Mai 6, 2021

Knechtschaft und Wohltätigkeit

Jens Pedersen

Die Antwort des Westens auf die globale Pandemie


Die Welt steht jetzt im zweiten Jahr der globalen COVID-19-Pandemie. Das erste Jahr war geprägt von gewaltigen Veränderungen und Verschiebungen der globalen Dynamik, sowohl im positiven wie auch im negativen Sinne. Einerseits haben wir die Entwicklung präventiver Instrumente wie Impfstoffe in Rekordgeschwindigkeit erlebt; auf der anderen Seite sehen wir, wie Länder sich isolieren, indem sie in engstirnige nationalistische Haltungen und Konzepte zurückfallen. Nationalistische Politik, das Gegenteil von einer überlegten weltweiten Führung der öffentlichen Gesundheit, kann sich langfristig sehr schnell als kontraproduktiv und widersprüchlich erweisen[1], besonders, da es eben in der Natur dieser Pandemie liegt, dass sie Grenzen überschreitet. Es ist keine Überraschung, dass diese Ansätze der wohlhabenden Länder wie den USA, dem Vereinigten Königreich, Japan, Kanada, der Schweiz und der EU, genährt werden von den eng gefassten politischen Interessen, die danach trachten, nicht nur ihre einheimische Bevölkerung zu schützen, sondern auch ihre Pharmaunternehmen.


Arbeiter arbeiten an der Verpackungslinie des Impfstoffs im Serum Institute of India in Pune, Maharashtra. Das Serum Institute, das ausschließlich von einer kleinen, märchenhaft reichen indischen Familie kontrolliert wird und vor Jahren als Pferdefarm begann, tut das, was einige andere Unternehmen im Rennen um einen Impfstoff tun: Hunderte Millionen Dosen eines Impfstoffkandidaten in Massenproduktion herstellen, der sich noch in der Erprobung befindet und vielleicht gar nicht funktioniert. Bild: Atul Loke/The New York Times/Redux/laif

Dieser „Impfstoff-Nationalismus“ ähnelt im Wesentlichen eher einer „Impfstoff-Apartheid“[2]. Tatsächlich sind wohlhabende Länder durch Dehnen ihres Finanzmuskels in der Lage, die Mehrheit der Weltbevölkerung auszuschließen, entweder durch die Herstellung der Impfstoffe gegen COVID-19, oder weil sie früh und in großen Mengen Impfstoffe kaufen können. Folglich hat ein kleiner Teil der Weltbevölkerung die Mehrheit des globalen Impfstoffbestands gehortet, was dazu führt, dass der Großteil der Weltbevölkerung ausgeschlossen wird. Wird dieser Status Quo nicht hinterfragt, bleibt er über die COVID-19-Pandemie hinaus bestehen und erstreckt sich auch auf künftige Pandemien, für die groß angelegte Entwicklungen und Produktionen, zum Beispiel von Impfstoffen oder Medikamenten, nötig werden.

Vor diesem Hintergrund haben Südafrika und Indien im Oktober 2020 der Welthandelsorganisation einen Waiver (eine Verzichtserklärung) vorgelegt. Mit diesem Waiver, der bestimmte TRIPS-Verpflichtungen[3] zum Thema hat, soll sichergestellt werden, dass Entwicklungsländer während einer Pandemie leichter die notwendigen medizinischen Instrumente wie persönliche Schutzausrüstung (PSA), Ventilatoren und möglicherweise Impfstoffe entwickeln können, indem man auf die sonst umständlichen und restriktiven Prozesse und das Recht des geistigen Eigentums verzichtet[4]. Ohne einen solchen Waiver müssten Länder, die diese Instrumente herstellen möchten, auf eine freiwillige Kooperation des Herstellers bauen, der das Recht am geistigen Eigentum besitzt; oder versuchen, das komplizierte System der Welthandelsorganisation (WTO) zu einer Ausnahme für die Herstellung zu bewegen; oder schwere Sanktionen der WTO auf sich nehmen, sollte ein Land sich dazu entschließen, ohne Einräumen des Rechts am geistigen Eigentum von dem betroffenen Hersteller zu produzieren. Mehr als 100 Länder und alle afrikanischen Länder unterstützen jetzt den Plan des Waivers.

