Juli 31, 2021

Was geschah während des ersten Teils der 109. Sitzung der ILC?

Antonio de Lisboa Amâncio Vale

Inside the UN Series > 109. Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), Genf, 3. bis 19. Juni 2021


In diesem Jahr, 2021, wird die Internationale Arbeitsorganisation IAO ihre 109. Konferenz in zwei Etappen (die erste Etappe vom 3. bis 19. Juni und die zweite vom 25. November bis 11. Dezember) abhalten. Aufgrund der durch COVID 19 verursachten Pandemie wird sie in virtueller Form stattfinden. Wir erleben gerade die größte Gesundheitskrise der letzten hundert Jahre mit tragischen wirtschaftlichen und sozialen Folgen für die gesamte Menschheit, vor allem für die ärmsten und gefährdetsten Regionen der Welt. Die durch die Pandemie verursachte gesundheitliche, wirtschaftliche und soziale Tragödie kommt zu den vorangegangenen Krisensituationen hinzu, die das multilaterale System durchläuft. Die Summe dieser Fakten zeigt die schädlichen Auswirkungen der neoliberalen, konzentrierenden und ausgrenzenden Globalisierung noch deutlicher. Das Fehlen einer globalen Governance, die in der Lage ist, die Gesundheitskrise auf kohärente und überzeugende Weise zu lenken, sorgt dafür, dass ein Ausweg aus der wirtschaftlichen und sozialen Krise noch weit entfernt ist.

Wir wissen, dass die Produktion in globalen Wertschöpfungsketten Millionen von Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in eine Form von Unsicherheit geführt hat und viele von ihnen sind völlig von den Arbeitsmärkten ausgeschlossen. Gleichzeitig bringen die Automatisierung und der unregulierte Einsatz neuer Technologien für die Arbeiterklasse neue und immense Herausforderungen mit sich. Die Auswirkungen dieser Veränderungen sind je nach Position, die die Länder in den globalen Wertschöpfungsketten einnehmen, ungleich verteilt und betreffen stärker diejenigen Länder, in denen das Entwicklungsniveau und der Zugang zu neuen Technologien geringer sind und in denen die Ausbeutung von Arbeitskräften größer ist, was in den peripheren Ländern zu mehr Armut führt.

Aus Anlass ihres 100-jährigen Bestehens hat die IAO eine wichtige Erklärung zur Zukunft der Arbeit[1] angenommen, um sich den Herausforderungen zu stellen, die sich aus dem Wandel der globalen Produktionsmodelle ergeben, um eine integrativere, nachhaltigere und sozial gerechtere Zukunft der Arbeit zu schaffen. Noch immer befinden sich auch nach mehr als 100 Jahren nach ihrer Gründung Arbeiter und Arbeiterinnen in zahllosen Ländern in Arbeitsbeziehungen, die gleich gegen mehrere IAO-Konventionen verstoßen – darunter grundlegende Konventionen[2]. Mit der Pandemie drohen Kinder- und Zwangsarbeit in vielen Ländern zuzunehmen. Der Mangel an Gewerkschaftsfreiheit ist in vielen Ländern weiterhin präsent und Kollektivverhandlungen werden sehr oft missachtet und manchmal, wie im Falle Brasiliens, durch die Durchsetzung individueller Verhandlungen angegriffen.


Herr Guy Ryder, Generaldirektor der ILO. Eröffnungsplenarsitzung der Konferenz. Montag, 7. Juni. 109. Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz. Foto: Marcel Crozet / ILO

Anstatt die IAO zu stärken – eine Schlüsselorganisation im Streben nach einer gerechteren Welt, mit Frieden und sozialer Gerechtigkeit – kam es oft zu Angriffen auf die Organisation und auf ihr Kontrollsystem zur Durchsetzung der Regeln. Dieses System[3] setzt sich aus Gremien wie der IAO-Expertenkommission für die Durchsetzung von Standards und Empfehlungen zusammen, die die Umsetzung internationaler Arbeitsstandards in den Mitgliedstaaten unparteiisch und technisch bewertet; dem Sachverständigenausschuss zur Durchführung der IAO-Übereinkommen und Empfehlungen, der auf den jährlichen internationalen Konferenzen der IAO tagt und von dem die schlimmsten Fälle von Verstößen zur Prüfung ausgewählt werden; wie auch der Ausschuss für Gewerkschaftsfreiheit, der die Beschwerden über Verletzungen der Grundsätze der Gewerkschaftsfreiheit und der kollektiven Verhandlungen analysiert – unabhängig davon, ob das Land die IAO-Übereinkommen 87 über die Gewerkschaftsfreiheit und 98 den Schutz des Gewerkschaftsrechts über das Recht auf Kollektivverhandlungen ratifiziert hat oder nicht.

