Dezember 2, 2021

Sklavenähnliche Arbeit in Brasilien

Vitor Filgueiras

Die Sklaverei als ein vom Staat rechtlich anerkanntes Arbeitsverhältnis wurde in Brasilien 1888 abgeschafft. Es gibt jedoch immer noch zahlreiche Aufzeichnungen über Praktiken, die Menschen ähnlichen (wenn nicht gar schlimmeren) Bedingungen unterwerfen, wie sie Sklaven erlebt haben. Diese extremen Formen der Ausbeutung von Arbeiter*innen, die oft mit der Vorstellung von Sklavenarbeit in Verbindung gebracht werden, sind ein Thema, das in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen hat.


Nachkomme von Sklav*innen in Brasilien. Foto: Sock Photo

Seit den 1990er Jahren wird in den brasilianischen Medien immer wieder von Arbeiter*innen berichtet, die vom Staat unter extremen Ausbeutungsbedingungen vorgefunden werden. Dazu gehören unter anderem Unterkünfte, die mit Tieren und deren Exkrementen geteilt werden, unzureichende Ernährung und eine Arbeitsbelastung, die mit dem Überleben des menschlichen Körpers unvereinbar ist, sowie andere schockierende Situationen. Ursprünglich schienen diese Tatsachen auf weit entfernte, abgelegene Orte des Landes beschränkt zu sein, insbesondere in ländlichen Gebieten und in der Region Nord. Im Laufe der Zeit traten diese Vorfälle auch in den großen Städten und in vielen verschiedenen Wirtschaftszweigen auf[1].

Im Zusammenhang mit diesen eklatanten Fällen taucht immer wieder der Begriff Sklav*in auf. Dieser Begriff trägt einerseits dazu bei, die Aufmerksamkeit auf die extremen Formen der Ausbeutung von Arbeitskräften zu lenken, wird aber andererseits auch von denjenigen verwendet, die von diesem räuberischen Managementmuster profitieren. Sie versuchen, die aufgetretenen Situationen zu verharmlosen, indem die Arbeitgeber systematisch behaupten, die Arbeiter*innen seien nicht zur Arbeit gezwungen worden. Die Nomenklatur, die zur Definition dieser Formen der Ausbeutung verwendet wird, steht im Mittelpunkt der Diskussionen über dieses Thema, da sie Auswirkungen auf die Kämpfe zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Opfer dieser Praktiken hat. In diesem Zusammenhang tauchen in der Literatur und in institutionellen Regelungen verschiedene Begriffe wie Sklavenarbeit, Zwangsarbeit oder moderne Sklaverei auf. In Brasilien definiert das Strafgesetzbuch „Arbeit“ analog zur Sklaverei, während die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) in der Regel von moderner Sklaverei spricht[2].

Abgesehen von der Nomenklatur gibt es auch unterschiedliche Definitionen für Situationen, in denen extreme Formen der Ausbeutung mit Sklaverei in Verbindung gebracht werden. Es gibt Länder, deren Gesetzgebung einen engeren Begriff verwendet, und andere, die einen weiter gefassten Begriff verwenden, der die Möglichkeiten zur Bestrafung der beteiligten Personen einschränkt. Der Hauptunterschied besteht darin, ob die individuelle Nötigung de*r Arbeiter*in durch den Arbeitgeber beschrieben werden muss, um den Straftatbestand zu erfüllen oder nicht[3].

In Brasilien ist die Unterwerfung einer Person unter einen sklavereiähnlichen Zustand seit 2003 als Verbrechen im Strafgesetzbuch verankert. Wörtlich definiert das Gesetz, dass dieses Verbrechen in Praktiken des individuellen Zwangs (Drohungen, Gewalt) sowie in der extremen Ausbeutung der Arbeitskraft ohne die Notwendigkeit der Einschränkung der Freiheit besteht, d. h. in der Unterwerfung der Arbeiter*innen unter erniedrigende Bedingungen oder erschöpfende Arbeitszeiten[4].

In den letzten zwei Jahrzehnten haben die Unternehmen darum gekämpft, die Definition von sklavereiähnlicher Arbeit in Brasilien zu ändern, indem sie zu definieren versuchten, dass der Straftatbestand nur für direkten individuellen Zwang gegen die Bewegungsfreiheit (Gewalt oder Drohung) gilt. Die Freiheit, verstanden als Einschränkung des Rechts zu kommen und zu gehen, ist jedoch nicht der zentrale Faktor, der die extremen Formen der Arbeitsausbeutung im heutigen Kapitalismus erklärt. Die Art des Zwangs in der heutigen Gesellschaft unterscheidet sich tatsächlich von der Sklaverei und beinhaltet im Allgemeinen keine individuellen und direkten Formen des Zwangs (ob physisch oder symbolisch) gegen die Arbeiter*innen. Der ehemalige Leiter der Inspektionsabteilung für die Abschaffung der Sklavenarbeit des Arbeitsministeriums, Alexandre Lyra, stellt fest: „Wenn man die entwürdigenden Bedingungen und die erschöpfende Arbeit aus dem Konzept der sklavenähnlichen Arbeit herausnimmt, bleibt wenig übrig“. Die profitorientierte Produktion und die Notwendigkeit, die Arbeitskraft zu verkaufen, um zu überleben, machen den Arbeitsmarkt zum grundlegenden Mechanismus für den menschlichen Zwang im Kapitalismus. Ausgehend von diesem strukturellen Mechanismus tragen verschiedene konjunkturelle, geografische, sektorale usw. Faktoren zur Ausbreitung von sklavenähnlichen Verhältnissen bei. Im Allgemeinen sind sie jedoch mit Versuchen verbunden, die verbleibenden Hindernisse für die Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital zu beseitigen, wie die so genannten Reformen (Arbeit, soziale Sicherheit usw.), die die Rechte der Arbeiter*innen untergraben[5].

