September 24, 2021

Schweiz: Das Referendum über die Ehe ist eine Abstimmung über die Gleichstellung

Lucas Ramón Mendos and Daniele Paletta

Keine Familie hat es leicht. Aber neben allen Problemen, die das Leben mit sich bringt, haben einige Familien eine zusätzliche Last zu tragen: den Kampf um die rechtliche und gleichberechtigte Anerkennung. Nach sieben Jahren parlamentarischer Debatte wird die Schweiz am 26. September 2021 in einem Referendum über die Gleichstellung der Ehe abstimmen: Die Bürger*innen werden gebeten, das klare Votum des Schweizer Parlaments vom Dezember 2020 zur Öffnung der Ehe für alle Paare zu bestätigen oder abzulehnen.


Wenige Wochen vor der Abstimmung scheint die Unterstützung für die Gleichstellung der Ehe in der ganzen Schweiz eindeutig. Mindestens 23 Gemeinden haben im Juni 2021 Veranstaltungen durchgeführt, um den Endspurt der landesweiten „Ja, ich will“-Kampagne einzuleiten. Eine kürzlich vom Schweizerischen Rundfunk in Auftrag gegebene Umfrage hat ergeben, dass 63% der Befragten für das Recht auf Eheschließung für gleichgeschlechtliche Paare sind. Auf den Pride-Veranstaltungen im ganzen Land ertönt ein klarer Ruf nach Gleichberechtigung. Dennoch gibt es auch Gegenstimmen, die zu unlauteren Mitteln greifen, wie etwa Cyberattacken auf die Website des nationalen Komitees für die Zivilehe für alle.

Was steht auf dem Spiel?

Heute können gleichgeschlechtliche Paare in der Schweiz nur eine eingetragene Partnerschaft eingehen. Im Jahr 2020 wollte das Schweizer Parlament die Gleichstellung der Ehe einführen, aber es wurde ein Referendum gegen diesen Schritt beantragt.

Mit der Gesetzesänderung, so erklärte der Bundesrat, könnten gleichgeschlechtliche Paare standesamtlich heiraten und wären anderen Ehepaaren sowohl institutionell als auch rechtlich gleichgestellt. Der ausländische Ehepartner einer Schweizer Bürgerin oder eines Schweizer Bürgers könnte zum Beispiel eine vereinfachte Einbürgerung beantragen. Gleichgeschlechtliche Paare könnten auch gemeinsam ein Kind adoptieren. Zudem hätten verheiratete Frauenpaare Zugang zu einer gesetzlich geregelten Samenspende. Eingetragene Partnerschaften könnten in eine Ehe umgewandelt, aber nicht mehr neu geschlossen werden.


Geneva Pride 2021, Ehe für alle
Foto: Bettina Jacot-Descombes

Gleichgeschlechtliche Ehen auf der ganzen Welt

In den meisten Ländern wurde die vollständige gleichberechtigte Anerkennung gleichgeschlechtlicher Ehen erst erreicht, nachdem zuvor weniger umfassende Schutzmaßnahmen verabschiedet worden waren. In den meisten Rechtsordnungen, die heute über gleichberechtigte Eheschließungsgesetze verfügen, gab es Rechte für das Zusammenleben, eingetragene Partnerschaften und zivile Gemeinschaften. In der Schweiz wurden diese ersten Schritte 2007 mit dem Bundesgesetz über die eingetragene Partnerschaft unternommen und später 2018, wurde die Adoption durch einen zweiten Elternteil für Paare legalisiert, die als eingetragene Partner oder de-facto in einer Lebensgemeinschaft lebten, legalisiert.

In den meisten Ländern müssen gleichgeschlechtliche Paare jedoch ohne jeglichen Schutz auskommen, was sie in eine wirtschaftliche und emotionale Schieflage bringt. Nur eine Handvoll Länder hat Fortschritte gemacht: Seit 2000 haben immer mehr Staaten die Definition der Ehe schrittweise erweitert, um gleichgeschlechtliche Paare und ihre Familien vollständig zu schützen und anzuerkennen. Bis heute gibt es auf jedem Kontinent mindestens ein Land mit gleichgeschlechtlicher Ehe.

Gemäß dem Bericht der ILGA World, Staatlich Gesponserte Homophobie, besteht die gleichgeschlechtliche Ehe in 28 UN-Mitgliedstaaten, zusammen mit einem Nicht-UN-Mitgliedstaat und 30 nichtunabhängigen Territorien weltweit. Die an alle Schweizer Bürger*innen versandten Abstimmungsunterlagen berufen sich auf Daten von ILGA Europa, unserer in Europa und Zentralasien tätigen Region, die zeigen, dass 16 Länder in der Region die Ehe für alle bereits anerkennen.

