Juni 30, 2022

»Wir arbeiten tatsächlich dort – wir sind eine von Arbeiter*innen geführte Gewerkschaft«

Hans-Christian Stephan

Zur Gewerkschaftsbewegung bei Amazon in den USA


Dieser Artikel wurde zuerst auf Deutsch in der Zeitschrift Luxemburg veröffentlicht.

Der Sieg der Amazon Labour Union (ALU) bei der Gewerkschaftswahl im Logistikzentrum JFK 8 in New York ist ein großer Erfolg für die Gewerkschaftsbewegung im weltumspannenden Amazon-Netzwerk: Zum ersten Mal haben Arbeiter*innen auf Amazons wichtigsten Markt, den USA, die Möglichkeit, rechtlich garantiert mit dem Management über die Arbeitsbedingungen zu verhandeln. In der Berichterstattung über den Erfolg geht allerdings unter, dass der Versuch der ALU nicht der erste und auch nicht der einzig erfolgreiche Versuch von Arbeiter*innen in den USA war, sich bei Amazon gewerkschaftlich zu organisieren. Andere Gewerkschaften, die zwar keine anerkannten Gewerkschaften im Sinne des US-amerikanischen Rechts sind, weil sie sich aus strategischen Gründen keiner Gewerkschaftswahl stellen, konnten an mehreren Standorten zuletzt Verbesserungen für die Arbeiter*innen durchsetzen. Ich möchte im Folgenden einen Überblick über unterschiedliche gewerkschaftliche Strategien in den USA geben und auch auf Probleme einzelner Strategien hinweisen. Hierbei liegt mein Fokus neben den Gewerkschaften RWDSU und Teamsters vor allem auf der ALU sowie auf der Praxis des Betriebsgruppen-Netzwerkes Amazonians United (AU), mit denen ich durch mein Engagement bei Amazon Workers International seit Längerem im Austausch stehe. Für diesen Artikel sprach ich länger mit dem AU-Organizer Ira. Ich will mit dem Text zur Diskussion über gewerkschaftliche Strategien bei Amazon beitragen. Auch wenn sich die Ausgangsbedingungen in einzelnen Ländern unterscheiden mögen, gibt es doch Gemeinsamkeiten, so dass man voneinander lernen kann.

Macht und Gegenmacht im Weltkonzern

Ehe ich auf die Strategien der ALU und AU eingehe, möchte ich allgemeiner die Kampfbedingungen der Amazon-Arbeiter*innen, innerhalb derer die verschiedenen Strategien Anwendung finden, betrachten. Inspiriert vom Jenaer Machtressourcen-Ansatz konzentriere ich mich dabei auf fünf Punkte, die bei der Analyse einbezogen werden sollten:

  1. Amazon verfügte in den USA Ende 2021 über 253 Logistikzentren (Fulfillment Center – FC) und 467 Verteilzentren (Delivery Stations – DS) – und das logistische Netzwerk des Konzerns wird weiter wachsen. Streiks und andere Kampfmaßnahmen an einzelnen Punkten im Netzwerk fügen dem Unternehmen wenig Schaden zu. Wenn etwa in Deutschland am Logistikzentrum in Leipzig gestreikt wird, dann werden die Warenvolumina zwischen den Standorten verschoben und die Kund*innen werden aus anderen Großlagern beliefert – entweder gewerkschaftlich unorganisierten in Deutschland oder aus den Logistikzentren in Polen, wo ein repressiveres Streikrecht herrscht. Vereinzelte Streiks werden nicht dazu führen, dass Amazon seinen Kundenversprechen einer pünktlichen Lieferung flächendeckend brechen muss. Allerdings hat Amazon seine Lieferketten in den letzten Jahren neu strukturiert. Neben den großen Logistikzentren baut das Unternehmen Verteilzentren auf. An diesen Punkten im Netzwerk laufen die Pakete mit den Waren aus den Logistikzentren zusammen, um dann in einem bestimmten Bezirk durch die Fahrer*innen der eigenen Kleintransporterflotte, die bei Subunternehmen arbeiten, verteilt zu werden. Streiks an den Verteilzentren können die Auslieferung von Paketen lokal lahmlegen und dadurch Amazon treffen (wie am Beispiel der AU weiter unten beschrieben wird).
  2. Weltweit tun sich die Gewerkschaften schwer damit, Belegschaftsmehrheiten an den Amazon-Standorten zu organisieren. Dies hängt auch mit der Rolle zusammen, die die Warenlager für lokale Arbeitsmärkte spielen. Sowohl in ärmeren Regionen, wie Bessemer, Alabama oder Leipzig, als auch in reicheren Regionen, wie New York oder Hamburg, bietet Amazon für die Teile der Arbeiterklasse, die mit ihren Berufsqualifikationen keine Jobs finden oder keine Ausbildung hatten, relativ gut bezahlte Jobs an. Viele Arbeiter*innen sehen Amazon außerdem nur als einen kurzfristigen Arbeitgeber, was sich in einem relativ schnellen Wandel in der Belegschaft zeigt und den Aufbau längerfristiger Strukturen erschwert. Allerdings ist dieser enorme Durchlauf von Beschäftigten von der lokalen Arbeitsmarktlage abhängig. Aufgrund ihrer Lage auf den Arbeitsmärkten arbeiten sehr viele Migrant*innen und Geflüchtete bei Amazon.
  3. Amazon agiert offen gewerkschaftsfeindlich. Das Unternehmen investierte in den USA Millionen in Union Busting und in Kampagnen, die die Arbeiter*innen aufriefen, bei den Gewerkschaftswahlen mit Nein zu stimmen. In der Firmenpropaganda wird die Gewerkschaft als eine überflüssige, externe dritte Partei dargestellt, die sich in interne Angelegenheiten der Amazon-Familie einmischt. Immer wieder wurden auch Gewerkschaftsorganizer*innen – sowohl in den USA, als auch in Europa – entlassen. Amazon ließ sich in Europa nur dort und in den Bereichen auf Verhandlungen mit Gewerkschaften ein, wo es gesetzlich dazu gezwungen war.
  4. Die Gewerkschaftsbewegung bei Amazon trifft überall auf große gesellschaftliche Unterstützung. Umweltaktivist*innen blockierten LKW-Zufahrten. Journalist*innen berichten regelmäßig kritisch über das Unternehmen. Politiker*innen prangern den Konzern an oder unterstützen die gewerkschaftlichen Bemühungen wie etwa US-Präsident Joe Biden. In Deutschland bemüht sich die Linkspartei und die Rosa-Luxemburg-Stiftung um eine aktive Unterstützung der Beschäftigten. Auch wenn diese gesellschaftliche Unterstützung wichtig ist, weil dadurch einerseits die Kämpfe legitimiert werden und andererseits die Unterstützung Ausgangspunkt für gesellschaftliche Bündnisse ist, kann sie nirgends das Handeln der Arbeiter*innen im Betrieb ersetzen.
  5. Amazons Dominanz auf dem nordamerikanischen und europäischen E-Commerce-Markt ist ungebrochen – und Amazon hat während der COVID-Pandemie besonders hohe Gewinne gemacht (33,4 Milliarden US-Dollar im Jahr 2021). Dies führt dazu, dass es für Arbeiter*innen Spielräume für Lohnerhöhungen gibt, die auch über die Inflation hinausgehen. Allerdings deutet sich an, dass die Zeit dieses pandemiebedingten Wachstums am Ende ist. Im ersten Quartal machte Amazon auch wegen des schwächelnden Onlinehandels wieder Verluste.  Es ist offen, ob die in der COVID-Pandemie enorm ausgeweiteten Infrastrukturen auch profitabel arbeiten können, wenn die Zahl der Onlinebestellungen wieder zurückgeht.

ALU: »While he was up there, we were organizing«

Der Ausspruch von Chris Smalls nach dem Sieg bei der Gewerkschaftswahl am 1. April 2022 zielt auf die Weltraumambitionen des Amazon-Gründers Jef Bezos ab. Der ehemalige Amazon Supervisor Smalls wurde einst in Folge seines Protests gegen das Corona-Management entlassen. Heute ist er der charismatische Vorsitzende der Gewerkschaft ALU. Was er damit hervorheben will ist, was den Sieg der ALU ausgemacht hat: Organizing am Arbeitsplatz.