Obwohl Brasilien international als Beispiel für den Kampf gegen sklavenähnliche Arbeit anerkannt ist, lebt das Land mit der Fortdauer dieses Verbrechens. Seit 1995 hat der brasilianische Staat mehr als 55 000 Arbeiter*innen aus sklavenähnlichen Verhältnissen befreit, ohne dass es Anzeichen dafür gibt, dass diese Art der kriminellen Ausbeutung von Arbeitskräften in dem Land zurückgegangen ist[6]. Im Gegenteil, viele Arbeiter*innen werden immer wieder Opfer von extremer Ausbeutung. Daten der Digitalen Beobachtungsstelle für Sklavenarbeit in Brasilien zeigen, dass 613 zwischen 2003 und 2017 gerettete Arbeiter*innen mindestens zweimal Opfer sklavenähnlicher Arbeit waren[7]. Diese Zahl bezieht sich nur auf diejenigen, die nach ihrer Rettung eine Arbeitslosenversicherung erhielten. Untersuchungen der ILO, die zwischen Oktober 2006 und Juli 2007 gerettete Personen befragte, ergaben, dass 59,7 Prozent der Arbeiter*innen zuvor eine solche Situation erlebt hatten[8].

Der Kampf gegen sklavenähnliche Arbeit in Brasilien wird sowohl durch begrenzte repressive Maßnahmen, von Inspektionen bis hin zur Behandlung von Fällen vor Gericht, als auch durch die Schwäche der Maßnahmen zur Unterstützung geretteter Arbeiter*innen und der schwächsten Teile der Gesellschaft behindert.

Die Eindämmung extremer Formen der Arbeitsausbeutung in Brasilien ist eine Herausforderung, die jahrhundertealte Wurzeln hat[9]. Akteure und Institutionen, die sich gegen extreme Ausbeutung engagieren, müssen die Vorstellung überwinden, dass die Unterwerfung von Arbeiter*innen grundsätzlich mit direktem individuellem Zwang (physische Gewalt, Drohungen usw.) oder der Einschränkung der Freiheit verbunden ist. Andernfalls werden diejenigen, die das Recht auf Ausbeutung nutzen und verteidigen, immer die Möglichkeit haben, von dem wesentlichen Element abzuweichen, das die Arbeiter*innen diesen Bedingungen unterwirft: dem Zwang des Arbeitsmarktes, der auf der Abschaffung des vom Kapitalismus auferlegten „Rechts auf Leben“ beruht.


[1] Filgueiras, Vitor Araújo.Trabalho Análogo ao Escravo e o Limite da Relação de Emprego: Natureza e Disputa na Regulação do Estado.Brasiliana –Journal for Brazilian Studies. Vol. 2, n.2 (Nov 2013)

[2] Filgueiras, Vitor Araújo.Trabalho Análogo ao Escravo e o Limite da Relação de Emprego: Natureza e Disputa na Regulação do Estado.Brasiliana –Journal for Brazilian Studies. Vol. 2, n.2 (Nov 2013)

[3] Filgueiras, Vitor Araújo.Trabalho Análogo ao Escravo e o Limite da Relação de Emprego: Natureza e Disputa na Regulação do Estado.Brasiliana –Journal for Brazilian Studies. Vol. 2, n.2 (Nov 2013) und SAKAMOTO, Leonardo (org.) Escravidão contemporânea. São Paulo : Contexto, 2020.

[4] Filgueiras, Vitor Araújo.Trabalho Análogo ao Escravo e o Limite da Relação de Emprego: Natureza e Disputa na Regulação do Estado.Brasiliana –Journal for Brazilian Studies. Vol. 2, n.2 (Nov 2013) und SAKAMOTO, Leonardo (org.) Escravidão contemporânea. São Paulo : Contexto, 2020.

[5] Figueiras, Vitor. LABOR MARKET AND COERCIONON WORKERS: Brazil, United Kingdom and the advance of the “satanic mill”. Revista da ABET, v. 15, n. 2, Julho a Dezembro de 2016

[6] https://sit.trabalho.gov.br/radar/

[7] https://sit.trabalho.gov.br/radar/

[8] https://politica.estadao.com.br/noticias/eleicoes,reincidencia-no-trabalho-escravo-chegou-a-59-imp-,790577

[9] Cerqueira, Gelba; Figueira, Ricardo; Prado, Adonia; Costa, Célia Maria (Orgs.).Trabalho escravo contemporâneo no Brasil: contribuições para sua análise e denúncia.Rio de Janeiro, Editora UFRJ, 2008

Vitor Filgueiras ist Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Bundesuniversität von Bahia, Brasilien. Er ist am Projekt "Vida Pós Resgate" (Leben nach der Rettung) beteiligt, das 2017 im Rahmen einer Partnerschaft zwischen der Wirtschaftsfakultät der Bundesuniversität Bahia und der Bundesstaatsanwaltschaft für Arbeit der 23. Region ins Leben gerufen wurde, um das Schicksal von Arbeitnehmern zu untersuchen, die aus sklavenähnlichen Verhältnissen in Brasilien, insbesondere in den Bundesstaaten Mato Grosso und Bahia, entkommen sind. Er ist auch Teil des Projekts "Caminhos do Trabalho", einer Partnerschaft zwischen dem Arbeitsministerium und der Bundesuniversität von Bahia zur Verteidigung der Arbeitnehmerrechte. Vitor arbeitet an der Website Delta 8.7 mit.