Vor mehr als 20 Jahren waren die Niederlande der erste UN-Mitgliedstaat, der die gleichgeschlechtliche Ehe legalisierte. Damals, im Jahr 2000, konnten die meisten LGBT-Personen nicht einmal davon träumen, den Schutz der Ehe in vollem Umfang in Anspruch nehmen zu können, aber heute ist dies in fast 30 Ländern Realität. Kurz nach den Niederlanden zogen Belgien (2003) und Spanien (2005) nach, während in Nordamerika Kanada bei der Gleichstellung der Ehe zunächst auf Provinzebene und 2005 auf nationaler Ebene Pionierarbeit leistete.

Im Jahr 2006 war Südafrika der erste (und bisher einzige) afrikanische UN-Mitgliedstaat, der die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare öffnete. In Lateinamerika war Argentinien vor elf Jahren das erste Land (2010), bald darauf folgten Uruguay und Brasilien (2013) und später auch Kolumbien (2016). In Ozeanien kam Neuseeland 2013 auf die Liste, 2017 folgte Australien. In Asien öffnete Taiwan die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare im Jahr 2019.

Alle diese Änderungen sind das Ergebnis der organisierten Lobbyarbeit von zivilgesellschaftlichen Organisationen in den einzelnen Ländern, auf regionaler und sogar auf internationaler Ebene. Die Schweiz gehört noch nicht zu diesen Ländern, aber das könnte sich bald ändern.

Gleichberechtigte Ehe zur Abstimmung gestellt

Der letzte Schritt, der die Schweiz noch von der Gleichstellung der Ehe trennt, ist in der Tat das Referendum.

Es ist nicht das erste Mal auf der Welt, dass das Recht auf Eheschließung dem Volk zur Abstimmung vorgelegt wird, und es hat dabei sowohl positive als auch negative Erfahrungen gegeben. Die US-Bundesstaaten Maine, Maryland und Washington (2012) sowie Irland (2015) und Australien (2017) haben Volksabstimmungen durchgeführt, die durch bedeutende Siege die Unterstützung der Bevölkerung für die Einführung der gleichberechtigten Ehe deutlich gemacht haben.

Umgekehrt führten in mindestens zwei Jurisdiktionen ablehnende Volksabstimmungen gegen die Gleichstellung der Ehe zu schweren Schlägen für lokale LGBT-Gemeinschaften in Kalifornien (2008) und in Taiwan (2018). Bei diesen erschütternden Niederlagen mussten Millionen Menschen mit ansehen, wie ihre Mitbürger*innen ihnen und ihren Familien den rechtlichen Schutz vorenthielten, oft im Namen von Religion oder Tradition. Die Rechte von Minderheiten sollten nicht dem Willen der Mehrheit unterworfen werden. Die Abstimmung über unsere Rechte kann zu einer gefährlichen Waffe gegen die Gleichberechtigung werden, in der öffentlichen Debatte eine Flut homophober Äußerungen auslösen, die sich zu Feindseligkeit und offener Gewalt auswachsen können und sogar den Gegnern und Hassgruppen eine Plattform bieten, damit sie ihre rechtsfeindlichen Bestrebungen verstärken und fortzusetzen. Dank der Widerstandsfähigkeit und Entschlossenheit lokaler Bewegungen konnten diese schweren Rückschläge jedoch überwunden werden, und in diesen beiden Ländern ist die Ehe nun vollständig gleichgestellt.


LGBTIQ+-Flagge, Geneva Pride 2021
Foto: Bettina Jacot-Descombes

Gleichstellung der Ehe: Brauchen wir sie überhaupt?

Um den Slogan der Kampagne zur Gleichstellung der Ehe zu paraphrasieren, kann die Antwort nur lauten: „Ja, wir brauchen sie“. Wir alle brauchen sie. Der Fortschritt auf dem Weg zur Gleichstellung wird sich auf das Leben vieler Menschen auswirken: auf die Paare, deren Familien bereits bestehen, aber noch nicht gleichgestellt waren; auf diejenigen, die nicht heiraten wollen, die aber jetzt die Möglichkeit haben, es zu tun; auf diejenigen, die als Erwachsene wissen werden, dass ihre Liebe anerkannt und respektiert wird und sich nicht verstecken muss. Letztendlich wird sich die Gleichstellung der Ehe auf die gesamte Gesellschaft auswirken: Sie wird niemandem Rechte wegnehmen – sie wird diese Rechte nur für mehr Menschen öffnen. Und mehr Gleichberechtigung führt zu einer gerechteren, stabileren Gesellschaft.

