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Die Rechte von Landarbeiter*innen müssen im Mittelpunkt der Debatte stehen
Die Lockdowns und Teillockdowns in den letzten eineinhalb Jahren der COVID-19-Krise gingen in vielen Ländern mit einer Verschärfung der Nahrungsmittelkrise einher. In so unterschiedlichen Regionen wie Indien, Südafrika oder Deutschland wurde deutlich, wie sehr die Landwirtschaft nicht nur von den Bäuer*innen, sondern auch von den Landarbeiter*innen abhängig ist. Jetzt, im Herbst des zweiten Jahres von Corona, werden die Vereinten Nationen einen „Food Systems Summit“ (FSS) veranstalten. Der erste Schritt wird ein „Pre-Summit“ in Rom zwischen dem 26. und 28. Juli sein.
Ziel des Gipfels ist es, Fortschritte bei den 17 nachhaltigen Entwicklungszielen zu erzielen. Laut der Website des Gipfels soll er „die Welt dafür sensibilisieren, dass wir alle zusammenarbeiten müssen, um die Art und Weise, wie die Welt Nahrung produziert, konsumiert und darüber denkt, zu verändern.“ Weiter heißt es auf der Website: „Der Pre-Summit ist ein „People’s Summit“, der Jugendliche, Bäuer*innen, indigene Völker, die Zivilgesellschaft, Forscher*innen, den Privatsektor, politische Entscheidungsträger*innen und Minister*innen für Landwirtschaft, Umwelt, Gesundheit, Ernährung und Finanzen zusammenbringen wird.“
Fehlt jemand bei diesem „Volksgipfel“? Leider ja! Es gibt im Grunde zwei soziale Klassen, die unsere Nahrung produzieren: Die erste Gruppe sind die Bäuer*innen, die zweite Gruppe sind die Landarbeiter*innen. Während Finanz- und Ernährungsexpert*innen als Teilnehmer*innen des „Völkergipfels“ genannt werden, sind es die Arbeiter*innen und ihre Gewerkschaften nicht. Im Jahr 2013 schätzte die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), dass von den 1,1 Milliarden Menschen, die in der Landwirtschaft arbeiten, etwa 40 Prozent, also 300 bis 500 Millionen Menschen, beschäftigt sind.
Unsichtbar
Das Problem in ernährungspolitischen Kreisen ist genau das: Es gibt viel Engagement in verschiedenen Multistakeholder-Foren, und es gibt viele Ideen, wie wir unsere Ernährungssysteme „neu denken“ können. Aber die Klasse, die die Hälfte der Lebensmittel produziert, die Landarbeiter*innen und ihre Gewerkschaften, werden aus diesen Kreisen herausgehalten und in den Debatten ignoriert.
Nur wenige Länder erheben nationale Daten über die Zahl der in der Landwirtschaft beschäftigten Menschen. Eine Ausnahme ist Indien, wo Umfragen im Jahr 2011 ergaben, dass das Einkommen von mehr als 50 Prozent der ländlichen Haushalte vor allem von kurzfristigen Formen der Lohnarbeit abhängt. In den meisten Fällen fehlen diese Statistiken bei den staatlichen Stellen. In Uganda zum Beispiel gaben die nationalen Arbeitsstatistiken an, dass 11 Prozent der Frauen in der Landwirtschaft einer Lohnarbeit nachgingen. Eingehende wissenschaftliche Untersuchungen ergaben jedoch, dass dies für 44,8 Prozent der Frauen zutraf. Für die statistischen Unzulänglichkeiten gibt es mehrere Gründe: Erstens zeichnet sich die Prekarität von Haushalten mit niedrigem Einkommen gerade dadurch aus, dass sie mehrere Einkommensquellen haben. So ist es beispielsweise denkbar, dass ein Haushalt zwei Hektar eigenes Land bewirtschaftet, die Söhne auf einer Plantage in einer anderen Region arbeiten und die Töchter als Tagelöhnerinnen bei den Nachbarn auf dem Feld helfen. Zweitens ist die Arbeit in der Landwirtschaft stark von der saisonalen Nachfrage beeinflusst. Die Menschen arbeiten oft nur drei Monate während der Erntezeit und nicht neun Monate lang. Dies wird in den nationalen Arbeitsstatistiken kaum erfasst, oft werden solche Haushalte grob als „Kleinbäuer*innen“ eingestuft.
