist sie nicht verwandt.  Mehr Infos: www.isabelrohner.com