Die ALU begann im April 2021 die Arbeiter*innen im Logistikzentrum JFK 8 in Staten Island, New York, zu organisieren. Ein Team von 15 Organizer*innen organisierte unermüdlich in den Pausenzeiten sowie vor und nach Schichtende auf dem Parkplatz, wo Smalls nach seiner Kündigung täglich in seinem PKW als mobilen Gewerkschaftsbüro präsent war, oder an der Bushaltestelle die Belegschaft. Gewerkschaftswerbung während der Arbeitszeit ist in den USA verboten. Das Organizing-Komitee bildete die große ethnische Diversität der Belegschaft ab. Das ermöglichte etwa, dass die Arbeiter*innen in ihren Muttersprachen angesprochen werden und auf besondere Bedürfnisse der Gruppen eingegangen werden konnte. Hier tat sich der bewegungserfahrene und sprachenbewanderte 55-jährige Organizer Brima Sylla hervor. Er berichtet vom Organizing in migrantischen Communities:

„Ich war in einer guten Position, um die Organisierungsbemühungen zu unterstützen. Ich war nie Mitglied einer Gewerkschaft gewesen, aber ich habe viel Erfahrung mit Organisationen, denn ich bin Generalsekretär der African Community Alliance of Staten Island. Ich bin erfahren im Umgang mit sozialen Medien und spreche Französisch, Arabisch, Englisch und drei afrikanische Sprachen. Das hat mir die Kommunikation mit den migrantischen Arbeiter*innen im Inneren des Warenlagers sehr erleichtert. Es gibt viele von uns bei Amazon aus dem Senegal, Nigeria, Liberia, Ghana, Algerien, Ägypten, Libanon, Pakistan, Albanien, Polen, Philippinen, Malaysia und eine Menge Latinos.“

Auch Salts, also linke Aktivist*innen, die bewusst mit der Mission zu organisieren bei Unternehmen anheuern, gehörten zu dem Team. Zu ihrer Rolle meint die linke Aktivistin und Amazon-Arbeiterin Justine Medina:

„Die Leute sehen Salting als einen wichtigen Aspekt, und mehr Leute setzen es auch um. Ungefähr die Hälfte der Amazon-Organizer*innen in Staten Island hat sich den Job bewusst gesucht, um Chris und die anderen Arbeiter*innen zu unterstützen. Wichtig ist beim Salting, dass man die bereits angestellten Arbeiter*innen unterstützt, ihnen folgt, und dass man das als langfristiges Projekt betrachtet. Ich meine, wir alle haben Egos, aber gerade im Kontext des Salting ist es wichtig, das eigene Ego etwas in Schach zu halten.“

Die Salts im Kontext der ALU-Kampagne schlossen sich einer bereits bestehenden Gewerkschaftsstruktur an der Basis an, um diese zu unterstützen. Die Kampagne war also keine allein von Salts getragene. Denn, was die Organizer*innen der ALU als Garant für den Erfolg ausmachen, ist, dass es sich bei der ALU um eine von Arbeiter*innen aus dem Betrieb geführte Gewerkschaft handelt, die von den großen Gewerkschaften unabhängig ist. Dieser Umstand verlieh der Gewerkschaft Authentizität gegenüber der Belegschaft. Amazon konnte nicht so erfolgreich mit seiner Propaganda aufwarten, die Gewerkschaften als eine dritte Partei darstellt. Angelika Maldanado, Organizerin bei der Amazon Labour Union, führt dazu aus:

„Amazon flößt den Arbeiter*innen wirklich Angst ein. Nicht nur, dass überall gewerkschaftsfeindliche Plakate hingen, Amazon hat auch jede Menge Union Buster eingestellt, die ständig im Gebäude herumlaufen und mit den Beschäftigten sprechen. Das war einschüchternd. Die Union Buster haben gelogen und unseren Kolleg*innen erzählt, dass wir eine dritte Partei seien. Aber in Wahrheit sind wir Arbeiter*innen, genau wie sie. Wir sind nicht von woanders gekommen, um JFK 8 zu organisieren; wir arbeiten tatsächlich dort – wir sind eine von den Arbeiter*innen geführte Gewerkschaft.“