Soziale Differenzierung
So unterschiedlich wie die landwirtschaftlichen Strukturen in verschiedenen Regionen der Welt sind: Lohnarbeiter*innen machen einen erheblichen Teil der Arbeitskräfte aus, und ihre Bedeutung nimmt im Vergleich zur kleinbäuerlichen Landwirtschaft zu. Die sozialen Strukturen im ländlichen Raum sind komplex und entwickeln sich überall auf der Welt dynamisch weiter. In vielen Regionen, die Mitte des 20. Jahrhunderts noch von der kleinbäuerlichen Landwirtschaft geprägt waren, hat mit dem Vordringen des Kapitalismus ein Prozess der sozialen Differenzierung stattgefunden und setzt sich fort. Dieser Prozess kann wie folgt beschrieben werden: Einem Teil der kleinbäuerlichen Haushalte, die zunächst ihr eigenes Stück Land bewirtschaften, gelingt es, durch den Zugang zu Krediten und Märkten kommerziell erfolgreich zu werden. Sie steigern die Produktion und stellen externe Arbeitskräfte ein. Eine zweite Gruppe von Kleinbäuer*innenhaushalten hält ihr Produktionsniveau stabil, indem sie teilweise in Märkte integriert werden. Eine dritte, sehr große Gruppe von Kleinbäuer*innenhaushalten kann wirtschaftlich nicht überleben oder verliert ihr Land. Diese Gruppe wandert entweder auf der Suche nach Lohnarbeit in die Städte ab oder arbeitet auf Farmen und Plantagen im Umland. Dabei ist zu beachten, dass keineswegs nur große Plantagenbetriebe auf Lohnarbeit zurückgreifen. In jeder kleinbäuerlichen Region, sei es in Südostasien oder in Afrika südlich der Sahara, spielen informelle landwirtschaftliche Arbeitsmärkte eine zentrale Rolle. Oft beuten Kleinbäuer*innen, die selbst unter extremem Preisdruck stehen, die für sie arbeitenden Tagelöhner*innen in hohem Maße aus.
Verletzungen der Arbeitsrechte
Landarbeiter*innen befinden sich in einer schwachen Position gegenüber den Bäuer*innen und Plantagenbesitzer*innen. In vielen Fällen ist die Zahl der armen Menschen in ländlichen Gebieten hoch, so dass eine potentielle Reservearmee von Arbeiter*innen vorhanden ist, die die Arbeiter*innen, die ihre Rechte einfordern, ersetzen kann. In Regionen mit tendenziellem Arbeitskräftemangel in der Landwirtschaft, wie z.B. in Deutschland, wird versucht, die Reservearmee durch immer neue Anwerbungen künstlich zu schaffen (Polen – Rumänien – Ukraine). Die folgenden Aspekte der Arbeitsbedingungen sind in der Landwirtschaft weit verbreitet:
Niedrige Löhne: Das Lohnniveau in der Landwirtschaft ist in der Regel deutlich niedriger als in anderen Wirtschaftszweigen. In einigen Ländern ist die Landwirtschaft sogar explizit von Mindestlohnregelungen ausgenommen. In vielen Fällen richtet sich die Bezahlung nicht nach der Arbeitszeit, sondern nach der geernteten Menge, was die Bäuer*innen zwingt, hart zu arbeiten, um den vereinbarten Lohn zu erhalten. Oft sind die Einkommen so niedrig, dass die Arbeiter*innen und ihre Familien an Unterernährung leiden.
Mangelnder Gesundheitsschutz: Die Landwirtschaft gilt als der Sektor, in dem Arbeitsunfälle und Todesfälle besonders häufig sind, vor allem durch Pestizidvergiftungen. Auch von Hitzestress und Dehydrierung aufgrund des Klimawandels sind Landarbeiter*innen besonders betroffen.
