Januar 18, 2021

Geschichte: Neue Waffen: Aus- und Nichteinbürgerung

Dietmar Bartz

Mit der Entstehung der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert beginnt auch die Nichteinbürgerung von Inländer*innen. Mit dem Ersten Weltkrieg setzt die Ausbürgerung ein. Sie war gruppenbezogen oder diente der individuellen Repression – oder beides. Im Nationalsozialismus war sie ein Aspekt des Holocaust.


Historisch gesehen ist die jüdische Bevölkerung Rumäniens ein frühes Opfer der Staatenlosigkeit. 1868 reagierte Karl von Hohenzollern – gewählter Carol I., Fürst von Rumänien – auf schwere antijüdische Ausschreitungen mit einem Zusatz zur damals neuen Verfassung des Landes. Danach durften nur Christinnen eingebürgert werden, das Gegenteil der Gleichstellungspolitik in vielen anderen Ländern. Um die Rechte der Jüdinnen zu wahren, nahmen europäische Staaten sogar diplomatische Verhandlungen auf, ebenso das Osmanische Reich, unter dessen Oberherrschaft Rumänien formell noch stand. Sie blieben erfolglos.

Dennoch galt Staatenlosigkeit im europäischen Völkerrecht am Ende des 19. Jahrhunderts mehr als Ausnahme denn als ernstes juristisches Problem. Die Welt war vollständig in Nationalstaaten und ihre Kolonien aufgeteilt. Alles Land stand unter Herrschaft und damit auch unter Zugehörigkeit. Doch die damalige Sichtweise erwies sich nicht nur auf dem Balkan als weltfremd. Grenzen wurden überall verschoben, Staatsangehörigkeit wurde zur politischen Waffe. Und das Gegenstück, die Staatenlosigkeit, ebenfalls. Eine neue Kategorie Reisedokumente trat in Erscheinung: Pässe für Staatenlose oder Emigrantinnen.

Allerdings war schon vor dem Ersten Weltkrieg ein Fall weithin bekannt: Wer in eine fremde Armee eintrat oder sich dem Wehrdienst im eigenen Land entzog, musste in vielen Ländern wegen Verstoßes gegen die Loyalitätspflicht mit dem Verlust seiner Staatsangehörigkeit rechnen. Bis heute achten Söldner sorgfältig darauf, in irregulären Einheiten zu bleiben, die also nicht in offizielle Armeen oder andere staatliche Strukturen integriert sind.

Mutmaßliche Illoyalität wie bei den Soldaten war dann auch das Einfallstor, mit dem im Ersten Weltkrieg flächendeckende „Denaturalisierung“, so der zeitgenössische Ausdruck, betrieben wurde. Ab 1915 entzog Frankreich mehreren Hundert vormals Deutschen die erworbene französische Staatsangehörigkeit, vor allem beim Verdacht zu enger Kontakte mit dem Feindesland. Ein ähnliches Gesetz von 1918 in Großbritannien enthielt neben genauen Bedingungen auch einen diffus definierten fehlenden „guten Charakter“ als Ausbürgerungsgrund. Bis 1926 wurden 163 Personen ausgebürgert, die meisten allerdings wegen langjähriger Abwesenheit. Belgien nannte 1922 „antinationales“ Verhalten als Grund, Italien 1926 „unwürdiges“, in Österreich waren es ab 1933 „feindliche Handlungen“. Die Bestimmungen richteten sich oft an Männer; die für Frauen und Kinder konnten sich von jenen unterscheiden, insbesondere wenn die Frauen die Staatsangehörigkeit des Wohnsitzlandes hatten.

Eine gegenläufige Tendenz gab es in den USA. Mit dem Indian Citizenship Act gewannen die Indigenen 1924 die Staatsbürgerschaft und das Wahlrecht. Zuvor unterstanden sie offiziell nicht dem US-Rechtssystem. Ein militärischer Hintergrund existierte auch hier: Präsident Coolidge wollte anerkennen, dass im Ersten Weltkrieg Tausende Angehörige der indigenen Nationen für die USA gekämpft hatten. Ihre indigene Nationalität war von der US-Staatsbürgerschaft nicht berührt, was extra festgelegt wurde.

Die junge Sowjetunion nutzte hingegen das Mittel, sich großer Teile ihrer politischen Emigrierten zu entledigen, etwa einer Million Menschen. Denn 1921 erschien ein Dekret, demzufolge seine Staatsangehörigkeit verlor, wer sich über fünf Jahre im Ausland aufgehalten hatte oder nach der Oktoberrevolution 1917 ohne staatliche Erlaubnis ausgereist war. Staatenlos wurden auch die Überlebenden des Genozides am armenischen Volk 1915/16 und später weitere Gruppen von Geflüchteten.


Einzelne Schicksale unter Millionen Drangsalierten
zeigen das Spektrum von Ausgrenzung,
Repression und Abschreckung anderer

Nach Kriegsende nahm das Problem einen solchen Umfang an, dass 1922 Fridtjof Nansen, Hochkommissar des Völkerbundes für Flüchtlingsfragen, den nach ihm benannten Nansen-Pass einführen konnte. Das Papier war ein Reisepass für staatenlose Geflüchtete und Emigrantinnen, vor allem Russinnen und Armenierinnen. Es wurde zunächst von 31, später von 53 Staaten anerkannt und letztlich 1951 vom Reisedokument der Genfer Flüchtlingskonvention abgelöst.

In Nazideutschland wurden zunächst 39.000 jüdische und nicht jüdische Personen auf den ab 1933 veröffentlichten Ausbürgerungslisten staatenlos. 1941 folgten die mehr als 250.000 Emigrant*innen, die Deutschland verließen und ins Ausland gingen. Das Deutsche Reich zog deren greifbares Vermögen ebenso ein wie von 1941 bis 1943 das der 150.000 letzten im Reichsgebiet lebenden deutschen

Jüdinnen, sobald sie deportiert wurden. Weil die Vernichtungslager im Ausland lagen, erhielten Deportierte dort manchmal noch einen Bescheid über die Aberkennung ihrer deutschen Staatsbürgerschaft; das Konzentrationslager Auschwitz wurde extra zum Ausland erklärt. Diese Jüdinnen wurden ermordet und starben staatenlos.

Als staatenlos galten die deportierten Jüd*innen auch nach dem Krieg. Es bedurfte erst einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes im Jahr 1968, um dieses NS-Denken zu beenden. Das Gericht führte aus, dass bei solchen Ausbürgerungen der „Widerspruch zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht“ habe, dass sie von Anfang an nichtig gewesen seien. In einem Leitsatz setzte das Gericht die NS-„Rechts“vorschriften sogar in Anführungszeichen – die Ausgebürgerten hätten ihre deutsche Staatsangehörigkeit nie verloren.

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Der Artikel wurde im Atlas der Staatenlosen auf Französisch, Englisch und Deutsch veröffentlicht.