Februar 4, 2021

Unteilbar

Erin Daly und James R. May

Der Wert jedes Menschen ist gleich, seine Würde gilt überall. Sie begleitet ihn auf Schritt und Tritt und kann verletzt werden, aber nicht verloren gehen.


Erin Daly und James R. May sind Professoren für Recht an der Widener University School of Law im US-Bundesstaat Delaware. Gemeinsam forschen sie über Rechtsphilosophie und Menschenrechte in der Umweltkrise.

Der Artikel wurde im Reader zum Atlas der Staatenlosen auf Deutsch, Englisch und Französisch veröffentlicht.


Würde ist insofern universell, als sie jedem Menschen innewohnt, der je geboren wurde oder wird. Sie ist insofern inhärent, als sie weder vonseiten der Regierung noch des Gesetzes anerkannt zu werden braucht – sie ist einfach in jedem von uns. Die Würde definiert auch unsere Beziehungen zu anderen, unser Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, unser Bedürfnis, als Person behandelt zu werden, und unsere Verpflichtung, die Würde anderer zu respektieren. Würde erkennt an, dass jede Person einen Wert hat und dass der Wert jeder Person gleich ist. Aus diesem Wert ergibt sich Handlungsfähigkeit, das heißt ein Gefühl der Kontrolle über das eigene Leben, und aus Handlungsfähigkeit ergeben sich Rechte – auch für diejenigen, die staatenlos sind.

Würde ist jedoch mehr als eine dem Menschen innewohnende Eigenschaft. Sie ist ein Recht, das im Völkerrecht, in 160 Verfassungen und in Tausenden von Gerichtsentscheidungen auf der ganzen Welt anerkannt worden ist, manchmal in Verbindung mit anderen Rechten (wie dem Recht auf freie Meinungsäußerung, dem Recht auf Öffentlichkeitsbeteiligung, dem Recht auf Reisen, dem Recht auf Wohnung und Bildung, um nur einige zu nennen). Sie wird auch als ein Grundrecht oder die „Mutter aller Rechte“ bezeichnet, da sie die Quelle aller anderen Rechte ist. In Erweiterung von Hannah Arendts berühmtem Diktum könnte man es so formulieren: Würde ist das Recht, andere Rechte zu haben und zu beanspruchen. Für manche ist sie so entscheidend für das Rechtssystem, dass sie als Grundwert einer Rechts- oder Verfassungsordnung, als ihre Basis und ihr Zweck, als Alpha und Omega einer gerechten Rechtsstaatlichkeit angesehen wird. In der Tat könnten wir sagen, dass der Grund, warum wir überhaupt Gesetze und Rechte und Regierungen haben, der Schutz und die Förderung der Menschenwürde ist. Staaten sind damit die Mittel, mit denen die Würde geschützt und respektiert wird. Sie sollten ihr nicht im Wege stehen.

Staatenlose Menschen sind besonders anfällig für den Entzug von Rechten. Wird ein Mensch im Laufe seines Lebens staatenlos, verliert dieser oft die Rechte, die er als Bürger*in im Heimatstaat besaß. Wenn sie gehen, lassen sie mehr als nur ihre Rechte zurück, sie verlassen auch Familie und Freunde, vertraute Orte, Dinge, die ihnen lieb und teuer waren. Orte, die sie ihr Zuhause nannten, und die Landschaften ihres Lebens. Alles können sie zurücklassen – außer ihrer Würde. Wie auch immer die Umstände sein mögen, die Würde muss intakt bleiben. Das gilt auch für diejenigen, die staatenlos geboren werden: Sie haben vielleicht keine der Bindungen, die mit einer Staatsbürgerschaft einhergehen, aber sie haben eine Bindung an ihre eigene Menschenwürde. Die ursprünglichen Verfasser der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte haben sich dafür entschieden, den Vorrang der einzelnen Person vor jeder Gruppe oder sonstigen Instanz, ob real oder eingebildet, hervorzuheben und die Würde an die Geburt eines jeden „Mitglieds der menschlichen Familie“ zu knüpfen.

Da die Menschenwürde unabhängig von jedem Staat existiert und es keiner Regierung bedarf, um sie zu schaffen, zu definieren oder zu gewähren, kommt ihr eine besondere Bedeutung für diejenigen zu, die staatenlos sind oder es werden. Für Staatenlose ist die Menschenwürde die Energie, die ihr Recht begründet, Rechte einzufordern, sei es von dem einen oder von dem anderen oder von gar keinem Staat.

Insofern, als die Würde das Wesen des Menschseins ist, steht sie in Zusammenhang mit allen gemeinschaftlichen Facetten der menschlichen Erfahrung. Wenn Menschen den Zugang zu Gesundheitsfürsorge und Bildung verlieren, wenn sie ihre Arbeit und ihren Lebensunterhalt verlieren, wenn ihre Familien auseinandergerissen werden und ihr Gemeinschaftsgefühl zerschlagen wird, ist ihre Würde bedroht. Wenn Menschen ihre Stimme in ihrem politischen Umfeld verlieren, wenn sie keine Mitspracherechte mehr bei der Entscheidungsfindung haben, wenn ihnen der Zugang zur Justiz verwehrt wird, beeinträchtigt das ebenfalls ihre Würde. Alle Rechte – bürgerliche, politische wie auch sozioökonomische – sind wichtig, gerade weil sie in engem Zusammenhang mit der Würde eines Menschen stehen. Und für Menschen, die keine dauerhafte Bindung an einen Staat haben, ist die Wahrung ihrer Würde auf allen diesen miteinander verbundenen und voneinander abhängigen Ebenen zwingend erforderlich. Die Würde vereinigt alle anderen Rechte und manifestiert ihre Unteilbarkeit. Sie ist das, was unseren eigenen Anspruch auf ein menschenwürdiges Leben und auf Anerkennung „als Person“ zum Leben erweckt. Würde und Rechte sind daher eng miteinander verwoben: Würde begründet das Recht, Rechte einzufordern, und Rechte werden eingefordert, um die Menschenwürde zu schützen und zu fördern.

Für Staatenlose heißt das, dass sie das Recht haben, „als Person“ von allen anderen Personen respektiert zu werden, unabhängig davon, ob diese in privater oder öffentlicher Eigenschaft handeln. Es bedeutet, dass ihr Leben von Belang ist und sie nicht entlassen oder entsorgt oder als bloße Objekte bei der Verfolgung der Staatsräson behandelt werden können. Es bedeutet auch, dass sie Anspruch auf eine individuelle Behandlung haben, in dem Sinne, dass die einzigartigen Umstände jeder einzelnen Situation angemessen zu berücksichtigen sind. Und es bedeutet, dass Strafen und Belastungen in einem angemessenen Verhältnis zu den Notwendigkeiten stehen sollten, aber nicht darüber hinaus gehen.

Was letztlich zählt, sind also nicht so sehr die Staatsbürgerschaft oder Nationalität und die Rechte, die sich daraus ableiten lassen. Was zählt, sind vielmehr die Menschenwürde und die Rechte, die sich aus ihr ergeben. Dazu gehört insbesondere das Recht, als Person behandelt zu werden, ganz egal wo.

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