Die Gewerkschaft machte auch über den Arbeitsplatz hinausgehend den Arbeiter*innen Angebote. Sie organisierte kulinarische Events wie Picknicks und Barbecues – auch als Orte, um mit den Kolleg*innen ins Gespräch zu kommen – sowie Unterstützungsangebote für Arbeiter*innen, die gerade finanziell in der Klemme stecken. Smalls berichtete, dass sie Kolleg*innen bei der Kabelgebühr oder der Mobilfunkrechnung unter die Arme griffen. Wichtig war der Gewerkschaft allerdings, dass im Rahmen der Kampagne keine unangekündigten Haustürbesuche bei Arbeiter*innen gemacht wurden und das Organizing auf den näheren Betrieb beschränkt blieb. In ihrem Privatleben sollten die Arbeiter*innen in Ruhe gelassen werden.

RWDSU: Die Niederlage von Alabama und die Fallstricke einer Gewerkschaftswahl

Die ALU-Gründer Chris Smalls und Derrick Palmer grenzen sich von der Strategie der Gewerkschaft Retail, Wholsale and Department Store Union (RWDSU) in Bessemer, Alabama ab, wo die Gewerkschaft im April 2022 zum zweiten Mal eine Gewerkschaftswahl verlor. Die erste Gewerkschaftswahl hatte die RWDSU nach einer weltweit beachteten Kampagne und trotz massiver Unterstützung durch prominente Fürsprecher*innen im April 2021 überraschend deutlich verloren. Aufgrund von Unregelmäßigkeiten bei der Wahl von Seiten Amazons kam es im März 2022 zu einer Neuwahl. Gegen die erneute Niederlage hat die RWDSU abermals Beschwerde eingelegt. Deren Ausgang ist noch offen. Der stellvertretende ALU-Vorsitzende Palmer kritisiert:

„Als Chris [Smalls] und ich für die RWDSU-Kampagne nach Alabama fuhren, fielen uns ein paar Dinge an der Art auf, wie sie eine Kampagne durchführten. Zunächst einmal sind sie eine etablierte Gewerkschaft mit einer begrenzten Anzahl von Amazon-Beschäftigten, die tatsächlich organisieren. Wir hatten das Gefühl, dass sie nicht wirklich eine Verbindung zu den Arbeiter*innen hatten. Und ich denke, das ist für eine Gewerkschaftskampagne entscheidend. Man muss mit den Arbeiter*innen sprechen. Man muss ihren Schmerz wirklich verstehen, und was sie durchmachen. Da Amazon ein privates Unternehmen ist, weiß man, wenn man nicht selbst im Betrieb ist, nicht wirklich, was hinter verschlossenen Türen vor sich geht, es sei denn, es steht in der Zeitung. Wir haben das Gefühl, dass viele Gelegenheiten verpasst wurden. Sie haben einfach nicht in dem Maße mit den Arbeiter*innen kommuniziert, wie wir es für richtig hielten. Nur weil eine Wahl ansteht, heißt das noch lange nicht, dass sie auch gewonnen wird. Man muss regelmäßig mit Arbeiter*innen in Kontakt stehen. Das hat uns das Gefühl gegeben, dass sie irgendwie nicht auf dem Laufenden sind.“

Palmer hebt hervor, wie wichtig es ist, dass eine Gewerkschaft mit dem Ohr nahe an den Anliegen der Belegschaft ist, wenn sie bei Amazon Erfolg haben will. Das setzt aber eine starke Verankerung des Organizing-Teams in der Belegschaft voraus. In eine ähnliche Richtung geht auch die Organizerin Jane McAlevey mit ihrer Kritik. Diese wirft der RWDSU vor, bei ihrer Kampagne sich zu sehr auf die Amazon-kritische öffentliche Meinung und auf die Arbeit von Hauptamtlichen verlassen zu haben und es nicht geschafft zu haben, ein von den Beschäftigten selbst getragenes Organizing-Komitee aufzubauen, was fähig gewesen wäre, das Organizing selbst zu übernehmen.

