Januar 20, 2021

Assam: Kritik von allen Seiten

Subir Bhaumik

Mit einem neuen Staatsbürgerregister wollten antimuslimische Politiker*innen im indischen Bundesstaat Assam eine Massenausweisung von Muslim*innen nach Bangladesch auslösen. Doch die meisten Betroffenen sind Hindus.


Im nordostindischen Bundesstaat Assam könnten derzeit nahezu zwei Millionen Menschen, zumeist bengalische Hindus und Muslim*innen, ihre indische Staatsbürgerschaft verlieren, weil ihre Namen nicht im aktualisierten Nationalen Staatsbürgerregister erscheinen. Dieses Register wurde 1951 für Menschen mit indischer Staatsbürgerschaft geschaffen, eigentlich, damit sich keine hinduistischen Geflüchteten in Assam ansiedeln, die nach der Teilung Indiens aus Ostpakistan geflohen waren. Auf Anordnung des Obersten Gerichtshofs Indiens an die Regierung in Delhi und die des Bundesstaates Assam wurde 2015 begonnen, das Register zu aktualisieren. Anlass dafür war eine Klage, die Abhijeet Sharma, Direktor der assamesischen Behörde für öffentliche Bauvorhaben, beim Obersten Gerichtshof Indiens eingereicht hatte. Er wollte die Regierung seines Landes dazu bringen, das Register angesichts der „Ungeheuerlichkeit“ der illegalen Migration von Bangladesch nach Assam zu aktualisieren. Es sollte leichter werden, Migrant*innen zu identifizieren und abzuschieben, die nicht zu den Staatsbürger*innen zählen würden. Mit auf der Richterbank saß Ranjan Gogoi, ein ethnischer Assamese, der später Indiens Oberster Richter wurde.

Es geht dabei jedoch keineswegs nur um muslimische Einwanderinnen. Gruppen ethnischer Assames*innen und die Behörden in Assam möchten am liebsten alle illegalen Migrant*innen aus Bangladesch und Nepal, Hindus genauso wie Muslim*innen, von der Staatsbürgerschaft ausschließen. Sie fürchten, im eigenen Staat zur Minderheit zu werden. Von den 33 Millionen Einwohner*innen Assams, die die Aufnahme in das Register beantragten, wurden zwei Millionen abgelehnt: Schätzungen zufolge mehr als eine Million bengalische Hindus, deutlich mehr als eine halbe Million Muslim*innen bengalischer Herkunft und 100.000 nepalesisch sprechende Gurkhas, überwiegend Hindus und Buddhistinnen. Die Staatsbürgerschaft in Assam sollte nur für Eingewanderte aus Nepal und dem heutigen Bangladesch gelten, die schon am 25. März 1971 im Lande waren – als der Befreiungskrieg in Bangladesch begann. Dieses Datum wurde auch 1985 im Assam-Abkommen zwischen der indischen Regierung unter Rajiv Gandhi und ethnisch assamesischen Studierendengruppen festgeschrieben. Zu dem Abkommen war es nach gewalttätigen Protesten in den Jahren 1979 bis 1985 gekommen, bei denen die Ausweisung aller illegal Eingewanderten gefordert wurde.

Wem die Aufnahme in das aktualisierte Register verweigert wird, kann sich an die Ausländergerichte wenden, um der Staatenlosigkeit noch zu entkommen. Doch Gerichtsverfahren in Indien dauern. Personen, die nicht im Register eingetragen sind, beklagen sich über Schikanen durch Polizei und assamesische Bürgerwehr, weil ihr Status unklar ist. Der Bau großer Haftanstalten in Assam und anderswo in Indien hat in letzter Zeit Befürchtungen geweckt, dass all diejenigen, die nun als Illegale eingestuft werden, im Gefängnis landen könnten. Mehr als 50 bengalische Hindus und Muslim*innen haben bereits Selbstmord begangen, nachdem sie aus dem Register ausgeschlossen worden waren. Andere starben in Haftanstalten an den Folgen von Traumata und Krankheiten.


In Nordostindien wurzeln die stetigen Konfl ikte um
Staatsangehörigkeit und Migration in den kolonialbritischen
Grenzziehungen entlang von Religionslinien

Die Aktualisierung des Registers in Assam ist auf breite Kritik gestoßen, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen. Ethnische Minderheiten wie Bengal*innen, sowohl Hindus als auch Muslim*innen, sind dagegen, weil sie den Prozess als diskriminierend und willkürlich empfinden. Assamesische Gruppen sind verärgert, weil sie der Meinung sind, dass mehr Menschen hätten ausgeschlossen werden sollen und dass viele Illegale mit gefälschten Dokumenten in das Register gelangt sind.

Die indische Regierung der hindu-nationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP) begrüßte die vom Obersten Gerichtshof angeordnete Aktualisierung zwar als ein Pilotprojekt, das auf ganz Indien ausgedehnt werden soll, um „das Land von illegalen Migrant*innen zu befreien“. Zugleich aber kritisierte sie den Prozess als fehlerhaft, weil er mehr bengalische Hindus als bengalische Muslim*innen ausschließe. Da sich die BJP dem Schutz der Hindus verpflichtet fühlt, verabschiedete sie ein Gesetz zur Änderung des indischen Staatsbürgerschaftsgesetzes von 1955. Es zielt darauf ab, allen nicht muslimischen Migrant*innen aus Pakistan, Bangladesch und Afghanistan die indische Staatsbürgerschaft zu gewähren, sofern sie vor dem 31. Dezember 2014 in das Land eingereist sind.


Einst kamen sie aus Bengalen, um Tee
und Reis anzubauen. Nationalistische Gruppen
in Assam wollen, das möglichst viele gehen

Als das indische Staatsbürgerschaftsgesetz im Dezember 2019 entsprechend geändert wurde, protestierte ein wütender assamesischer Mob dagegen, dass Hindus nun die Staatsbürgerschaft „durch die Hintertür“ gewährt werde. Indische Oppositionsparteien lehnen sowohl das neue Gesetz als auch die Pläne der BJP für ein nationales indisches Register ab. Unterstützt von Studierendengruppen an fast 40 Universitäten argumentieren sie, das neue Staatsbürgerschaftsgesetz untergrabe die säkularen Grundlagen des indischen Gemeinwesens, da es bestimmte Religionszugehörigkeiten bei der Verleihung der Staatsbürgerschaft privilegiere. Sie interpretieren die Pläne für ein nationales indisches Register als Teil einer antimuslimischen Agenda der BJP, die letztlich darauf hinauslaufe, allen Angehörigen dieser Religion die Staatsbürgerschaft abzuerkennen.


Nach 14 Jahren hatten Tribunale ein Drittel
der Fälle abgearbeitet. Ergebnis: 93,5 Prozent
der Menschen hätten wählen dürfen

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Der Artikel wurde im Atlas der Staatenlosen auf Französisch, Englisch und Deutsch veröffentlicht.