Ein deutliches Beispiel für den Angriff der Arbeitgeber und einiger Länder ist der Fall der brasilianischen Regierung, die wie andere Länder versucht hat, die Verfahren und die Aufsichtsbefugnis der Experten der Organisation zu ändern. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass sogar das Thema Streikrecht in den letzten Jahren in den Blickpunkt gerückt ist, als dieses legitime Recht der arbeitenden Männer und Frauen in Frage gestellt wurde. Ein weiteres deutliches Beispiel für einen Angriff auf das System der Kontrolle und Durchsetzung von Standards war die Reduzierung der Fälle, die in der Normenkontrollkommission auf der diesjährigen Konferenz analysiert wurden. In den letzten Jahren begannen die Verhandlungen mit einer Liste der 40 schlimmsten Fälle von Verstößen gegen die IAO-Standards, der so genannten langen Liste, und endeten mit den 24 Fällen, die vom CAS analysiert werden sollten, genannt kurze Liste. Allerdings wurden in diesem Jahr ausnahmsweise nur 19 Fälle[4] überprüft, was die Regulierungsbefugnis für die Einhaltung der Standards in den verschiedenen Ländern schwächt.  

Von den 19 Fällen wurden folgende lateinamerikanische Länder ausgewählt, in denen es in diesem Jahr zu den schwerwiegendsten Verstößen gegen die internationalen IAO-Standards kam: Bolivien wegen Verstoß gegen das Übereinkommen 131 (Festsetzung von Mindestlöhnen), Kolumbien wegen Verstoß gegen das Übereinkommen 87 (Gewerkschaftsfreiheit und Schutz des Gewerkschaftsrechtes), El Salvador wegen Verstoß gegen das Übereinkommen 144 (Dreigliedrige Beratungen zur Förderung der Durchführung internationaler Arbeitsnormen) und Honduras wegen Verstoß gegen das Übereinkommen 169 (eingeborene und in Stämmen lebende Völker).

Aus den anderen Regionen der Welt bilden die folgenden Länder die sogenannte IAO-Shortlist: Weißrussland, Kambodscha, Hongkong (China), Äthiopien, Kasachstan, Kambodscha und Rumänien, die gegen das Übereinkommen 87 verstoßen haben. Ghana und Kiribati stehen ebenfalls auf der Liste wegen Verstoß gegen das Übereinkommen 182 (Verbot und unverzügliche Maßnahmen zur Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit), Irak und Namibia wegen Verstoß gegen das Übereinkommen 111 (Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf), die Malediven wegen Verstoß gegen das Seearbeitsübereinkommen (MLC 2006), Mosambik wegen Verstoß gegen das Übereinkommen 122 (Beschäftigungspolitik), Rumänien wegen Verstoß gegen das Übereinkommen 98, Tadschikistan wegen Verstoß gegen das Übereinkommen 81 (Arbeitsaufsicht in Gewerbe und Handel), Turkmenistan und Simbabwe wegen Verstoß gegen das Übereinkommen 105 (Abschaffung der Zwangsarbeit). In den meisten Fällen ging es um den Verstoß gegen eines der wichtigsten IAO-Übereinkommen, nämlich das Übereinkommen 87.  

