Mai 6, 2021

Die Geopolitik der Impfstoff-Apartheid

Vishwas Satgar

Am 22. April, dem Earth Day (Tag der Erde), berief US Präsident Joe Biden einen Gipfel zur Klimakrise mit den Staatschefs mehrerer wichtiger Länder ein. Es handelte sich hier um einen Versuch, die USA zurück in das multilaterale Spiel um die Klimakrise zu bringen und bei einer globalen Herausforderung die Führung zu übernehmen. Dabei blieb der weltweiten Öffentlichkeit die Scheinheiligkeit dieses Schritts nicht verborgen. Zum Zeitpunkt der Einberufung dieses Gipfels waren 223,6 Millionen Impfstoffdosen, ausreichend für 35,2% der US-Bevölkerung, verteilt. Im Gegensatz dazu waren in Nigeria mit einer Bevölkerung von 201 Millionen nur 1,2 Millionen Menschen geimpft. Die Biden Administration kann nicht die Welt auffordern, bei der Klimakrise gemeinsam zu handeln, wenn sie nicht sicherstellt, dass das geistige Eigentum am Impfstoff Ländern im globalen Süden verfügbar gemacht wird.

Die USA sind nicht die einzigen, die ihre eigene Bevölkerung bei Impfstoffen bevorzugen und das Profitstreben der Pharmaunternehmen verteidigen. Auch das Vereinigte Königreich (UK) hat 400 Millionen Impfstoffdosen gehortet, 6 Dosen für fast jede/n Einwohner*in der UK bei einer Bevölkerungszahl von 67,61 Millionen. Wie die USA weigert sich auch die UK, die Notwendigkeit einer Ausnahmeregelung für handelsbezogene Aspekte des geistigen Eigentums (TRIPS = Trade Related Aspects of Intellectual Property / Handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums) in der Welthandelsorganisation (WTO) zu akzeptieren, um sicherzustellen, dass das geistige Eigentum an Impfstoffen und das Know-how in die Länder des globalen Südens transferiert wird, um die Herstellung von sicheren und wirksamen Impfstoffen für alle zu fördern. Führende westliche Länder wenden sich im Grundsatz von einem gerechten und globalen Problemlösungsansatz zur Bewältigung einer gemeinsamen Herausforderung ab.

Russland und China nutzen die COVID-19-Krise, um ihre politische Legitimität durch ihre Impfdiplomatie zu erhöhen. Auch sind sie nicht bereit, ihr geistiges Eigentum mit dem globalen Süden zu teilen, ebenso wenig haben sie sich öffentlich verpflichtet, ihre Impfstoffe als Open Source zur Verfügung zu stellen. In Bezug auf Afrika hat China seinen Sinopharm-Impfstoff bei mehreren afrikanischen Ländern auf die Tagesordnung gesetzt. Allerdings gibt es bis heute in keinem einzigen afrikanischen Land eine ernsthafte Impfkampagne. Oxfam schätzte Ende Dezember, dass 70 ärmere Länder im Jahr 2021 nur noch in der Lage sein werden, jeden zehnten Einwohner zu impfen. In Afrika werden 25% der Impfstoffversorgung durch COVAX abgedeckt, 11% durch die Afrikanische Union, während der überwiegende Teil von 64% im Jahr 2021 nicht geimpft sein wird. Das ist Impfstoff-Apartheid gegenüber Afrika und spiegelt die moralische und politische Krise solcher Disparitäten wider.

Gleichzeitig warnen führende pharmazeutische Unternehmen die US Regierung davor, dass mit der Aufhebung der Patentrechte die sensible mRNA-Technologie an Russland und China weitergegeben würde. Dieses Argument zementiert lediglich geopolitische Spielchen zum Schutz der Profite von Pharmakonzernen. Wenn die USA sich für eine gerechte Genesung von Covid-19 weltweit einsetzen wollen, müssen sie den TRIPS-Waiver (Ausnahmeregelung) in der WTO ernst nehmen. Bislang hat Bidens oberste Handelsbeauftragte, Katherine Tai, gegenüber Pharmaunternehmen und der WTO mit Nachdruck signalisiert, dass ihre oberste Priorität die „Rettung von Leben“ sei und dass es den USA damit ernst sei, die Produktion und gerechte Verteilung von Impfstoffen zu fördern. Diese Rhetorik hat jedoch nicht dazu geführt, dass die TRIPS-Ausnahmeregelung tatsächlich durchgesetzt wurde.