Wir wissen, dass diese Realität in vielen Teilen der Welt noch sehr weit entfernt ist.

In vielen Ländern argumentieren die Gegner der Gleichstellung der Ehe, dass die Staaten durch die Änderung der Definition der Ehe eine der grundlegendsten und wertvollsten Institutionen der Gesellschaft verändern und eine neue Form der sozialen Organisation mit unbekannten Folgen zulassen würden.

Wir wissen jedoch, dass die Institution der Ehe nach wie vor das umfassendste rechtliche Instrument für die offizielle Anerkennung einer Liebesbeziehung ist. Auch wenn die Öffnung einer solchen Institution nicht automatisch zur einer vollständigen Gleichstellung aller Regenbogenfamilien führt – zum Beispiel für jene mit Eltern mit gemeinsamem Sorgerecht oder jene, in denen Trans-Personen zusätzliche Hürden überwinden müssen, um als Eltern entsprechend ihres Geschlechts anerkannt zu werden- wissen wir, dass die Ehe nach wie vor diejenige Form der Verbindung ist, die die meisten Vorteile, Rechte und Pflichten bietet.

Um es klar zu sagen: Die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe hat nicht zur Folge, dass gleichgeschlechtliche Paare eine Familie gründen können. Diese Familien gibt es bereits, und zwar seit Jahrzehnten, wenn nicht sogar seit Jahrhunderten. Die Frage ist, ob diese Familien tatsächlich geschützt und vom Gesetz gleichberechtigt anerkannt werden oder ob sie im Gegenteil sich selbst überlassen werden. Darüber hinaus ebnen die Staaten durch die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe den Weg, um nicht nur die Vertragspartner, sondern auch deren Kinder zu schützen, insbesondere dann, wenn auch die Eltern- und Adoptionsrechte von LGBTI-Personen berücksichtigt und gleichgestellt werden. Die Regelung der elterlichen Pflichten und Verantwortlichkeiten, die sich aus einer legalisierten Ehe zwischen Eltern ergeben, kommt der gesamten Familieneinheit zugute und beseitigt das Stigma der Zugehörigkeit zu einer Familie, die vom Gesetz als „weniger wert“ betrachtet wird.   

In den letzten zwei Jahrzehnten hat die Schweiz große Fortschritte gemacht, wenn es um die Achtung der Rechte von Menschen mit unterschiedlicher sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität geht: 2007 wurde das Gesetz über die Eingetragene Partnerschaft erlassen; seit 2018 ist die Stiefkindadoption von Paaren, die als eingetragene Partner oder in einer faktischen Lebensgemeinschaft leben, möglich; 2020 wurde beschlossen, die sexuelle Orientierung in das Strafgesetzbuch als Schutzgrund gegen Diskriminierung und Aufstachelung zum Hass aufzunehmen; demnächst werden Gesetze in Kraft treten, die vereinfachte Verfahren zur rechtlichen Anerkennung des Geschlechts ermöglichen. 

Es hat sich einiges getan, und es gibt noch Raum für mehr. Bislang hat die Schweiz der Gleichstellung der Ehe nur mit einem Bleistiftstrich geschrieben. Der 26. September wird der Tag sein, an dem dieser historische Meilenstein entweder mit Tinte geschrieben oder aus den Büchern getilgt werden könnte – und damit einer ganzen Gemeinschaft keine andere Wahl lässt, als weiter für ihre Rechte zu kämpfen. Sich für Respekt, Anerkennung und Gleichheit zu entscheiden – nicht in der Zukunft, sondern jetzt direkt – wäre eine viel einfachere und gerechtere Lösung.

Ein Artikel von Lucas Ramón Mendos (Forschungskoordinator, ILGA World) und Daniele Paletta (Kommunikationsmanager, ILGA World) 

ILGA World - die Internationale Lesben-, Schwulen-, Bisexuellen-, Trans- und Intersex-Vereinigung - ist ein weltweiter Zusammenschluss von mehr als 1.700 Organisationen aus über 160 Ländern und Gebieten, die sich für die Menschenrechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intersexuellen einsetzen.