Aber selbst im Falle von JFK 8, wo die ALU die Gewerkschaftswahl gewonnen hat, ist es unklar, ob sich Amazon mit einer Gewerkschaft in naher Zukunft an den Verhandlungstisch setzen wird. Hiernach sieht es derzeit nicht aus. Das Unternehmen will die Wahl anfechten. Unter anderem wird der ALU vorgeworfen im Rahmen der Kampagne Marihuana an Arbeiter*innen verteilt zu haben. Nach der Journalistin Rani Molla kam es bei immerhin 30 Prozent der Unternehmen in den USA auch drei Jahre nach einer erfolgreichen Gewerkschaftswahl noch zu keinem Tarifvertrag zwischen Management und Gewerkschaft. Eine Verweigerungshaltung gegenüber der Gewerkschaft kann für Amazon strategisch sinnvoll sein, denn die Gewerkschaftsbewegung kann in dem Kräfte zehrenden Prozess an Dynamik verlieren. Die Arbeiter*innen können auf Dauer ihre Hoffnungen verlieren, die sie in die Gewerkschaft gesetzt haben. Bei Amazon ist weiterhin davon auszugehen, dass sich innerhalb von wenigen Monaten die Belegschaft zu einem größeren Teil aufgrund des großen Durchlaufs verändert. Neue Kolleg*innen müssen erst wieder für den Konflikt mobilisiert werden. Auch deshalb spielt der Konzern auf Zeit. In ihrem Kampf darum, als Gewerkschaft anerkannt zu werden, setzt die ALU stärker auf die Öffentlichkeit. Sie will gesellschaftlichen Druck auf Amazon aufbauen. Die ALU organisierte bereits eine Demonstration am 24. Mai, an der auch Bernie Sanders und Alexandria Ocasio-Cortez teilnahmen.

Teamsters: »The cavalry has come«

»The big unions are going to support us, and that’s all we’re asking for… The cavalry has come« Mit diesen Worten kommentierte Chris Smalls nach einem Treffen mit Sean O’Brien, seit März 2022 neuer Vorsitzender der Brotherhood of Teamsters, dessen Versprechen, die ALU mit Ressourcen wie Anwälten bei künftigen Auseinandersetzungen zu unterstützen. Hierbei betonte Smalls, dass die ALU unabhängig bleiben wird. Generell haben die Teamsters, die wie die RWDSU eine etablierte Gewerkschaft in den USA sind, angekündigt, sich Amazon zuwenden zu wollen. In einem Interview mit dem Guardian argumentiert O’Brien, dass die Teamster von allen Gewerkschaften in den USA die besten Bedingungen hätten. Nicht nur in finanzieller Hinsicht, sondern auch weil es den Teamstern bereits gelang bei UPS und DHL in den USA Tarifverträge durchzusetzen. In seiner Vision sind ausdrücklich die Fahrer*innen miteingeschlossen, auch weil sie deutlich weniger verdienen als die Kolleg*innen bei UPS. Die etablierte Gewerkschaft will dabei nicht nur auf Community Organizing und öffentliche Unterstützung wie die RWDSU setzen, was beides bei der ALU eine untergeordnete Rolle spielte, sondern kündigte auch Organizing im Betrieb durch Kolleg*innen an. Insofern scheint O’Brien von der ALU inspiriert worden zu sein.

Eine erste von den Teamstern ausgehende Kampagne für eine Gewerkschaftswahl in Kanada war im Herbst 2021 an der Sammlung der Unterschriften gescheitert. Ashlynn Chand, die während der Gewerkschaftskampagne in YEG1, Nisku, Alberta, arbeitete und ethnographisch dokumentierte, berichtet, wie die Abwesenheit der Gewerkschaft im Betrieb dazu führte, dass das Management trotz großer Unzufriedenheit der Belegschaft und – teilweise – ausdrücklicher Sympathien für die Gewerkschaft leichtes Spiel dabei hatte, einen Erfolg zu verhindern. Es wird sich zeigen, ob die Teamsters hier lernfähig sind.


