Dezember 10, 2022

Unverändert wichtig: die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

Eva Wuchold

Dieser Artikel ist Teil unserer Serie anlässlich des 75. Jahrestages der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.


Heute in einem Jahr jährt sich die Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen zum 75. Mal. Für uns als progressive Stiftung mit Sitz am Standort des Menschenrechtsrats in Genf ein guter Zeitpunkt, um über die Menschenrechte als solche und die Menschenrechtserklärung im Besonderen nachzudenken.


Zu aller erst: Menschenrechte sind durch und durch politisch und sollten Gegenstand von Debatten und Auseinandersetzungen sein. Aber sie sollten auch den Rahmen und den Ton für unsere wichtigsten politischen Debatten vorgeben. Die in der Menschenrechtserklärung festgehaltenen Menschenrechte sind eine wichtige Schwelle, an der wir die Rechtfertigungen, auf die wir uns berufen, überprüfen können. Und dies nicht nur, um uns vor staatlicher Macht zu schützen, sondern auch um auszuloten, wie diese Macht zum Schutz und zur Unterstützung der Interessen der Menschen, die innerhalb der Grenzen eines jeweiligen Staates leben, eingesetzt werden kann. Und hier vor allem zum Schutz der Menschen, die diesen Schutz aufgrund von Diskriminierung und Ausgrenzung am meisten benötigen.

Daraus ergibt sich für mich zweitens, dass eine politische Kultur, die die Menschenrechte ernst nimmt, Menschen per se nicht als „Illegale“ bezeichnet und sich gegen jede Diskriminierung aufgrund von Hautfarbe, Herkunft, Geschlecht, sexueller Orientierung, Ideologie, Klasse oder Religion wendet.

Mein dritter Punkt ist, dass eine politische Kultur, die die Menschenrechte ernst nimmt, nicht einfach vorschnell Rechte verkündet, ohne die Gründe für ihren Wert und die damit verbundene Verantwortung zu klären, zu benennen und zu hinterfragen. Würden politische Parteien und Regierungen mehr von Letzterem tun, wäre es um unsere Menschenrechtspolitik und die Durchsetzung der Menschenrechte ungemein besser bestellt. Spalterische Debatten, die die Menschen in Berechtigte und Entrechtete einteilen, ließen sich vielleicht nicht lösen, aber sie könnten verändert werden. Genau hier sehe ich übrigens den Wert von Institutionen wie dem Menschenrechtsrat, wo ständig daran gearbeitet wird, die Menschenrechte zu präzisieren, auszugestalten und zu erklären sind – im Namen der Durchsetzung der Menschenrechte – und wo die Sitze im Übrigen wie folgt verteilt sind: Afrikanische Staaten: 13 Sitze, Staaten des asiatisch-pazifischen Raums: 13 Sitze, lateinamerikanische und karibische Staaten: 8 Sitze, westeuropäische und andere Staaten: 7 Sitze, osteuropäische Staaten: 6 Sitze.

Unsere Debatten würden sich – und das ist mein vierter Punkt – auf eine Ebene verlagern, auf der die dem Menschen innewohnende Würde und die Achtung unserer gemeinsamen Menschlichkeit – das Herzstück der Menschenrechtsvision – ein Ausgangspunkt für unsere öffentlichen Diskussionen ist und nicht im Lärm untergeht. Es würde nicht mehr darum gehen, ideologische Schlachten zu schlagen, die Menschenrechte als moralisch, liberal oder bürgerlich zu diskreditieren. Dies bedeutet nicht, die Kritik an der Menschenrechtserklärung oder den Menschenrechten an sich zu ignorieren. Schon Hannah Arendts kritische Anmerkungen, die sie kurz nach der Verabschiedung der Menschenrechtserklärung in ihrem Aufsatz „The rights of man ; what are they?“ festhielt, sind mehr als berechtigt. Darin stellte sie fest, dass die Erklärung selbst einen Widerspruch enthält, da sie von den Staaten verlangt, die „universellen“ und „unveräußerlichen“ Rechte aller Menschen zu schützen, während die moderne Institution des Staates auf dem Prinzip der nationalen und territorialen Souveränität beruht. Darauf aufbauend kam sie berechtigterweise zu dem Schluss, dass dieses Paradoxon nur durch die Anerkennung des „Rechts, Rechte zu haben“ als rechtlich-politische Voraussetzung für den Schutz anderer Menschenrechte aufgelöst werden kann. Ich denke jedoch, dass Diskurse wie dieser eher zu Schlussfolgerungen führen sollten wie der, dass die versprochenen „unveräußerlichen“ Menschenrechte nur durch das kollektive Recht auf Selbstverwaltung garantiert werden können, als zu einer Problematisierung der Menschenrechte an sich.

