Januar 18, 2021

Palästinenser*innen: Neue Heimat unerwünscht

Jaber Suleiman

Eine Zweistaatenlösung mit Israel ist nicht in Sicht – und damit auch keine eigene Staatsangehörigkeit Palästinas. Wer keine andere Nationalität erwerben kann, bleibt als Palästinenser*in staatenlos.


Im Zuge der Staatsgründung Israels und des ersten arabisch-israelischen Krieges 1948 wurde ein großer Teil der palästinensischen Bevölkerung heimatlos, vertrieben aus ihren Häusern und von ihrem Land, in einer „Opfer-Diaspora“, wie Robin Cohen von der Universität Oxford es nennt. Die genaue Zahl der aus dem vormaligen Mandatsgebiet geflohenen und vertriebenen Palästinenser*innen ist unklar. Die Vereinten Nationen schätzen 726.000, die britische Regierung nennt 810.000. Nach wie vor können sie und insbesondere ihre Nachkommen nicht davon ausgehen zurückzukehren. Viele von ihnen sind an ihren jetzigen Wohnorten bis heute nicht akzeptiert.

Die Zahl der vertriebenen Palästinenser*innen ist seither aufgrund des natürlichen Bevölkerungswachstums und späterer Kriege mit weiteren Vertreibungen gestiegen. Bis Ende 2018 zählten etwa 8,7 Millionen der weltweit 13 Millionen Palästinenser*innen zu den Vertriebenen. Das sind zwei Drittel. Zu ihnen gehören 6,7 Millionen Geflüchtete aus dem Jahr 1948 und ihre Nachkommen – einschließlich der 5,5 Millionen, die beim Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) registriert sind. Hinzu kommen weitere 1,24 Millionen Geflüchtete aus dem Jahr 1967 und ihre Nachkommen, 416.000 intern Vertriebene in Israel und 345.000 Binnenvertriebene in den besetzten palästinensischen Gebieten. Zusammen stellen sie eines der größten und am längsten dauernden Geflüchtetendramen der Welt dar.


Schon die Fluchtbewegungen von 1948 führten viele
der über 700.000 palästinensischen Betroffenen in die
Staatenlosigkeit – die noch 70 Jahre später existiert

Dabei unterscheiden sich der rechtliche Status und die Lebensbedingungen palästinensischer Geflüchteter in den verschiedenen arabischen Ländern. Während ihnen in Jordanien volle Staatsbürgerrechte gewährt werden, sind diese in Syrien eingeschränkt. Im Libanon werden ihnen dagegen die meisten grundlegenden Menschenrechte vorenthalten, weil die Furcht besteht, dass sie sich dort auf Dauer ansiedeln. Im Irak, in Kuwait, Libyen und den arabischen Golfstaaten wechselt der ihnen gewährte Status je nach politischer Lage.

Das arabische Rechtssystem für den Umgang mit den palästinensischen Geflüchteten besteht aus drei Elementen. Erstens stuft es sie als Staatenlose ein, was als„positive Diskriminierung“ gemeint ist: Ihre dauerhafte Umsiedlung soll dadurch verhindert und ihr Recht auf Rückkehr gewahrt werden. Das zweite Element ist eine Kombination aus zwei UN-Beschlüssen. Die Resolution 194 von 1948 sah eine Schlichtungskommission vor, die den Frieden zwischen Israel und den arabischen Staaten fördern sollte. Die Resolution 302 von 1949 begründete das UNRWA-Mandat, die dauerhafte Unterstützung der Palästina-Geflüchteten zur Förderung von Frieden und Stabilität. Drittens hat die Arabische Liga Maßnahmen beschlossen, um für den vorübergehenden Schutz der palästinensischen Geflüchteten zu sorgen. In erster Linie ist es das Casablanca-Protokoll von 1965, das freien Zugang zum Arbeitsmarkt und Niederlassungsfreiheit vorsah, jedoch keine Einbürgerung, und das zudem nie vollständig umgesetzt wurde. Außerhalb der Region kommen die palästinensischen Gemeinden nicht immer in den Genuss von Maßnahmen zum Schutz von Staatenlosen. Zum einen wird ihr besonderer Status nicht berücksichtigt, zum anderen erkennen einige Länder den Staat Palästina an und andere nicht.

Die UNO-Versöhnungskommission für Palästina wurde 1948 geschaffen, um eine Lösung für das Geflüchtetenproblem zu finden und den Menschen das Recht auf Rückkehr zu sichern. Dieses Mandat konnte sie nicht erfüllen. Anfang der 1950er-Jahre wurde ihre Tätigkeit darauf begrenzt, Eigentum zu identifizieren und zu dokumentieren. Danach endete ihre Arbeit. Seitdem leistet das UNRWA in Form von Bildungs-, Gesundheits- und Sozialdiensten Schutz und Hilfe. Dies entspricht nicht den allgemein gültigen Standards, wie Geflüchtete zu unterstützen sind.


Millionen Palästinenser*innen leben als Staatenlose.
Einige Aufnahmeländer, etwa der Libanon,
wünschen keine Möglichkeit der Einbürgerung

Dass die palästinensischen Geflüchteten in den meisten arabischen Staaten nicht ausreichend unterstützt werden, dass die Schlichtungskommission ihren Auftrag nicht erfüllen und dass das UNRWA auch nur begrenzt eingreifen konnte – all dies hat weltweit zu gravierenden Lücken bei ihrem Schutz geführt. Die seit 1925 geltende Palästinensische Staatsbürgerschaftsordnung, die die Staatsbürgerschaft im Völkerbundsmandat für Palästina regelte, lief aus, als das britische Mandat endete und der Staat Israel 1948 ausgerufen wurde. Vier Jahre später folgte das israelische Staatsbürgerschaftsgesetz 5712/1952 mit einem neuen Regelwerk.

Mit dem Oslo-Friedensprozess in der Sackgasse und der Zweistaatenlösung in schleichender Erosion erfüllt die gegenwärtige palästinensische Entität für viele Jurist*innen die internationalen Kriterien der Staatlichkeit nicht: eine dauerhaft ansässige Bevölkerung, ein definiertes Territorium, eine Regierung und die Fähigkeit, Beziehungen mit anderen Staaten aufzunehmen. Wenn aber kein Staat existiert, gibt es auch keine Nationalität. Und Palästinenser*innen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Drittstaates erworben haben, gelten völkerrechtlich weiterhin als staatenlos.

Dieser Beitrag steht unter folgender Urheberrechtslizenz: CC-BY 4.0

Der Artikel wurde im Atlas der Staatenlosen auf Französisch, Englisch und Deutsch veröffentlicht.