Verstöße gegen Arbeitsgesetze: Für staatliche Behörden ist es oft schwierig, die Einhaltung von Arbeitsnormen in abgelegenen ländlichen Gebieten zu überwachen. Die ILO schätzt, dass nur 5 Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe weltweit von Arbeitsinspektionen erfasst werden. Die Landwirtschaft ist der Sektor, in dem Formen von Zwangs- und Kinderarbeit weltweit noch besonders weit verbreitet sind.
Soziale Hierarchien: Die Arbeitsverhältnisse, insbesondere auf großen Plantagen, sind durch extreme soziale Hierarchien gekennzeichnet. Zwischen privilegierten Vorarbeiter*innen und migrantischen, sozial isolierten Arbeiter*innen auf der einen Seite und zwischen Männern und Frauen auf der anderen Seite. Spezifische Formen der Diskriminierung (z.B. fehlender Zugang zu sanitären Einrichtungen und sexuelle Gewalt) sind ein massives Problem. Wenn die Arbeiter*innen mit ihren Familien auf der Plantage leben, sind sie extrem abhängig vom Management.
Fehlende soziale Absicherung: Ein erheblicher Teil der Landarbeiter*innen arbeitet saisonal ohne soziale Absicherung, völlig informell oder sogar illegal. In vielen Ländern werden Arbeitsmigranten durch Formen der Leiharbeit über zwielichtige Subunternehmer angeworben.
Was sollte der Food Systems Summit tun?
Auf dem Food Systems Summit werden die Diskussionen entlang fünf verschiedener „Action Tracks“ stattfinden. Track 4 heißt „Advance Equitable Livelihoods“ (Gerechte Lebensgrundlagen fördern). Wahrscheinlich sollten in diesem Teil des Gipfelprogramms die Grundrechte der Arbeiter*innen im Mittelpunkt der Debatte stehen. Anstelle von ein paar inspirierenden Reden im TED-Talk-Stil brauchen wir eine ernsthafte Debatte darüber, warum und wie die Rechte von Arbeitnehmer*innen weltweit in so großem Umfang verletzt werden und was die Regierungen tun sollten, um die Rechte der Arbeitnehmer*innen zu verbessern. Kann die Anzahl und Qualität der Inspektionen der Arbeitsbehörden in den Betrieben erhöht werden? Können wir digitale Werkzeuge nutzen, um die Arbeit der Arbeitsbehörden zu verbessern? Wie sind Landarbeiter*innen vom Klimawandel und Hitzestress betroffen? Wie können Gewerkschaften besser unterstützt werden? Welche spezifische Unterstützung brauchen Wanderarbeiter*innen? Welche Art von zusätzlichen politischen Richtlinien müssen vorhanden sein? Es gibt zum Beispiel wichtige ILO-Konventionen, die auf dem Gipfel nicht ignoriert werden sollten. Einige der Konventionen, wie die Konvention 183 (Recht auf Mutterschutz) oder die Konvention 184 (Gesundheitsschutz in der Landwirtschaft), sind starke Instrumente, die als politische Leitlinien genutzt werden sollten.
Zweitens müssen die Organisationen der Landarbeiter*innen selbst – die Gewerkschaften – im Mittelpunkt von politischen Debatten wie dem Food Systems Summit stehen. Landwirtschaftsgewerkschaften sind recht unterschiedliche Organisationen. Sie reichen von nicht registrierten Basisorganisationen auf einzelnen Höfen bis hin zu breit organisierten Verbänden auf nationaler Ebene. Gewerkschaften agieren in unterschiedlichen politischen Kontexten. In repressiven Kontexten können sich Arbeiter*innen auf Farmen in heimlichen Nachtsitzungen organisieren. In anderen Fällen sind die Gewerkschaften in der Lage, durch Kollektivverhandlungen bessere Arbeitsbedingungen für alle zu erreichen, für Festangestellte und Saisonarbeiter*innen gleichermaßen. An der Spitze kollektiver Aktionen zu stehen, ist für aktive Gewerkschafter*innen oft mit einem hohen persönlichen Risiko verbunden.
Benjamin Luig arbeitet als Berater für internationale Agrarpolitik. Von 2016 bis 2019 leitete er das Programm "Food Sovereignty Dialogue" der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Johannesburg, Südafrika.