Adrian Sulyok / Unsplash

AU: »We build up the capacity to strike«

In einem Beitrag für die Wildcat formuliert ein AU-Aktivist aus Chicago die Kritik der Gewerkschaft an einer Strategie, die auf die Durchführung von Gewerkschaftswahlen zielt:

„Wir sind nicht in die Falle getappt, eine »offizielle« geheime Gewerkschaftswahl anzustreben und zu versuchen, unsere Probleme durch eine Tarifvertragsverhandlung zu lösen, wie es die RWDSU in Alabama versucht hat. Wir haben alle gesehen, wie das ausgegangen ist. Sich auf eine Gewerkschaftswahl und Tarifverhandlungen einzulassen, bedeutet, sich auf das Terrain von Amazon und dessen gewerkschaftsfeindlichen Berater*innen zu begeben. Warum sollten wir auf »offiziellem« Terrain kämpfen, wo Amazon und seine Anwält*innen und Berater*innen stark sind? Wir kämpfen dort, wo wir stark sind: am Arbeitsplatz, zusammen mit unseren Kolleg*innen, direkt gegen unsere Chefs. Von dort aus wächst unsere Gewerkschaft.“

Die AU strebt nicht nach dem Aufbau von betrieblichen Institutionen im Sinne des US-Rechts. Das ist ein „Terrain“, auf dem sie sich nicht auf einer Augenhöhe mit Amazon sieht. Vielmehr geht es der Gewerkschaft darum, unmittelbar am Arbeitsplatz Macht gegenüber Amazon aufzubauen. In den USA beschränken Verträge zwischen Management und Gewerkschaft, die oft auf Jahre abgeschlossen werden, ausdrücklich die Aktivitäten an der Basis. Die Gewerkschaft kann dann auf Mittel wie Petitionen, also Unterschriftensammlungen, oder Walk-outs bzw. spontane Streiks nicht mehr zurückgreifen und ist dann auf die Verhandlungsbereitschaft des Managements angewiesen. Solche Aktionen sind, wenn sie sich konkret mit ihren Forderungen auf den Arbeitsplatz beziehen, nach dem US-amerikanischen Arbeitsrecht in der Privatwirtschaft (außer in der Landwirtschaft, bei Bahn und an Flughäfen) geschützt. Militanz am Arbeitsplatz ist aber zentral für die Strategie der AU. Sie will die Handlungsmacht am Arbeitsplatz auf keinen Fall durch Verträge mit dem Management auch nur zeitweise aus der Hand geben.

Vor allem in Chicagoer und New Yorker Verteilzentren, wo der organisatorische Schwerpunkt der AU ist, fanden in den letzten zwei Jahren immer wieder Unterschriftensammlungen und Walk-outs statt. Um die Interessen der Arbeiter*innen in den Verteilzentren zu vertreten, gehen die Kolleg*innen in der Regel so vor, dass sie erst einmal Probleme an den Arbeitsplätzen ausfindig machen, dann eine Petition dazu starten und diese dann dem Management vorlegen. Ein prägnantes Beispiel steht im Kontext mit dem Einsturz der Verteilzentrum in Edwardsville, Illinois, am 10. Dezember 2021, bei dem sechs Arbeiter*innen starben, als ein Tornado das Warenlager zerstörte. Die Arbeiter*innen waren unzureichend über die gefährliche Wetterlage informiert worden und konnten sich aufgrund des Handyverbots in der Halle nicht selbst informieren. Amazon selbst ließ die Arbeiter*innen weiterarbeiten. Im Zuge dieser Katastrophe forderten Arbeiter*innen in sechs New Yorker Verteilzentren, dass sie Handys mit auf die Arbeit nehmen dürfen. Amazon nahm das Verbot von Handys schließlich wieder zurück.

In anderen Fällen gingen Beschäftigte im Rahmen von Walk-outs raus, um den Forderungen Nachdruck zu verleihen, nachdem Petitionen ignoriert worden waren. So forderten Arbeiter*innen im Dezember in Chicago eine Lohnerhöhung, woraufhin Amazon die Löhne kurz darauf erhöhte. Allerdings wurden die Löhne in New York, wo im März 2022 auch Walk-outs stattfanden, nicht erhöht, was Ira darauf zurückführt, dass Amazon verhindern will, dass weitere Belegschaften dem Chicagoer Beispiel folgen.