Es ist wichtig, die Schlussfolgerungen zweier spezifischer Fälle in der lateinamerikanischen Region hervorzuheben. Einer der Fälle ist Kolumbien, das derzeit ein Szenario sehr schwerwiegender Verstöße mit Repressionen, Drohungen und Ermordungen von Gewerkschaftsmitgliedern und anderen Führern erlebt. In der Schlussfolgerung heißt es: „Die Kommission begrüßt die Bemühungen der Regierung, das Übereinkommen in der Gesetzgebung und Praxis umzusetzen. Die Kommission begrüßte auch die positiven Maßnahmen und Erklärungen, die die Regierung ergriffen hat, um die Situation der Gewalt im Land anzugehen, und ermutigte die Regierung, weiterhin Maßnahmen zu ergreifen, um ein gewaltfreies Klima zu gewährleisten[5]. Allein in den vergangenen Monaten wurden bei Straßendemonstrationen in Kolumbien 51 Menschen ermordet und fast 2.400 Fälle von Polizeigewalt registriert, dazu kamen 18 Opfer sexueller Gewalt durch die Polizei und 33 Opfer, die Augenverletzungen erlitten. In Kolumbien gab es keine Garantie für das Recht auf friedlichen Protest, sondern Gewalt und Mord, und auch heute noch wird mit Morddrohungen die Verfolgung von Gewerkschaftsführern im Land fortgesetzt.

Im Fall Boliviens heißt es in den Schlussfolgerungen, dass „der Ausschuss die Regierung auffordert, unverzüglich technische Unterstützung durch die IAO in Anspruch zu nehmen, um die Einhaltung des Übereinkommens in der Gesetzgebung und Praxis sicherzustellen. Der Ausschuss bittet die Regierung ferner, dem Sachverständigenausschuss in Absprache mit den Gesprächspartnern vor seiner Sitzung im Jahr 2021 zusätzliche Informationen über die Umsetzung des Übereinkommens zu übermitteln. Der Ausschuss fordert die Regierung erneut dazu auf, vor der nächsten Sitzung der Internationalen Arbeitskonferenz im Jahr 2022 eine direkte Kontaktmission der IAO zu akzeptieren[6]„. Wir sehen im Fall Boliviens eindeutig viel härtere Schlussfolgerungen als im Fall Kolumbiens, das unserer Einschätzung nach heute der schwerste Fall von Verstößen in der Region ist. Und nach dem Global Rights Index 2021 des Internationalen Gewerkschaftsbundes (IGB) hat es in Bolivien[7] in diesem Jahr Verbesserungen gegenüber dem letzten Jahr gegeben.

In Brasilien führte die durch COVID 19 verursachte Pandemie zu weiteren Verstößen gegen IAO-Standards. Die Verstöße gegen die Übereinkommen 98 und 154 haben sich in den letzten zwei Jahren verschärft, und die Schlussfolgerungen des Sachverständigenausschuss zur Durchführung der IAO-Übereinkommen und Empfehlungen in den Jahren 2018 und 2019, als Brasilien auf der Shortlist stand, wurden völlig ignoriert. Dennoch gehört Brasilien laut dem CSI Global Rights Index 2021[8] für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen weiterhin zu den 10 schlimmsten Ländern der Welt. Neben Ermordungen und Streikunterdrückung wurden während der Pandemie von der brasilianischen Regierung die so genannten Medidas Provisórias (Provisorischen Maßnahmen) 927, 936 und 1045 erlassen, die es dem Arbeitgeber erlauben, Kollektivverträge und Übereinkommen ohne Rücksprache mit den Gewerkschaften aufzuheben sowie Lohnkürzungen, Arbeitszeitverkürzungen und Aussetzungen des Arbeitsvertrags durch individuelle Vereinbarungen vorzunehmen.  Der soziale Dialog fehlt im Land nach wie vor. Trotzdem wurde Brasilien bei der Shortlist von 2021 außen vorgelassen. 


Rede des Bundespräsidenten der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Herrn Guy Parmelin. Eröffnungsplenarsitzung der Konferenz. Montag, 7. Juni. 109. Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz. Foto: Marcel Crozet / ILO

Die Teilnahme der Delegationen an dieser Konferenz war trotz der virtuellen Umgebung im Vergleich zu den Konferenzen mit persönlicher Anwesenheit geringer und eingeschränkter. Eine geringere Beteiligung bedeutet, dass die Arbeitnehmervertreter (und Arbeitgeber) weniger Mitspracherecht bei der Gestaltung der IAO-Beratungen haben.

