Januar 18, 2021

Madagaskar: Ängste auf der großen Insel

Olivia Rajerison

Das Ende des Kolonialismus brachte vielen Ländern die Unabhängigkeit und ihren Bewohner*innen eine neue Nationalität. Aber einige blieben unbeachtet, darunter die Eingewanderten in den gerade unabhängig gewordenen Ländern.


In Madagaskar werden Menschen südasiatischer Herkunft „Karana“ genannt. Die meisten von ihnen stammen von der Kathiawar-Halbinsel in Gujarat und Umgebung, die sie schon lange vor der Unabhängigkeit Indiens und Pakistans im Jahr 1947 verlassen haben. Die größte Migrationswelle fand Ende des 19. Jahrhunderts statt. 1999 lebten in Madagaskar 20.000 Angehörige dieser Minderheit. Heute wird ihre Zahl auf rund 25.000 geschätzt.

Der Begriff „Karana“ leitet sich vermutlich vom Wort Koran ab, weil die meisten von ihnen muslimischen Glaubens sind. Die Karana verteilen sich auf fünf Nationalitäten: die indische, pakistanische, französische, britische und madagassische. Etwa 5.000 sind staatenlos.


Während die vermögenden Karana auf ihre Staatsangehörigkeit
achteten, schafft en es die armen nicht, sich
noch vom kolonialen Frankreich einbürgern zu lassen

Gemäß dem nach der Unabhängigkeit 1960 verabschiedeten Staatbürgerschaftsgesetz wird die Staatsangehörigkeit durch die Abstammung bestimmt, also durch das Rechtsverhältnis zwischen Eltern und Kindern. Für die madagassische Staatsangehörigkeit ist also madagassisches „Blut“ erforderlich. Laut dem madagassischen Richter René Bilbao will dieses Gesetz Menschen europäischer und asiatischer Herkunft von der Staatsangehörigkeit des Landes ausschließen. Die vor 1960 auf dem Territorium geborenen Karana hatten jedoch weder die Staatsangehörigkeit der später Zugewanderten noch konnten sie die der damaligen Kolonialmacht Frankreich erwerben. Sie hatten zum einen Schwierigkeiten, ihre in weiter Vergangenheit liegende indische Abstammung nachzuweisen. Zum anderen sieht das indische Staatsbürgerschaftsgesetz vor, dass ein siebenjähriger Aufenthalt außerhalb des Landes zum Verlust der Staatsbürgerschaft führt.

Die französische Staatsbürgerschaft wurde in den Kolonien und später in den Überseegebieten durch komplexe Gesetze geregelt. Vor 1908 wurde die Staatsangehörigkeit durch Abstammung, danach durch den Geburtsort erworben, doch letzteres in den Jahren 1933 und 1953 wieder abgeschafft. Infolgedessen gelang es Eingewanderten aus Südasien kaum noch, die französische Staatsbürgerschaft zu erwerben. Viele Eingewanderte blieben staatenlos, und diese Staatenlosigkeit wurde von Generation zu Generation weitergegeben.


Aussschreitungen und Entführungen erschweren
die Bemühungen, für eine kleine
Gruppe Staatenloser eine Lösung zu finden

Heute liegt die Einbürgerung ganz im Ermessen der Regierung. Sie befürchtet, dass dann mehr Karana Land erwerben können. Ein sehr heikles Thema, denn die Madagass*innen fühlen sich mit ihrem Land sehr verbunden. Sie betrachten es als das Erbe ihrer Ahnen und daher auch den Besitz als etwas Besonderes. Aber auch andere wirtschaftliche und soziale Faktoren spielen eine Rolle: Selbst eingebürgerte Karana können keine höheren politischen Ämter oder andere führende Positionen besetzen. Ohne eine Reform des Staatsbürgerschaftsrechts lässt sich das Problem der Staatenlosigkeit der Karana nicht lösen. Im Gegensatz zu den Chines*innen, die sich leichter integriert haben, gilt das Volk der Karana als wenig anpassungswillig. Sie heiraten meist untereinander, in derselben religiösen Gruppe – als Muslime oder Hindus – und oft in der gleichen Kaste. Sie sprechen zwar Madagassisch, aber pflegen weiter ihre eigene Sprache, ihre Traditionen, Lebensweise und Bräuche.

Außerdem ruft der Reichtum einiger weniger Karana Ablehnung, Misstrauen und manchmal geradezu Hass gegenüber der gesamten Karana-Gemeinschaft hervor. Einige Karana-Familien sind in der Tat wohlhabend und kontrollieren beträchtliche Teile der madagassischen Wirtschaft, insbesondere in den Bereichen Immobilien, Bankwesen, Energie, Autos und Industrieausrüstung. Dies führt zu Aktionen, genannt opérations anti-karana, kurz: OPK. Tatsächlich handelt es sich um Karana-feindliche Proteste, sporadische Ausschreitungen, Plünderungen sowie Brandanschläge. Seit einiger Zeit sind die Karana auch zum bevorzugten Ziel von Entführungen geworden.

Die staatenlosen Karana jedoch sind in der Regel arm und verfügen weder über das Geld noch den Einfluss, um sich Ausweispapiere zu besorgen. Sie gelten in Madagaskar als Ausländer*innen, benötigen also eine Aufenthaltsgenehmigung und müssen ihre Visa regelmäßig erneuern. Mit der Einführung von biometrischen Ausweisen sind Ausweisdokumente für Menschen mit geringem Einkommen unerschwinglich geworden. Die Verlängerung einer Aufenthaltsgenehmigung ist finanziell und psychologisch anstrengend und kann eine demütigende Erfahrung sein. Viele dieser Karana leben daher ohne Dokumente in der Illegalität und haben damit keinen Anspruch auf eine menschenwürdige Beschäftigung, auf Bildung, Ausbildung, medizinische Versorgung. Ohne Pass können sie auch nicht verreisen.


Der madagassische Staat ist nicht
in der Lage, die Grundversorgung großer
Teile der Bevölkerung zu garantieren

Die Karana haben keinen eigenen, offiziellen Rechtsstatus. Das in einem Dekret von 1962 vorgesehene Büro für Staatenlose wurde bis heute, 58 Jahre nach der Unabhängigkeit, nicht eingerichtet. Allen Bemühungen des UN-Flüchtlingshilfswerks zum Trotz ist Madagaskar nicht dem UN-Übereinkommen zur Verminderung der Staatenlosigkeit von 1954 beigetreten und hat sogar das Übereinkommen über die Rechtsstellung der Staatenlosen von 1965 gekündigt. Es sieht auch nicht so aus, als ob die Regierung ihre Position ändern würde.

Offenbar aber werden den Behörden die Probleme, die die Staatenlosigkeit mit sich bringt, bewusster. Im Dezember 2019 legte Senator Mourad Abdirassoul einen Gesetzentwurf zur Änderung des Staatsbürgerschaftsgesetzes vor, der das Problem der Staatenlosigkeit bis 2024 lösen soll. Dieser Gesetzentwurf wird derzeit geprüft.

Dieser Beitrag steht unter folgender Urheberrechtslizenz: CC-BY 4.0

Der Artikel wurde im Atlas der Staatenlosen auf Französisch, Englisch und Deutsch veröffentlicht.