In dem Waiver wird direkt dargelegt, wie Impfstoff-Nationalismus durch Horten empfindlich auf die Interessen der Entwicklungsländer prallt, die gleichberechtigten Zugang suchen, um ihre Bevölkerung zu schützen.

Gegenwärtig basiert die für den Zugang zu COVID-19-Impfstoffen eingerichtete globale Struktur auf Beschaffung und Wohltätigkeit. Zu einem frühen Zeitpunkt der Pandemie beruhte die zugangsbasierte Beschaffung auf der Fähigkeit der Länder, große Mengen an Geld für Vorab- und frühe Zahlungen für Impfstoffe locker zu machen, die zu dem Zeitpunkt noch in der Entwicklung waren. In jüngerer Zeit hat sich dies dahingehend geändert, dass es von der Fähigkeit der Länder abhängt, sich Impfstoffe auf einem globalen Markt leisten zu können, der durch eine große Nachfrage und ein sehr begrenztes Angebot gekennzeichnet ist und auf dem die Preise ausschließlich von den Pharmaunternehmen bestimmt werden, die das geistige Eigentum besitzen. Hinzu kommt ein Wohltätigkeitsmodell namens Covax, bei dem die gleichen wohlhabenden Länder Geld für die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die Impfallianz GAVI (Global Alliance for Vaccines and Immunisation) und die Coalition for Epidemic Preparedness Innovations(CEPI) spenden, um die Impfstoffe zu beschaffen. Ein Problem ist, dass Preis und Zeitpunkt der Beschaffung von eben denselben Herstellern bestimmt werden. Covax hat Entwicklungsländern bisher erst die Lieferung von gerade mal 20 Prozent ihres Bedarfs an Impfstoffen zugesagt, wodurch diese Länder gezwungen sind, sich auf dem Handelsmarkt nach Impfstoffen umzusehen, um den Rest ihrer Bevölkerung impfen zu können.

Im Bewusstsein, dass während einer Pandemie finanzielle Muskeln, fiskalischer Spielraum und Wohltätigkeit nicht ausreichen, um die Flut der Infektionen einzudämmen, geschweige denn, dass es sich um einen gerechten Ansatz handelt, schlugen Südafrika und Indien den Waiver vor und versuchten, die Herstellung und damit die weltweite Versorgung mit Impfstoffen zu erweitern. Die Logik dahinter ist einfach: Die Herstellung von Impfstoffen auf Länder ausweiten, die über die Kapazitäten verfügen, aber derzeit nicht im Besitz des geistigen Eigentums sind, und dadurch die Chance für Entwicklungsländer und andere Länder erhöhen, in der Folge Zugang zu den Covid-19-Impfstoffen zu erhalten. Ein zusätzlicher Nebeneffekt der gesteigerten Produktion wäre die Entwicklung von Kapazitäten, die bei Bedarf die zukünftige Produktion erhöhen können und dadurch eine bessere globale Vorbereitung auf zukünftige Pandemien ermöglichen.