Mit den tiefgreifenden Veränderungen in der Arbeitswelt, insbesondere der Zunahme von Unsicherheit, die auch durch große Unternehmen der sogenannten Plattformökonomie verursacht wird, in denen Arbeitskräfte ohne jegliche Regulierung oder Gewährleistung von Rechten und Sozialschutz arbeiten müssen, werden die Herausforderungen für die IAO immer größer. Das exponentielle Wachstum der Informalität ist eine weitere immense Herausforderung für die Organisation. Und dafür ist es dringend erforderlich, Maßnahmen umzusetzen, die den Schutz der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen unabhängig von deren Beschäftigungsstatus garantieren.

Wir begrüßen und anerkennen die Schaffung der beiden letzten IAO-Übereinkommen 189 und 190, die sich explizit mit dem Schutz von Hausangestellten und der Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt befassen. Und auch die Empfehlung 204, die den Übergang von der informellen zur formellen Wirtschaft behandelt.

Die Verabschiedung eines Beschlusses während dieser Internationalen Konferenz, die einen globalen Aufruf zu einem integrativen, nachhaltigen und belastbaren  Weg aus der COVID 19[9] Krise darstellt, war ohne Zweifel ein Aufruf für einen Weg aus der Krise in eine weniger ungerechte Welt. Gesehen haben wir jedoch, dass die Produktion und Verteilung von Impfstoffen ungleich waren, mit Prioritäten für die reichen Länder des globalen Nordens auf Kosten einer gerechteren Verteilung auf der ganzen Welt. Dafür wäre es notwendig, Patente freizugeben und Technologien bereitzustellen, damit mehr Länder Impfstoffe herstellen und die Pandemie bekämpfen können. Ohne Impfstoffe für die gesamte Menschheit wird es keinen integrativen, nachhaltigen und belastbaren Weg aus der Krise geben.

Schließlich ist es notwendig, eines der Gründungsprinzipien der einzigen globalen dreigliedrigen Organisation, die den Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen eine Stimme gibt, zu stärken und in die Praxis umzusetzen, nämlich dass Arbeit keine Ware ist, wie es in der Erklärung von Philadelphia aus dem Jahr 1944 festgelegt wurde[10]. In der Erklärung wurden als Voraussetzung für den Fortschritt auch andere Grundprinzipien wie die Meinungs- und Versammlungsfreiheit festgelegt, neben der Beseitigung der Armut, da sie der Meinung ist, dass deren Existenz überall zu einer Gefahr für den Fortschritt wird. Und schließlich, dass sich Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter gemeinsam mit den Regierungen in  Freiheit und Demokratie an der Förderung des Gemeinwohls beteiligen müssen.

Die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen haben die IAO als zentrales Gremium für den Aufbau einer Welt des Friedens und der sozialen Gerechtigkeit tapfer verteidigt. Die Organisation zu verteidigen bedeutet aber auch, ihre Gründungsprinzipien, die in der Erklärung von Philadelphia zum Ausdruck kommen, dauerhaft zu verteidigen und sich nicht von Propheten des Neoliberalismus und des Marktes erpressen zu lassen.

Antonio de Lisboa Amâncio Vale, Geographie- und Geschichtsprofessor, Sekretär für Internationale Beziehungen des Cut Nacional, Brasilien

[1] https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/@ed_norm/@relconf/documents/meetingdocument/wcms_711674.pdf

[2] https://www.ilo.org/global/standards/introduction-to-international-labour-standards/conventions-and-recommendations/lang–en/index.htm

[3] https://www.ilo.org/brasilia/temas/normas/lang–pt/index.htm“ \t“_blank

[4] https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/@ed_norm/@relconf/documents/meetingdocument/wcms_795482.pdf

[5] https://www.ilo.org/ilc/ILCSessions/109/committees/standards/individual-cases/cases/WCMS_804447/lang–en/index.htm“ \t „_blank

[6] https://www.ilo.org/ilc/ILCSessions/109/committees/standards/individual-cases/cases/WCMS_804447/lang–en/index.htm“ \t „_blank

[7] https://www.globalrightsindex.org/en/2021/countries/bol

[8] https://files.mutualcdn.com/ituc/files/ITUC_GlobalRightsIndex_2021_ES.pdf

[9] https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/—ed_norm/—relconf/documents/meetingdocument/wcms_806097.pdf

[10] https://www.ilo.org/legacy/english/inwork/cb-policy-guide/declarationofPhiladelphia1944.pdf“ \t „_blank