Ausführlich schildert sie in Bezug auf New York, warum die Verteilzentren für die AU eine so wichtige Rolle spielen:

„In New York City selbst gibt es das Logistikzentrum JKF 8, das zwischen 6 000 und 8 000 Beschäftigte hat… Nun ist JFK 8 nicht das einzige Logistikzentrum, das Pakete nach New York City schicken kann. Es ist nur das Einzige innerhalb der Stadtgrenzen. … Wenn also JFK 8 6 000 oder 7 000 Arbeiter*innen organisiert, ist Amazon immer noch in der Lage, Pakete nach New York City zu schicken… Es gibt vielleicht 10 oder 12 Verteilzentren, die New York City beliefern und durchschnittlich 200 Arbeiter*innen beschäftigen. Das sind insgesamt 2000 Leute, also nur ein Drittel von der Belegschaft eines Logistikzentrums, aber Amazon kann New York City nicht ohne die Verteilzentren reibungslos beliefern… Das Unternehmen hängt immer stärker von der letzten Meile ab … wo es UPS und US Postal Service Marktanteile abnimmt. Wenn es Organizer*innen an… der Hälfte dieser Stationen gibt, die in der Lage sind, Streiks und Arbeitsniederlegungen zu organisieren…, dann hat das ernsthafte Auswirkungen auf Amazons Fähigkeit, den New Yorker Markt … zuverlässig zu bedienen, und auf das Versprechen, das Amazon seinen Kund*innen gibt… Wir haben Arbeitsniederlegungen durchgeführt, bei denen das Volumen nicht mehr von der Schicht bewältigt werden konnte. Also müssen sie es entweder in der nächsten Schicht fertigstellen oder es an andere Verteilzentren schicken. Im März hatten wir Arbeitsniederlegungen in Verteilzentren mit sich überlappenden Gebieten. Das kann also erhebliche Auswirkungen haben. Das Volumen, das sie in unserem Lager nicht bewältigen können, können sie nicht an ein anderes Lager weiterschicken.“

Die Idee der AU ist also, dass an den Verteilzentren relativ wenig Beschäftigte vielmehr Macht haben, um Druck auf das Management auszuüben als etwa in den viel größeren Logistikzentren wie JFK 8. Die ersteren sind auch aufgrund der geringen Belegschaftsgröße schneller zu organisieren als letztere. In JFK 8 stimmten 2 654 Kolleg*innen von insgesamt 8 000 für die Gewerkschaftsgründung. Es ist fraglich, ob – wenn wir davon ausgehen, dass alle Yes-Voter mitstreiken – 33 Prozent der Belegschaft tatsächlich wirkungsvoll streiken können, sodass die ausfallende Arbeitsleistung nicht einfach durch die Kolleg*innen in den umliegenden Logistikzentren ersetzt werden kann.

Walk-outs bei Amazon in den USA wurden nicht nur von der AU organisiert. Es fanden seit 2018 auch mehrere im Logistikzentrum MSP 1 in Minneapolis statt. Die Streikbewegung forderte in der Vergangenheit Arbeitsplatzsicherheit, auch im Zuge der COVID-19-Pandemie. Bei den letzten Walk-outs am 1. Mai 2022 war die Hauptforderung, dass Amazon die Rücknahme des Corona-Bonus von 3 Dollar die Stunde rückgängig macht und dass die Beschäftigten am islamischen Feiertag Eid freinehmen dürfen. Die Bewegung ging von Arbeiter*innen aus der somalisch, sudanesischen, eritreischen Community aus, die zu einem großen Teil muslimischen Glaubens sind. Hinter der Bewegung steht das Awood-Center, ein Nachbarschaftszentrum für Menschen aus der Community. Es wird in seiner Arbeit von etablierten Gewerkschaften wie der SEIU und den Teamsters zwar unterstützt, allerdings strebt die MSP1-Betriebsgruppe nicht an, eine Gewerkschaftswahl zu organisieren.