Statt ihrer eigenen Position gleichberechtigter Verteilung von Impfstoffen politisches Gewicht zu verleihen[5], wehren sich die wohlhabenden Länder gegen den Waiver. Sie tun dies, indem sie ihren Kollegen in den Industrieländern erzählen, dass die Herstellung von Impfstoffen kompliziert ist, eine Technologie erfordert, die es in den Entwicklungsländern noch nicht gibt und deren Entwicklung Zeit in Anspruch nehmen wird. Außerdem versuchen sie, die Entwicklungsländer davon zu überzeugen, freiwillige Vereinbarungen mit den Herstellern zu treffen, gerade weil sie das geistige Eigentum als Schutz für die Entwicklung zukünftiger Produkte sehen. Im Prinzip wollen sie uns glauben machen, dass die Anfechtung von geistigem Eigentum durch das WTO-System für sie nicht „fair“ ist, da sie bereits eine gerechte Verteilung durch eine große finanzielle Spende an Covax unterstützt haben. Covax dient jedoch nur dazu, das globale Beschaffungsmodell, das den Impfstoffherstellern zugutekommt, weiter aufrechtzuerhalten, anstatt zum Aufbau wichtiger Produktionskapazitäten in den Entwicklungsländern und zu einem besseren Zugang zu Impfstoffen beizutragen.

Ein Hauptproblem ist die fehlende Reziprozität, da in einigen Fällen tatsächlich Impfstoffversuche in Entwicklungsländern stattgefunden haben.

Die Heuchelei liegt in ihren wohltätigen Angeboten, während sie gleichzeitig eine bewusste politische Strategie verschleiern, die ein System der Impfstoff- und weiteren medizinischen Apartheid aufrechterhält und die Entwicklungsländer der Knechtschaft der Wohlhabenden unterwirft. Bezeichnenderweise wird dies auch weiterhin so gehandhabt, mitten in einer Pandemie und gleichermaßen beunruhigend für zukünftige Pandemien.

Es ist diese Scheinheiligkeit, die den legitimen politischen Kampf für eine gerechte und gleichberechtigte Gesundheit für alle rechtfertigt.

Wie wir noch gut aus Erfahrung wissen, erforderte der Kampf gegen die Apartheid einen Kampf gegen politische und finanzielle Interessen und ihre Instrumente. Der Kampf gegen die vorherrschende Impfstoff-Apartheid erfordert einen ähnlichen Kampf gegen die nationalistische Politik der wohlhabenden Nationen, deren Positionen und Politik in Bezug auf Impfstoffe von Natur aus die Profite über die Menschen stellen.


[1] Da eine begrenzte Zahl von Ländern vollständig geimpft ist, kann das Virus in anderen Teilen der Welt mutieren, wo große Teile der Bevölkerung noch nicht geimpft sind. Folglich können mutierte Stämme des Virus letztlich Impfstoffe früher machtlos oder weniger wirksam machen. Das stützt das Argument breit angelegten Impfens auf einer internationalen Ebene gegenüber hohen Impfraten innerhalb einer begrenzten Anzahl von Ländern.

[2] So bezeichnet vom südafrikanischen Präsidenten Cyril Ramaphosa.

[3] Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights (handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums). TRIPS ist eine von der WTO verfasste multilaterale Vereinbarung, die den Handel erleichtert und Streitigkeiten über Wissen und geistiges Eigentum regelt. https://www.wto.org/english/tratop_e/trips_e/trips_e.htm

[4] https://www.wto.org/english/news_e/news20_e/trip_20oct20_e.htm

[5] Dieselben wohlhabenden Länder haben alle die Notwendigkeit einer gleichberechtigten Verteilung in verschiedenen Erklärungen und Aussagen betont; der politische Wille zur Durchführung steht allerdings noch aus.

Jens Pedersen ist humanitärer Berater für Ärzte ohne Grenzen (MSF) in Südafrika und ist der MSF-Vertreter bei der Afrikanischen Union (AU). Insbesondere hat er eine wichtige Rolle bei der Beratung und Verhandlung im Namen von MSF für den humanitären Zugang in Konfliktgebieten zwischen MSF und souveränen Regierungen in Afrika gespielt. Als Senior Humanitarian Policy and Diplomatic Adviser koordiniert Jens das Engagement von MSF mit Akteuren wie der AU, der Intergovernmental Authority on Development (IGAD) und anderen länderspezifischen Institutionen und der Zivilgesellschaft. Er hat umfangreich publiziert und akademische Institutionen mit Lehrtätigkeit unterstützt.