In diesem Kontext sind die Siege der HIV/AIDS-Kämpfe zur Erreichung eines TRIPS- Waivers ausschlaggebend für die progressive Zivilgesellschaft. Aktivist*innen und Bewegungen in Indien, Brasilien und Südafrika erzielten diesen Durchbruch im Rahmen des HIV/AIDS-Kampfes für die Herstellung von Generika essentieller HIV/AIDS-Medikamente. Dies schwingt mit bei den vielen Initiativen, die sich für Impfstoff-Gerechtigkeit einsetzen: Aufrufe zu einem #PeoplesVacccine, Appelle ehemaliger politischer Entscheidungsträger und Nobelpreisträger an die USA, das geistige Eigentum an Covid 19-Impfstoffen abzuschaffen, die Unterstützung durch Bernie Sanders für eine globale Petition mit über 2 Millionen Unterschriften, in der ein TRIPS-Verzicht gefordert wird, und Initiativen von Afrikanern selbst.

Am 14. März 2021 haben globale Gewerkschaftsverbände, führende transnationale Bewegungen wie La Via Campesina, afrikanische Bewegungen wie WOMIN, die African Food Sovereignty Alliance und alle progressiven zivilgesellschaftlichen Kräfte in Südafrika eine Global Assembly (globale Versammlung) einberufen (Stand With Africa/Safe and Effective Vaccines for All/Healthcare and Frontline Workers of the World Unite – Steht an der Seite von Afrika/Sichere und wirksame Impfungen für alle/ Gesundheits- und Pflegekräfte der Welt vereinigt euch). Diese Versammlung bekräftigte die Notwendigkeit globaler Solidarität, um eine sichere und effektive #PeoplesVaccine („Volksimpfung“) zu erreichen. Der Tenor lautete: Die Welt muss sich zur Unterstützung Afrikas versammeln, wir alle müssen sicherstellen, dass die öffentliche Gesundheitsversorgung eine zentrale Rolle bei der gerechten Bewältigung der Pandemie spielt, und wir müssen einen internationalistischen Ansatz entwickeln, der auf der Ethik der Fürsorge für das Gesundheitspersonal und andere Mitarbeiter*innen an vorderster Front basiert. Dies basierte auf der Überzeugung, dass wir eine menschliche Gemeinschaft bilden und eine gemeinsame globale Herausforderung teilen und uns daher vereinen müssen. Wir waren uns einig, dass dieser Kampf über Grenzen hinweg, in unseren Gemeinschaften, an unseren Arbeitsplätzen und in unseren Bewegungen intensiver geführt werden muss. Die Ergebnisse dieser Global Assembly wurden den Regierenden der reichen Länder, der WHO und der WTO vorgelegt. Die letztgenannte Organisation reagierte und erkannte die Forderung der Global Assembly an. Sie hat außerdem bestätigt, dass in der WTO auf hoher Ebene über die Notwendigkeit einer TRIPS-Ausnahme für Covid 19-Impfstoffe verhandelt wird. Diese Entscheidung ist jedoch noch nicht gefallen, und deshalb geht der Kampf weiter.

Die Macht der Menschen ist eindeutig der einzige Weg, die Geopolitik der Impfstoff-Apartheid zu überwinden. So war es auch im Kampf gegen die Apartheid in Südafrika: massenhafter Widerstand und internationale Solidarität griffen effektiv ineinander. Wenn es uns gelingt, die Impfstoff-Apartheid zu überwinden, werden viele Leben gerettet und das „Ende der Pandemie“ wird für alle Wirklichkeit. Eine Niederlage der großen Pharmakonzerne könnte auch ein Anstoß dafür sein, transformative globale Lösungen für die sich verschärfende Klimakrise zu erproben. Der Impuls wird sein, dass sich die Welt für die Erde und nicht für den Kohlenstoff-Kapitalismus entscheidet. Die Gewerkschaften müssen an vorderster Front im Kampf für eine sichere und wirksame #PeoplesVaccine, aber auch für Klimagerechtigkeit stehen. Vor dieser Herausforderung und Chance stehen wir alle.

Vishwas Satgar ist außerordentlicher Professor für Internationale Beziehungen und er leitet das Forschungsprojekt "Emanzipatorische Zukunftsstudien im Anthropozän" an der Witwatersrand-Universität in Johannesburg, Südafrika. Er ist Herausgeber der Serie Democratic Marxism und langjähriger Aktivist. Er ist Vorsitzender des Cooperative and Policy Alternative Centre und Mitbegründer der südafrikanischen Food Sovereignty Campaign (Nahrungsmittelhoheitskampagne) und des Climate Justice Charter-Prozesses. Außerdem gehörte er zu jenen, die die Globale Versammlung (Stand With Africa/Safe and Effective Vaccines for All/Healthcare and Frontline Workers of the World Unite) einberufen haben.