Die Gewerkschaftlichen Erfolge bei Amazon im weltweiten Kontext

Der Sieg der ALU in JFK 8 stellt den bisher erfolgreichsten Versuch der Gewerkschaften in den USA dar, Amazon auf der Ebene der formellen industriellen Beziehungen in den USA anzugreifen. Noch nie wurde die Hürde eines Sieges bei einer Gewerkschaftswahl genommen.

Grundsätzlich ist noch offen, ob der gesetzliche Rahmen ein wirkungsvolles Werkzeug der Arbeiter*innen bei einem gewerkschaftsfeindlichen Unternehmen wie Amazon sein kann, um ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern. Amazon wird den Prozess in die Länge ziehen. In jedem Fall werden die Gewerkschaftsmitglieder einen langen Atem brauchen, bis ein Vertrag mit Amazon steht. Das sieht man auch in Deutschland, wo die in der Gewerkschaft Ver.di organisierten Beschäftigten seit neun Jahren versuchen, Amazon in den Tarifvertrag Einzelhandel zu drängen. Das Beispiel Deutschland zeigt aber auch, dass eine Streikbewegung trotz der langen Zeit nicht notwendig zermürbt werden muss. Durch regelmäßige Streiks schafft Ver.di es, an mehreren Standorten immer wieder neue Mitglieder zu gewinnen und trotz des hohen Durchlaufs an Beschäftigten die Mitgliederzahlen stabil zu halten. Auch die regelmäßigen Mobilisierungen der AU und der Arbeiter*innen am Logistikzentrum MSP1 werden dazu beitragen, eine kämpferische Dynamik am Laufen zu halten.

Ob die ALU ihre Forderungen nach 30 US-Dollar pro Stunde oder bessere Krankenversicherung durchsetzen kann, wird nicht nur vom Verhandlungsgeschick der Anwält*innen abhängen, sondern auch von der Streikmacht, die die ALU aufbauen kann, um den Forderungen Nachdruck zu verleihen. Damit Streiks bei Amazon erfolgreich sind, müssen möglichst weite Teile des Netzwerks gleichzeitig bestreikt werden: Arbeiter*innen in allen Typen von Warenlagern: Logistikzentren wie Verteilzentren . Das setzt umfangreiche Organizing-Bemühungen im gesamten Netzwerk voraus. Zum einen zeigt sich in den USA (ALU und AU) wie auch in Polen am Beispiel der polnischen Gewerkschaft Workers Initiative in Poznan oder der Solidaires bei Amazon in Frankreich, dass arbeitergeführte Gewerkschaften beachtliche Erfolge beim Organizing erringen können. Zum anderen kann man von den Erfolgen der ALU (und des Awood-Centers) mitnehmen, wie man in der Organizing-Kampagne ethnische Spaltungen überwinden kann und wie Salts in eine Gewerkschaftskampagne wirkungsvoll eingebunden werden können.

Um gegen Amazon zu gewinnen, müssen gewerkschaftliche Strukturen möglichst an allen Stellen des weltweiten Amazon-Netzwerks aufgebaut werden. Die Arbeiter*innen werden vor dem Hintergrund einer möglichen Krise des Konzerns, dessen pandemiebedingtes Wachstum erstmal gestoppt ist, an den einzelnen Punkten des Netzwerks viel zu tun haben beim Aufbau von Gegenmacht. Insofern ist zu hoffen, dass es denn Hunderten von Zuschriften aus aller Welt an Chris Smalls in Folge des Sieges in JFK8 zahlreiche neue, erfolgreiche Organisierungsprozesse hervorgehen werden, damit die Arbeiter*innen endlich grenzüberschreitend Druck auf Amazon ausüben können.

Während dieser Artikel in den letzten Zügen ist, kommt aus den USA die Meldung, dass die ALU im Sortierzentrum LDJ 5 die Gewerkschaftswahl mit 618 zu 320 Stimmen verloren hat. Dieses Ergebnis stellt erstmal ein Stocken dar, aber die Gewerkschaft gibt sich kämpferisch und tweetet auf Twitter: „The organizing will continue at this facility and beyond. The fight has just begun.“

Der Autor dankt Florian Wilde (RLS) für wichtige Hinweise.

Von Hans-Christian Stephan