Ebenso wichtig für das Verständnis der Menschenrechte ist ihre Entstehungsgeschichte, die auch die Grundlage für die Verabschiedung der Menschenrechtserklärung ist, und dies ist mein fünfter Punkt. Einem Narrativ zufolge sind die Menschenrechte tief in der Kulturgeschichte des Westens verwurzelt, mit hybriden Ursprüngen in vielen verschiedenen kulturellen Quellen, die bis zum römischen Recht und sogar zum antiken Griechenland zurückreichen, oder zumindest bis zu den Anfängen der westlichen Zivilisation, in das Zeitalter der amerikanischen und französischen Revolution oder in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verfasst wurde.

Dennoch spielten sie bei den antikolonialen Aufständen nach 1945, die auf das von Staat und Nation unabhängige Individuum ausgerichtet waren, keine Rolle. Von Algerien bis Vietnam wurde das kollektive Recht der Unterdrückten, sich selbst zu befreien, beschworen. Stattdessen traten die Menschenrechte in der Weltpolitik erst in den 1970er Jahren richtig in Erscheinung, als die Versprechungen der Befreiungsbewegungen verblassten. Auf den Trümmern früherer politischer Utopien, so Samuel Moyn in seinem viel beachteten Buch „The Last Utopia. Human Rights in History“, erlangten die Menschenrechte ihre heutige Bedeutung.


Titelseite der Erklärung / United Nations

So wie die Geschichte fast aller politischer Konzepte offenbaren sich also auch die Menschenrechte als mehrschichtiges intellektuelles Erbe, das heute auf die eine oder andere Weise für Orientierung sorgen kann. Die klassischen liberalen Rechte – Rede-, Versammlungs-, Eigentums- und Gewissensfreiheit – sind zweifelsohne wichtig für das Erbe der Menschenrechte. Aber auch soziale Rechte – wie politische Partizipation, Beschäftigung und Antidiskriminierung – sind wichtig.

Was also sollen wir mit solchen Spannungen und Widersprüchen anfangen? Wir sollten weder einen Menschenrechtsabsolutismus noch einen Relativismus annehmen. Wir sollten nicht glauben, dass die Menschenrechte gegenüber historischen Veränderungen oder politischen Debatten unempfindlich sind. Wir sollten auch nicht denken, dass sie lediglich Spielball einer Ideologie sind.

Vielmehr sollten wir uns daran erinnern, und dies ist mein sechster Punkt, was durch die Diskussion über die Menschenrechte und die Verabschiedung der Menschenrechtserklärung im Jahr 1948 möglich wurde: Zum ersten Mal verfügte die Welt über ein weltweit vereinbartes Dokument, das alle Menschen als frei und gleich bezeichnete, unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Glaube, Religion oder anderen Merkmalen. Zu den 30 Rechten und Freiheiten, die in der Erklärung der Menschenrechte verankert sind, gehören das Recht, nicht gefoltert zu werden, das Recht auf freie Meinungsäußerung, das Recht auf Bildung und das Recht, Asyl zu suchen. Die Erklärung umfasst bürgerliche und politische Rechte, wie das Recht auf Leben, Freiheit und Privatsphäre, sowie wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, wie das Recht auf soziale Sicherheit, Gesundheit und angemessenen Wohnraum.

Obwohl die Menschenrechtserklärung nicht rechtsverbindlich ist, wurde der Schutz der in der Erklärung verankerten Rechte und Freiheiten in viele nationale Verfassungen und nationale Rechtsrahmen aufgenommen. Sie ist nicht nur das meistübersetzte Dokument der Welt, sondern bildete auch die Grundlage für die Entwicklung vieler anderer rechtsverbindlicher Menschenrechtsverträge: den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung, das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau, das Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe oder das Übereinkommen über die Rechte des Kindes, um nur einige zu nennen.

Neben der Vereinheitlichung der universellen Menschenrechte hat die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vor allem eines erreicht, und damit komme ich zu meinem letzten Punkt: Sie hat dem zivilgesellschaftlichen Kämpfen für die Rechte der Menschen Orientierung gegeben und dient heute als Leitbild und Vision nicht nur für Menschenrechtsorganisationen, Menschenrechtsverteidiger oder auch Menschenrechtsgerichte. Vor allem hilft die Ausbuchstabierung der Menschenrechte das Unrecht beim Namen zu nennen, Menschenrechtsverletzungen vergleichbar zu machen, egal wo sie geschehen, den Finger in die Wunde von Staaten zu legen, die die in der Erklärung niedergelegten Rechte immer wieder verletzen, und trägt dadurch – und das ist der vielleicht wichtigste Punkt – zu internationaler Solidarität bei: menschenrechtsbasiert und universell.

Seit 2012 arbeitet Eva Wuchold für die Rosa-Luxemburg-Stiftung und ist nun für den Aufbau und die Leitung des Programms Soziale Rechte im Genfer Büro zuständig..

Dieser Artikel ist Teil unserer Serie anlässlich des 75. Jahrestages der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.